Wenn Kirche, in ihrem Ursprung verwurzelt, mutig, selbstbewußt und kompetent heute in der Hochschullandschaft vorkommt und sie die Biographien und Lebensempfindungen der Studierenden (aber auch der Lehrenden) an- und ernst nimmt, dann findet sich das Spektrum ihrer dortigen Tätigkeitsmerkmale am umfänglichsten wieder in der Selbstbezeichung „Die Präsenz der Kirche an der Hochschule“.
Dieser Titel „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ ist sehr ungeläufig und auch als Titel einer Einrichtung schwer handhabbar. Es geht mir hier nicht um den Titel einer Einrichtung (dies ist eher ein sekundäres Problem). Mir geht es um ihre zukünftigen Tätigkeitsmerkmale, die von falschen, einseitigen oder tendenziösen Namensgebungen verdeckt werden und somit bei den Studierenden eine falsche, halbwahre oder gar keine Erwartungshaltung wecken können. Hier wird sich nun zeigen, daß die herkömmlichen Bezeichnungen tatsächlich nicht ausreichen, um ihre faktischen und auch zukünftigen, die Lebenssituation aller Studierenden betreffenden Funktionen und Tätigkeiten zu umschreiben.
„Hochschulgemeinde“
Der heute gängigste Begriff, unter dem all das subsumiert wird, was Kirche im Kontext der Hochschullandschaft bzw. im Lebensumfeld der Studierenden anbietet, gestaltet und bewirkt, lautet „Hochschulgemeinde“. Diese In-Beziehung-Setzung der Termini Hochschule und Gemeinde weckt die Assoziation, die Studierenden eines Hochschulstandortes hätten aus kirchlicher Perspektive etwas gemeinsam, was sie alle bewußt Gemeinde an der Hochschule sein läßt, und womit sich die Studierenden gleichermaßen identifizierten. Diese Assoziation entspricht nicht der Realität. Im Sommersemester 1996 wurde eine empirische Analyse, der auf die KHG bezogenen Kenntnisse und Einstellungen Aachener Studierender von der KI-IG in Auftrag gegeben. Der Lehrstuhl von Universitätsprofessor Dr. Hartwig Steffenhagen für Unternehmenspolitik und Marketing an der RWTH Aachen ermöglichte diese Studie, die von Ursula Hahmann durchgeführt wurde. Diese Studie hat die Motive deutlich gemacht, warum Studierende etwas mit der KHG in Aachen zu tun haben wollen. Danach nutzen Studierende, die sich selbst nicht als KHGlerInnen bezeichnen, das Angebot der KHG in unterschiedlich intensiver Art: den Katakomben-Karneval die hauseigene Kneipe Chico Mendes, Tanzveranstaltungen, Gottesdienste, Vorträge, Theater– und Kleinkunstabende sowie Musikgruppen bzw. Chöre (soweit die acht häufigsten Nennungen). Bei den Studierenden, die sich selbst als KHGler/innen bezeichnen, lauten die ersten acht Nennungen Chico Mendes, Gottesdienste, Vorträge, Arbeitskreise, Gesprächskreise, Tanzveranstaltungen, Theater-/Kleinkunstabende und Katakomben-Karneval. Hier ist kein gemeinsames Identitätsprofil zu erkennen, das berechtigte, Studierende als Gemeinde mit gemeinsamen Interessen und Zielen zu identifizieren. Eine kirchlich oder religiös geprägte Übereinstimmung ist erst recht nicht auszumachen.
An dieser Stelle muß die Frage gestellt werden: Was ist eigentlich eine Gemeinde? Es ist eine Überfrachtung dieses Artikels, den Begriff Gemeinde theologisch und pastoral differenziert zu entfalten. Wenn ich aber für die Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinde als kleinsten gemeinsamen Nenner das Bekenntnis auf Jesus Christus hin grundlege, muß ich schon im Vorhinein die Studierenden ausschließen, die sich beispielsweise zum Islam, zum Hinduismus oder zu Naturreligionen bekennen. Dann gäbe es eine Gemeinde und daneben Studierende, die nicht zu dieser Gemeinde gehörten.
„Präsenz der Kirche an der Hochschule“ bezieht sich jedoch auf alle Studierenden als Angebot, ein Ort der Kommunikation und der Communio zu sein. Dieser kleinste gemeinsame Nenner von Gemeinde greift so nicht die Glaubens- und Lebensrealität aller Studierenden in Aachen und ist somit untauglich als Begriffsdefinition für das, was KHG ist, obwohl auch in dieser Bezeichnung formal das Wort Gemeinde mitgeführt wird.
„Seelsorge“
Ebenfalls ein gängiger Begriff für das, was ich die „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ nenne, ist die Bezeichnung Hochschul- oder Studierendenseelsorge. Hier wird der Eindruck vermittelt, Kirche sorge sich nur um die „Seelen“. Auch wenn der Begriff „Seele“ nicht eindeutig ist, signalisiert er, nur irgendeinen Teil und nicht den ganzen Menschen zu meinen. Die Studie macht aber deutlich, daß die Eigenschaftsausprägungen der KHG, die von Studierenden vermutet werden, sich auf mehr als nur das bezieht, was das Wort „Seele“ meinen kann. So z.B. auf Offenheit, Gemeinschaftsgefühl, ethische Fragestellungen, internationale Ausprägung, kulturelle Angebote und Hilfen … Erst an 20. Stelle von 26 möglichen Vermutungen über das Angebot der KHG, liegt der Begriff Beratung, der am ehesten den Gedanken an Seelsorge zuläßt.
Dieser Begriff Seelsorge entspricht aber auch nicht der Palette der Angebote und Tätigkeiten, die die KHG heute und auch schon in ihrer über Diesjährigen Geschichte de facto anbietet und angeboten hat. Im Mittelpunkt dieses Angebotes stehen bis heute die Studierenden mit all dem, was sie an Lebensgeschichte, Fragen, Kompetenz und Lebensgefühl mitbringen. Daß es hier um mehr geht als nur um Seelsorge, ist – so glaube ich – einsichtig.
Auch wenn „Gemeinde“ und „Seelsorge“ als umfassende Begriffe die tatsächlichen Tätigkeitsfelder und die Zielgruppe nicht umgreifen, so bedeutet das nicht, daß Studierende in der KHG nicht doch eine Gemeinde im Sinne einer festen Gemeinschaft finden oder Begleitung in Glaubens- und Lebensfragen erfahren könnten. Das ist kein Neben- oder Zufallsprodukt sondern eine wesentliche Intention und ein Bestandteil des Auftrages der KHG für Studierende, ein Ort der bewußten und verantworteten Lebensgestaltung zu sein.
„Eckpfeiler“
Mein Interesse ist jetzt – geschichtlich gewachsene Intentionen von KHG angemessen respektierend – auf die Eckpfeiler der „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ für die Zukunft zu schauen. Was muß die „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ in Zukunft auszeichnen, um ihrer primären Zielgruppe, den Studierenden, gerecht zu bleiben, ohne ihr eigenes Kirchesein zu leugnen?
Unaufgebbare Grundlage ist die zentrale Botschaft christlicher Verkündigung: „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt und es in Fülle habt“ (vgl. Joh. 10, 1 Ob). Zielgruppe dieser Verkündigung sind in erster Linie alle Studierenden eines Hochschulstandortes. Das bedeutet nicht, daß Studierende, die mit der „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ in Berührung kommen, irgendwann dieses Bekenntnis ihr eigen nennen sollen oder müssen. Entscheidend für die Zukunft wird sein, ob Studierende in den Einrichtungen der christlichen Kirche für Studierende spüren: Hier ist mein Leben gefragt, hier darf ich mein Leben mitbringen, so wie ich es in mir spüre! Nur in einem solchen Klima können dann auch Christinnen und Christen von ihrer Hoffnung sprechen, die über ihr Sterben hinaus eine Hoffnung auf Leben ist. Nur in solch einem Klima ist es dann auch möglich, fair und gleichberechtigt über die verschiedenen Lebensentwürfe, Lebensvisionen und Glaubensvisionen für das Leben in einen Austausch zu gelangen.
Um die komplexen Situationen des Lebens der Studierenden nicht aus dem Blick zu verlieren und sich vorschnell mit den der Kirche Zugewandten zufriedenzugeben, ist der erste Eckpfeiler der „Präsenz der Kirche an der Hochschule“, auf dieser Grundlage Kundschafter und Kundschafterinnen in die Lebenswirklichkeit der Studierenden zu entsenden. Dies ist besonders wichtig für die Lebenssituation derer, die nicht die Möglichkeit oder Kraft haben, auf die Bedrängungen ihres Lebens aufmerksam zu machen. Botschafter und Botschafterinnen brauchen einen Ort, von dem sie ausgehen und zu dem sie zurückkehren. Kirche an der Hochschule braucht somit ein Zentrum, einen Ort der Begegnung. Ein solches Zentrum brauchtMenschen mit Visionen, damit die Botschaften der Kundschafterinnen und Kundschafter nicht folgenlos bleiben. Eingeholtes und mitgebrachtes Leben benötigt Visionen der Befreiung da, wo es ungerechtfertigte Einengungen oder Verhinderungen erlebt. Doch nur Visionen reichen nicht! Es bedarf der Anwälte und Anwältinnen, die für die Entfaltung eingeschränkten Lebens eintreten und Perspektiven der Veränderung entwerfen.
Die Lebenssituationen, für die Kirche an der Hochschule Anwältin sein muß, können sehr verschieden sein: Menschen auf der Suche nach Lebenssinn; Menschen, die sich nach Begegnung sehnen; Männer und Frauen, die ihre Identität entfalten möchten; Studierende, die sozial vor dem Abgrund stehen; Studierende, die heimatlos in ihrem fremden Zuhause sind; Menschen, die unentschieden vor einer Entscheidung stehen. So bedeutet Anwältin sein manchmal persönliche Begleitung, ein anderes Mal aber lauten Protest.
Diese Funktionen der „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ (Kundschafter, Visionäre und Anwältinnen für bedrängtes und verhindertes Leben zu sein) konkretisieren die unaufgebbare Grundlage, den Auftrag der christlichen Verkündigung: Gott ist auf der Seite des Lebens.
„Feier des Lebens“
Ein zweiter Eckpfeiler ist die Feier des Lebens. Hier möchte ich den Begriff „Feier“ sehr weit fassen. Es ist die Feier des Lebens, des gelebten Glaubens und der aus dem Glauben heraus gespürten Hoffnung. Für Christinnen und Christen ist das die Feier des Gottesdienstes in ihren unterschiedlichen klassischen Formen. Doch nicht immer reichen diese Formen aus, um dem Ausdruck zu geben, was Studierende als lebendigen Glauben in sich spüren. Da ist Kirche an der Hochschule gefordert, die Formen mit den Betroffenen zu entwickeln, die der Lebenssituation der Studierenden gerechter werden. Z.B. die Feier des Glaubens in der Abschiedsphase vom Studienort.
Frauen finden ihre jeweiligen Glaubens- und Lebenssituationen in den herkömmlichen liturgischen Formen oft nicht wieder. Da ist es selbstverständlich, daß Orte geschaffen werden, an denen Frauen ihre Formen der Feier des Glaubens entdecken und entfalten.
Kirche an der Hochschule muß aber auch dafür Sorge tragen, daß Studierende anderer Relgionsgemeinschaften einen Ort finden, ihrem Glauben in ihren originären Formen Ausdruck zu geben. Feier des Lebens bedeutet für mich aber auch gleichwertige und ehrliche Kommunikation, gleichberechtigter Austausch der Kulturen, die Feier des Lebens in Festen, die einfach aus Freude am Leben gefeiert werden.
„Anfrage an Lehrinhalte“
Ein dritter Eckpfeiler ist die Anfrage an die Lehrinhalte der jeweiligen Fakultäten an der Hochschule und ihre Vermittlung, ob sie im Dienst des Lebens der Menschen stehen oder Gefahr laufen, Selbstzweck zu werden. Dies geht nur im Dialog mit Studierenden und Lehrenden. Hier hat Kirche ihren Beitrag zu leisten, zum Beispiel Medizin und Ethik ins Gespräch zu bringen, aber auch den Austausch in Fragen von Ethik und Technik zu fördern.
Interdisziplinäre Kommunikation muß stärker Anliegen einer Kirche sein, die Präsenz an der Hochschule zeigen will, um auch ihre Kompetenz auf dem Weg zu einem tragenden Lebensentwurf in eine plurale Gesellschaft einzubringen!
Schlüsselqualifikationen müssen für Studierende eine immer größere Bedeutung gewinnen. Auch hier ist die Präsenz der Kirche gefragt, wenn sie ihre Botschaft ernst nimmt, die zum Leben befreit. Die Aneignung wissenschaftlicher Fakten garantiert noch keine Qualität im Umgang mit diesen Fakten und der Wissenden miteinander. Das Faktenwissen muß ergänzt werden durch: faire Argumentations- und Überzeugungstechniken, lebensförderndes Führungsverhalten, effektive und kreative Teamarbeit, partnerschaftliches Konfliktmanagement und Streßbewältigung. Dies sind nur einige von den Schlüsselqualifikationen, bei deren Aneignung Kirche einen Kompetenten Beitrag leisten kann.
Diese drei Eckpfeiler umschreiben nicht all das, was in der Zukunft für eine „Präsenz der Kirche an der Hochschule“ nötig ist, die ein Ort sein will, an dem sich Leben entfaltet. Doch ich wage die Prognose: Wenn auch nur einer dieser drei Eckpfeiler fehlt, hat die Kirche Wesentliches, das Leben der Studierenden betreffend, aus ihrem Blick verloren und damit ihre angemessene und sinnhafte Präsenz preisgegeben.
Aber ebenso wichtig wie diese drei Eckpfeiler ist die Glaubwürdigkeit und Identität der Menschen, die diese Eckpfeiler als Kirche an der Hochschule präsent halten.