„Du schaffst meinen Schritten weiten Raum“
Predigt in den Gottesdiensten am Sonntag, den 3. August in St. Anna
„…wenn ich mich selbst überschätze, im Kontext dessen was alles gefordert wird …“
Kerngedanken, Bilder und Ausblicke der Predigt
von Hochschulpfarrer Christoph Stender
Wer vom „Überschätzen“ spricht, der kann vom „Scheitern“ nicht schweigen. Wer aber so auch vom Scheitern sprechen muss, der sollte berücksichtigen, dass das Scheitern zwar jeden treffen kann, aber bei jedem einzelnen sich immer unterschiedlich darstellen wird und die Reaktionen entsprechend auch verschieden sich auswirken. Allgemein verbindliche Gedanken kann es zu diesem Thema in besonderer Weise also nicht geben. Daher ist meine Predigt heute kein geschlossener Entwurf, sondern ich möchte Ihnen Kerngedanken, Bilder und Ausblicke anbieten, die alle nur eine Annäherung sind. Diese Fragmente meiner Predigt sind eine Einladung bei sich selbst und der eigenen Erinnerung neu anzukommen.
Traumnote 1.0 im Abitur. Und Chemie, das war ihr Lieblingsfach, da war sie in jeder Unterrichtsstunde zielsicher, das System hatte sie durchschaut, jede Chemiestunde war für Sie ein gewonnenes Heimspiel. Dass sie Chemie auch studieren würde war spätestens seit der Jahrgangsstufe 11 klar. Und nun war es soweit. Sie loggte sich mit ihrer Matrikelnummer auf der Homepage des Lehrstuhls für angewandte Chemie im Internet ein, suchte nach den Klausurergebnissen, ging das Alphabet nach und sah ihren Namen. Dann geschah, was für die erfolgsgewohnte und selbstbewusste Frau nicht denkbar war. Sie sagte kein Wort und ihre Tränen nahmen ungezügelt ihre Bahnen durchs Gesicht auf den Pulli.
Fast zwei Jahre nach diesem für sie damals unfassbaren Ereignis, kamen ihr noch immer die Tränen, wenn sie von dieser Chemieklausur erzählte, die sie „damals“ nicht bestanden hatte.
Den meisten von uns dürfte klar sein, dass, würden wir uns heute nur vor die Chemieklausur einer 10. Klasse gestellt sehen, wir total überfordert wären. Wir würden das „Spiel“ auch gar nicht erst mitmachen, denn wir wissen: „Ich und Chemieklausur, das überfordert mich mit Sicherheit; und wer will schon als Versager da stehen.“ Wer sich so eindeutig überfordert sieht, der spielt normalerweise nicht mit dem Feuer. Wer überfordert ist, sich so fühlt oder wem die Überforderung prognostiziert wird, der weiß sich in unmittelbarer Nähe eines eigentlich alltäglichen Phänomens: Versagensängste! Solche Ängste allerdings haben oft das Scheitern schon im Schlepptau.
Wer dann in vielen Bereichen seines Lebens „objektiv“ gescheitert ist, den nennt unsere Gesellschaft Verlierer. Und wer verloren hat, der wird meist in unserer Gesellschaft fallen gelassen. Mit Verlieren stellt man nichts dar, so die traurige, am Erfolg orientierte Realität!
„Vornehm“ soziologisch ausgedrückt nennt man das dann einen „sozialen Abstieg“, andere bezeichnen Gescheiterte als Sozialschmarotzer, Penner oder wie auch immer herab-würdigend. Wie schnell man allerdings durch die sozialen Maschen unserer Gesellschaft fallen kann, haben Menschen erfahren müssen, die nie damit gerechnet hätten. So z. B. jene, die durch den Verlust ihrer Arbeit die Schulden bei der Bank nicht mehr begleichen konnten, denen in Folge die Hütte unter dem Hintern weggepfändet wurde, die sich dann als Hartz IV-Empfänger vorfanden und schämten. Viele von diesen Verlierern geht bis heute die Frage nicht aus dem Kopf, ob man an dem allen nicht vielleicht doch selber Schuld sei?
Scheitern aber ist nicht gleich Scheitern und auch das Versagen hat verschiedene Gründe, Facetten und Auswirkungen. Schauen wir noch mal auf die Chemiestudentin mit einem analysierenden Blick.
Eigentlich hat sie sich doch gar nicht überschätzt, sondern sie hat ihre bis dahin gemachte schulische Erfahrung, Chemie einfach drauf zu haben, übertragen auf die Chemieprüfung an der Universität. Diese Annahme aber war falsch, sie hat sich somit objektiv „nur“ geirrt. Subjektiv aber empfindet sie bis heute diesen Irrtum als ihr Versagen. Warum? Sie hat die Leistung nicht erbracht, die sie sonst von sich gewöhnt war. Und sie hat darüber hinaus nicht die Erwartungen bedient, die ihre Umgebung aufgrund ihrer bisherigen Erfolge hätte erwarten können. Aus der Perspektive der Eigen- und der Fremderwartung ist sie gescheitert. Ist sie nun gescheitert, oder hat die Perspektive und damit die Einschätzung nicht gestimmt. Die Begriffe Scheitern und Perspektive sind eng miteinander verknüpft. In der Analyse und der Planung unseres Handels ist die richtige Einschätzung der Perspektiven ein wesentlicher Schritt. Die realistische Einschätzung ist für das Management des eigenen Lebens evident, egal welchen Beruf ich erlerne, welches Studium ich anstrebe oder was auch immer Schwerwiegendes ich ansteuere.
„Manchmal muss man auch mal ein bisschen mehr fordern, das spornt an und hat noch keinem geschadet“. Solche und ähnlich klingende Sätze, auch als pädagogische Maßnahme verstanden, sind bekannt. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass besondere Herausforderungen im Menschen Fähigkeiten und Talente wecken und veredeln können. So wollen Kinder z. B. besondere Herausforderungen meistern, um Anerkennung zu erfahren dafür, etwas Besonderes geschafft zu haben. Wer aber der Meinung ist „einen Menschen auch mal an seine Leistungsgrenze stoßen lassen zu wollen“, sollte sich ehrlich Rechenschaft darüber abgeben, wessen Interessen er verfolgt, eigene oder die des Betroffenen?
Man will mit anderen mithalten können! Dieser Meinung ist im Grunde eine große Mehrheit in unserer Gesellschaft. Dem Anderen sichtbar in etwas nachstehen, egal ob es nun Klamotten sind, Freizeit möglichkeiten oder Erlebnisse, das findet kaum einer wirklich gut. Der Grund: Man möchte in seinem Segment der Gesellschaft angesehen sein. Gemeint ist da nicht wirklich die Hochglanzgesellschaft, die uns oft in Medien präsentiert eher zum Träumen verführt. Nein, gemeint ist diese ganz normale Gesellschaft, mit der Sie und ich täglich so ganz allgemein zu tun haben: Kollegen, Nachbarn, Schule, Kegelklub, Bistro, Sportverein, Stammtisch, Pfarrgemeinde, Clique,…. eben was uns so umgibt, wenn uns denn da etwas umgibt.
Hand aufs Herz! Wollen Sie nicht auch hie und da mithalten können, um das Gefühl zu haben „ebenbürtig“ mit dabei zu sein, einfach dazu zugehören. Das ist doch einfach auch normal! Aber kennen sie nicht auch das Gefühl, wie schwierig das manchmal sein kann, meistens dann, wenn es auch nicht ganz billig ist, mit dazu zu gehören. Aber ist das noch normal?Und beschleicht Sie da nicht auch manchmal die Sorge, um mithalten zu können, sich selbst überschätzen zu müssen. Diese Sorge, die dann bis zur konkreten Angst heranwachsen kann! Sich selbst überschätzen, haben Sie damit Erfahrung gemacht? Kennen Sie das, sich selbst überschätzt zu haben, oder auch überschätzt worden zu sein, und dann eine Bauchlandung gemacht zu haben, vorsichtig formuliert. Und dann, kennen Sie das, vielleicht etwas verloren zu haben, weil Sie gescheitert sind, etwas endgültig nicht mehr erreichen zu können, vielleicht einen Jemand, eine Beziehung, sich selbst, den Glauben an sich, oder alles zusammen – einfach weg. Verbinden Sie mit überfordert- und/oder gescheitert sein Bilder aus ihrer Kindheit oder Bilder, die mit Schule, Ausbildung, Familie, Beruf, Freundeskreis, Vater, Mutter und Großeltern, Partnerschaft, Visionen und Träumen, Gottesbildern und Geheimnis etwas zu tun haben. Diese Bilder, die von Überforderung und Scheitern erzählen.
„Du schaffst meinen Schritten weiten Raum!“ So die Erfahrung der Menschen, die vor uns dem Gott getraut haben, den wir in Jesus Christus heute als unseren Gott bekennen. Diese Erfahrung machen und machten glaubende Menschen in sehr unterschiedlichen Gesellschaftsformen damals wie heute. Gott ist „Weite“ und diese Weite ist eine „Gesetzmäßigkeit“ Gottes. Wer sich auf ihn einlässt, der erfährt Weite, so die Erfahrung. Sich auf ihn einlassen bedeutet ihm zu vertrauen, ihm zu glauben. Glauben aber bedeutet mit Herz und Verstand begriffen zu haben, dass die Erlösung durch Christus mitten in unserer Welt heute schon greift und wirkt, nämlich da, wo Menschen sich befreit wissen von „der Angst um sich selbst“. Gottes Weite erleben wir da, wo wir uns befreien lassen „von der Angst um uns selbst“, diese Angst, die ständig nichts anderes im Blick hat als dieses „sich breitmachende Etwas, dass sich „Ich“ nennt“.
Aber was bedeutet diese von Gott geschenkte und im Glauben angenommene Weite mitten im Leben, in Ihrem, meinem, hier und jetzt? Welche Perspektive eröffnet sie, was haben wir von dieser Weite, was ist sie wert?
- Nichts, wenn sie am Vorgartenzaun der Erwartungen und Vorstellungen anderer endet.
- Nichts, wenn wir uns einspannen lassen in und für ein System, das nur noch am Limit scheint existieren zu können, und noch immer nicht begriffen hat, genau da auch zu scheitern.
- Nichts, wenn wir uns auf eine selbst gebaute Insel in uns und so an der Welt vorbei zurückziehen, und meinen mit dieser Gesellschaft nichts am Hut zu haben, weil ja alles ach so schlecht ist.
- Nichts, wenn wir weiter das Gesellschaftsspiel mitmachen, uns ständig und überall mit Anderen vergleichen und messen zu wollen, nur weil wir noch immer nicht einsehen können, letztlich im Vergleich mit anderen doch immer nur der Verlierer zu sein, weil es da immer einen gibt der schöner, wichtiger, anerkannter, schlauer und was auch immer ist.
- Nichts, wenn wir immer noch meinen, alles sei irgendwie machbar, bei uns vor der Haustüre und in der großen weiten Welt und lustig uns verlassen auf den unbegrenzten Fortschrittsglauben, der unsere Kindeskinder auffressen wird.
Nichts haben wir von dieser Weite, wenn wir ihr nicht Platz machen, wenn die Weite Gottes in uns nicht Raum greifen kann, wenn die Weite scheitert an unserer Kleingeistigkeit, wenn Weite nicht gesellschaftsfähig ist weil sie Kraft zur Veränderung birgt. Wenn Weite in unseren Vorstellungen von Heute eingekerkert bleibt, dann dürfen wir uns zumindest darüber freuen nicht mehr auf Bäumen zu sitzen, und mehr noch, im Donner eines Gewitters, auch nicht mehr Gottes vernichtende Stimme zu hören meinen. Gottes Weite und Sie, seine Weite in Ihrem Leben, Gottes Weite in unserem Leben. Was hat diese Weite, die Jesus gelebt hat und an der er auch vordergründig gescheitert ist, mit unserem Leben zu tun. Was hat diese Weite in uns zu suchen. Sie hat in uns etwas zu suchen und auch eine wirkliche Chance dann, wenn wir sie etwas finden lassen wollen. Und die Weite Gottes in uns etwas finden lassen wollen, könnte mit diesen Worten beginnen, wenn Sie wollen:
Schenke mir eine gute Verdauung,
Herr, und auch etwas zum Verdauen.
Schenke mir die Gesundheit meines Leibes,
mit dem nötigen Sinn dafür,
ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele,
Herr, die das im Auge behält,
was gut ist und rein,
damit sie im Anblick der Sünde
nicht erschrecke,
sondern das Mittel finde,
die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele,
der die Langeweile fremd ist,
die kein Murren kennt und kein
Seufzen und Klagen,
und lass nicht zu,
dass ich mir allzu viel Sorgen mache
um dieses sich breitmachende Etwas,
dass sich „Ich“ nennt.
Herr schenke mir Sinn für Humor,
gib mir die Gnade,
einen Scherz zu verstehen,
damit ich ein wenig Glück kenne
im Leben und anderen davon mitteile.
Amen.
Thomas H. B. Webb (GL Nr. 8/3)