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Heiligabend hinter erleuchteten Kneipenfenstern

Heiligabend durch die Straßen einer Stadt zu schlendern, hat etwas Eigenes. Auf Menschen treffe ich kaum, nur vereinzelt huschen sie durch die sich zur Nacht wandelnde Dämmerung, in Festtagskleidung und mit verpackten Präsenten in der Hand. Die Ampeln spielen ihr Farbenspiel allein, zu regeln gibt es um diese Zeit nichts. Auffallend wenige Fenster sind erleuchtet, pro Wohnung vielleicht so ein bis zwei, wenn überhaupt. Bunte Lichterketten und erleuchtete Sterne schmücken sie. Auf den Fensterbänken fast obligatorisch: der Weihnachtsstern und das Gesteck. Nur gedämpftes Flackern, hier und da gemischt mit dem kalten blauen Licht der Fernsehröhren, keine Stimmen, keine Musik dringen nach draußen. Aus den großen, bunten Kirchenfenstern flutet feierlich anmutende Atmosphäre in die leblosen Straßen.

Einige Meter vor mir geht langsam eine Tür auf, eine ältere Dame betritt zügig den Fußweg, ihr intensiv schnuppernder Hund marschiert zielstrebig zum nächsten Baum und: Beinchen hoch! So schnell, wie sie die Kneipe verließen, sind sie auch wieder in ihr verschwunden. Für Sekunden drängen Wortfetzen und leise Musik durch die sich schließende Tür auf die Straße, dann wieder Stille. Auf der Höhe der Kneipe zügele ich meinen Gang. Durch die leicht grün und gelb eingefärbten Butzenscheiben erkenne ich einige Frauen und Männer am Tresen und den Wirt, der, auf die Zapfsäule gestützt, mit einem seiner Gäste mit Händen und Füßen spricht. Im Weitergehen stelle ich mir die Frage: Warum haben ausgerechnet am Heiligen Abend diese Menschen eine Kneipe angesteuert? Wollen sie mit Weihnachten nichts am Hut haben? Gab es da niemanden, mit dem sie am heimischen Tannenbaum feiern könnten? Hatten sie Angst vor zuviel Gefühl und Stimmung, flüchteten sie vor der Erinnerung, oder war es die Angst vor der allmächtigen Einsamkeit, die kaum so entlarvend ist wie am Heiligen Abend?

Einmal um den Block gegangen, werden meine Schritte vor dem Kneipenfenster wieder langsamer. Meinem verstohlenen Blick in die Kneipe bietet sich dasselbe Bild wie eben, nur der Wirt ist jetzt in Funktion und zapft Bier. Noch langsamer gehen, hieße stehen bleiben. Soll ich reingehen? Mir fehlt noch der Mut. Diese Menschen könnten ja denken, ich hätte niemanden, der mit mir feiern wollte, könnte meine Einsamkeit nicht ertragen oder würde weglaufen vor zuviel Gefühlen. Noch einmal um den Block. Dann, mit einem kräftigen Ruck, öffne ich die Kneipentür, weniger hätte es auch getan, und gehe hinein, direkt an den Tresen. Die Köpfe der wenigen Kneipenbesucher drehen sich für einen Moment zu mir, um sich dann wieder einander zuzuwenden. Nur die weihnachtliche Musik im Hintergrund verhindert Sekunden absoluter Stille. Freundlich fragt mich der Wirt, was ich denn trinken wolle, und nach fünf Minuten lächelt mich ein Pils an. Etwas unsicher wandert mein Bild durch den Gastraum. Keiner der Tische ist besetzt, der hintere Teil des Raumes ist abgedunkelt, und ein richtiger Tannenbaum mit elektrischen Kerzen versucht sein bestes, um weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Neben der Toilettentüre trägt ein monströser Kleiderständer zum Ambiente des Raumes bei: Auf die Garderobe ist selbst zu achten. In dieser Kneipe würde es niemandem entgehen, wenn man auch nur einen der Mäntel länger als zwei Minuten angeschaut hätte. Ich konzentriere meinen Blick wieder auf die langsam einfallende Pilskrone vor meiner Nase.

„So Weihnachten mit richtig Schnee wäre ja auch wieder mal an der Zeit“, sagt der Wirt in meine Richtung. Ein anderer Gast hat schneller eine passende Frage zur Hand als ich: „Wann hatten wir eigentlich das letzte Mal weiße Weihnacht?“ Kaum am Gespräch beteiligt, bin ich auch schon wieder mit meinem Pils allein.

Keiner der Gäste schweigt. Eine Frau summt die Lieder von der CD mit, während der Mann neben ihr mit zwei anderen Gästen knobelt und sie einander die Augen der Würfel zurufen, mal mit einem Fluch versehen, mal mit einem siegessicheren Lachen. Andere unterhalten sich sehr intensiv, jedoch für mich kaum verständlich, da sie Platt sprechen. Eine Dame mir gegenüber liest ihrem Begleiter, der seine Hand auf ihre Schulter gelegt hat, aus dem Journal vor, das vor ihr liegt. Der Wirt hat über-haupt keine Mühe, sich neben dem Ausschank in jede Unterhaltung kompetent einzuklinken. Selbst mit dem Hund spricht er ab und zu, auch wenn er ihn nicht sehen kann, da dieser zu Füßen seines Frauchens schläft. Alles, was das Leben so hergibt, ist hier wohl Thema: der Krieg, die Kinder, die Steuerreform, die Baustelle gegenüber, die Weltranglistenerste der Tennisdamen, die neue Pommesbude um die Ecke, die eine oder andere Krankheit und Erinnerungen, wie alles und jedes irgendwann mal halt war, halt all das, was Leben so hergibt. Mir scheint, als fühlten sich diese Menschen hier wohl. Kaum etwas zu spüren von meiner vermuteten Einsamkeit dieser Menschen, der Verdrängung von Erinnerung oder sentimentaler Gefühle. Der einzige, der hier einsam ist, bin ich selbst, und ich werde das Gefühl nicht los, als stünde das mit großen Buchstaben auf meiner Stirn. Ich zücke meine Geldbörse, trinke den letzten Schluck, antworte auf die Frage des Wirts: „Nichts mehr?“ mit „Nein, danke“, zahle und verlasse diesen gastlichen Ort mit einem „Auf Wiedersehen“ auf den Lippen, worauf ich prompt vom Wirt und von einigen Gästen ein „Frohes Weihnachten“ ernte. Meinem letzten Blick durch das Fenster in die Kneipe bietet sich dasselbe Bild wie vor einer halben Stunde. Aus welchen Gründen sie gekommen sind, weiß ich auch jetzt nicht. Doch was sie hier tun, ist mir klar geworden, sie löschen ihren Durst nach Gemeinschaft.

Aus „Mit beiden Beinen auf der Erde“, Bergmoser + Höller Verlag, 1996.
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Alle Jahre wieder der gute Vorsatz

Faxbox-Predigt zum Neujahr 1996

Noch sind sie frisch, die gut gemeinten Wünsche zum neuen Jahr, die in unseren Ohren noch nachklingen: „Ein frohes Sechsundneunziger“, „Zum neuen Jahr alles Gute“, „Gottes Segen in 1996″…

Vom Bundeskanzler bis zum Präsidenten, vom Arbeitskollegen bis zur Marktfrau, vom Pfarrer bis zur Ärztin, vom Friseur bis zur Nachbarin, vom Vater bis zur Tochter, sie alle haben für uns, so auch wir für sie, eben einen guten Wunsch fürs neue Jahr. Doch was steckt eigentlich konkret hinter diesen Wünschen „Ein frohes neues Jahr“…. Meist bleibt keine Zeit dem nachzusinnen oder nachzufragen, denn kaum ist der Wunsch ausgesprochen, ist man meist schon außer Sichtweite.

Da hilft uns vielleicht eine Umfrage des Forsa-Institutes weiter, die nachgefragt hat, was sich die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger selbst für 1996 wünschen bzw. sich selbst vornehmen. Denn ein guter Vorsatz für sich selbst, also etwas, das man ganz bewusst in die eigene Hand nimmt, ist ja auch ein guter Wunsch für den Anderen, dass auch er in seinem Leben etwas ganz bewusst neu anpackt. Doch bei dieser Umfrage schauen wir erst einmal in die Röhre, denn 50% der Befragten haben keinen besonderen Vorsatz. Das lässt zu wünschen übrig. Jedoch 16% der Befragten hat zu mindest den Vorsatz gesund zu leben. Das wäre doch schon ein guter Wunsch auch für andere. Der Vorsatz, mehr Engagement im Beruf, den 14% beschlossen haben, ließe sich sicherlich auch so manchem wünschen. Die 7%, die mit dem Rauchen aufhören wollen, kann man nur mit einem kräftigen Wunsch unterstützen.

Im Vergleich zu Vorjahren ist es schon sehr auffällig, dass die Menschen, die in Deutschland leben, immer weniger Mut zu einem Vorsatz haben, sich selbst weniger wünschen, weniger bewusst anpacken wollen.
Was bedeutet das?

Sind wir schon so perfekt, dass wir den Wunsch zum guten Vorsatz nicht mehr nötig haben? Oder gehen die meisten auf Nummer Sicher nach dem Prinzip: Kein Vorsatz und, so bei nicht gelingen, auch kein Frust. Ist es vielleicht nur Gedankenlosigkeit? Oder ist es Fatalismus nach dem Motte „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“. Ein solcher Fatalismus mag bei manchen entstanden sein auf dem Hintergrund einer hier etwas scherzhaft formulierten Erfahrung: An einem ganz misslungenen Tag, sprach eine Stimme zu mir: „Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen“. Und ich lächelte, und ich war froh, und es kam schlimmer. Verbirgt sich etwa hinter dieser zunehmenden, uns selbst betreffenden, Vorsatzlosigkeit und Wunschlosigkeit die Hoffnung, möge das kommende Jahr soweit wir es selbst im Griff haben mehr oder minder so bleiben wie das vergangene Jahr?

Ein in diesem Sinne letztlich auf Nummer Sicher gehen wollen, heißt im gerade begonnenen Jahr bewusst und gewollt auf der Stelle zu treten.

Ein, aus eigener Kraft, nichts bewegen wollen. Wenn wir kaum noch wünschenswerte Vorsätze für uns mehr haben, dann lassen wir uns nur noch durch das Bewegen, was um uns herum geschieht, was von außen auf uns einwirkt. Kurz gesagt bedeutet dies: Den eigenen Status quo halten ansonsten Fremdbestimmung!

Einer solchen Haltung läuft Eindeutig das Evangelium des heutigen Tages entgegen. Würde die eben erwähnte Umfrage vor fast 2000 Jahren am Jordan gemacht worden sein, dann würde der Vorsatz eines Menschen alle anderen ins Staunen versetzen, der Vorsatz Jesu. Jesu Vorsatz ist es, den Menschen zu sagen, dass Gott ein unerschütterliches Interesse an jedem einzelnen Menschen hat und weiter sagt Jesus: Ich wünsche mir, dass Ihr durch mich spürt, wie verliebt Gott in Euer Leben ist. Diesen Vorsatz und Wunsch nimmt Jesus in die eigene Hand. Er tritt nach 30 Lebensjahren aus der Unbekanntheit heraus mitten in das Leben der Menschen. Jesus reiht sich ein in die religiöse Tradition seines Volkes und lässt sich von Johannes taufen. An dieser Stelle nun versucht der Evangelist Matthäus einen gigantischen Augenblick im Bild festzuhalten. Eine Stimme aus dem Himmel offenbart: „Das ist mein geliebter Sohn“. Das eigene Leben, das dieser geliebte Sohn Gottes, das Jesus selbst in die Hand nimmt, ist die Tuchfühlung Gottes mit den Menschen. Dieser neue Abschnitt im Leben Jesu ist die Liebeskundgabe Gottes bis ins Heute an Sie und an mich. Diese Wende in Jesu Leben wendet das Leben der Menschen durch die einmalige Zusage: Mensch, zum Heil bist Du bestimmt! Jesu nimmt sein Leben in die Hand, er richtet es ganz konkret auf sein Wünschen und seinen Vorsatz aus, Erzählung von Gott zu sein, und geht seinen Lebensweg konsequent als die Liebe Gottes. Da dürfen wir einfach dankbar sagen, wie gut, dass Jesus nicht auf der Stelle getreten ist und in der Verborgenheit blieb. Wie gut, dass Jesus nicht wartete bis man ihn rief, sondern selbst aktiv wurde und sich mitten in das Leben der Menschen stellte. Hätte er still gehalten, wäre es um uns still und hoffnungslos geblieben.

Zu Beginn diesen neues Jahre sei die Frage erlaubt: Was würde Jesus uns als Vorsatz mit auf den Weg geben, was würde er uns wünschen für das Jahr 1996?

Vielleicht klänge es so:

„Du Mensch, sag heute ein neues Ja zu Deinem eigenen Leben und in Deinem Leben ein neues Ja zu mir“.

„Du Mensch, und wenn Du merkst, dass durch Dein Ja zu mir in Deinem Leben Du eigentlich etwas mehr Zeit für das Leben Anderer haben müsstest, so nimm Dir diese Zeit“.

„Du Mensch, und wenn Du merkst, dass durch Dein Ja zu mir in Deinem Leben, Du eigentlich etwas vergebungsbereiter sein solltest, so sei es doch“.

„Du Mensch, und wenn Du merkst, dass durch Dein Ja zu mir in Deinem Leben Du eigentlich etwas geduldiger mit Dir und den anderen sein solltest, dann gönne Dir diese Geduld“.

„Du Mensch, und wenn Du merkst, dass durch Dein Ja zu mir in Deinem Leben Du nun eigentlich … dann …“

(Prediger bzw. Predigerin bleibt eine halbe Minute in Stille am Ambo stehen.)

Diese Ansprache erschien als Faxbox-Predigt des Bergmoser + Höller Verlags.

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Zwischen uns ein Augenblick

Im Augenblick ein „Mehr“ getroffen
zwei Wellen schnell zum Fluss verflossen

Einblick haltend
Ausblick weitend
Einklang hörend
Ausklang spürend

Der Augenblick das Ende bergend
im Flusse sein dem Ein-Klang wehrend
nicht aufzuhalten jenes Sein
als Ein-Klang ewig ich zu sein

So wird verklingen du mein Klang
so wird verrinnen unserer Gang
und bleiben ganz zerbrechlich klein
ein Nachklang
kann kein Einklang sein.

© 1995 Christoph Stender
In Lyrik + mehr, Walheim 2003 veröffentlicht | Getaggt | Kommentieren

Vortrag zu Prof. Dr. Klaus Hemmerle

An den Anfang dieses Vortrages habe ich einen Ausschnitt der Radioübertragung anlässlich des Trauergottesdienstes und der Beisetzung von Bischof Klaus Hemmerle gestellt.

Genauer gesagt, es sind nur die einführenden Worte des Kommentators und der gemeindliche Gesang zu Beginn des Trauergottesdienstes selbst. Diese Aufzeichnung hörte ich in den vergangenen Tagen als ich versuchte die Endredaktion dieses Vortrages über Bischof Klaus Hemmerle zu fixieren, der nun heute hier unter dem Rahmenthema „Glaubensbilder – Lebensbilder“ gehalten wird.

An meinem Schreibtisch, für Augenblicke sitzend, um dann wieder auf und ab zu gehen merkte ich einmal mehr, wie anmaßend es mir schien, einen Vortrag über Bischof Klaus, den großen Theologen, Religionsphilosophen, Priester und Mensch zu halten, an diesem Schreibtisch, von dem aus ich Heiligabend 1993 mit unserem Bischof Klaus das letzte Mal länger telefoniert hatte. Würde ich heute mit ihm telefonieren können, um ihm von meiner selbstgewählten Not zu berichten, mich anmaßend zu fühlen, wenn ich über ihn vortrage, so glaube ich, würde er mir antworten: wenn mein einfaches und tiefes Sprechen von einer Marktfrau verstanden wird, dann wirst auch du es verstanden haben und davon sprechen können, auch wenn du kein Professor der RWTH bist.

Verstehen: Ja es müssen viel mehr Menschen verstanden, besser begriffen haben als die in der Einführung zum Begräbnisgottesdienst genannten Persönlichkeiten aus Kirche, Gesellschaft und Politik.

Es müssen auch die etwas begriffen haben, die sich zur selben Zeit draußen vor dem Dom, auf den Domhof drängten, aber auch jene, die so unterschiedlich gekleidet, so verschiedenen Alters und so vielfältiger Erscheinung waren und in den Tagen vor der Beisetzung etwas gemeinsam hatten, als sie am Sarg von Bischof Klaus, von diesem gemeinsam erlebten Wort Abschied nahmen, dieses Gemeinsame nämlich, etwas von ihm begriffen zu haben.

Bischof Klaus verschenkte etwas, was Menschen begreifen konnten und in diesem Verschenken gab er von dem, das er selbst als Datum, als ihm Gegebenes, anvertraut bekommen hatte und er verschenkte es mit der Substanz seiner selbst. Er schenkte im Augenblick das Ganze dessen, was ihm geschenkt wurde.

„Ein Geschenk an uns“: so sagt Chiara Lubich in einer Aufzeichnung einer telefonischen Konferenzschaltung unmittelbar nach dem Tod von Bischof Klaus: „Bischof Hemmerle bezeugte mit seinem Leben unser Ideal der Einheit. Auf ihn können wir schauen, wenn wir die Schwerpunkte unserer Spiritualität tiefer verstehen wollen. Gott bedeutet ihm alles. Daher bemühte er sich, seine Willen zu erfüllen und seine Worte zu leben. Jemand, der ihn gut kannte, sagte von ihm: ‚Er war verliebt in das Wort Gottes‘. Viele Menschen erinnern sich an die persönliche Liebe, die er ihnen entgegen brachte. Nicht nur mit Bischöfen aus aller Welt, mit denen er verbunden war, auch mit vielen anderen versuchte er Gemeinschaft aus gegenseitiger Liebe aufzubauen. Jesus, der Verlassene, war für ihn ein beständiger Orientierungspunkt, Maria eine Mutter. Man sagt, er sei ein Priester nach dem Herzen Gottes gewesen. Er diente der Kirche im Hören auf den Heiligen Geist. Sein Leben galt der Einheit.

Er ist von uns gegangen. Doch er ist uns auch geblieben – als Vorbild.

Er verschenkte etwas, was vielleicht auch nur für Augenblicke (der Augenblick war für ihn ein immer wichtiger und wesentlicherer Moment) den Menschen, die annehmen konnten, gut tat. Mehr noch, er gab sich so (er ergab – ergeben im Doppelten Sinn), dass andere wirklich vorkommen konnten. Sein sich so geben war von der Qualität, die ohne die Qualität des anderen keine neue Qualität wirklich werden konnte.

Einheit war seine „Sucht zu sehen“, seine Sehnsucht aus dem verliebt sein in das Evangelium heraus.

„Omnis unum ut mundus credat“, sein Leitwort aus dem Johannesevangelium war gefüllt mit geistigen und geistlichen Erlebnissen aus seiner spirituellen Heimat der Fokolarbewegung, und wurde ihm am Tag seiner Weihe zum Bischof von Aachen nochmals in besonderer Weise als Lebenswort (Wort des Lebens) von Chiara Lubich geschenkt.

Nicht erst in seinen ersten Priesterjahren nach seiner Weihe 1952, hatte er sich in eine für ihn faszinierende Nähe zu dem „drei-einen-Gott“, dem Beziehung, dem Einheit seiendem Gott gewagt. Die sich bis heute und über das Heute hinaus immer tiefer und weiter entfaltende Spiritualität der Fokolare (nicht zuletzt auch durch Bischof Klaus geprägt), wurde für Klaus zum heimatlichen Ausgangsort, der stets sich verortenden Beziehung von ihm zum verlassenen Christus, indem er durch die Wahrnehmung realen Leides hindurch Auferstehung schon schmeckte; so wie zu Maria, sie begreifend er an ihr zum Hinweisen (als Kontinuum) auf die Liebe Gottes wurde.

Ich erinnere mich gut wie wir vor knapp 10 Jahren durch die Weinberge bei Bingen spazierten und er voller Begeisterung in seinem unverwechselbaren Dialekt und mit sprachlicher Genialität von der Theologie der fokolarinischen Spiritualität inklusiv von seinen neuesten diesbezüglichen Erkenntnissen sprach und er so brillierte und ich staunte und meinte zu verstehen! Heute im nachhinein muss ich ein wenig zweifeln an der Aussage von Bischof Karl Lehmann im Trauergottesdienst, „dass die Sprache von Bischof Klaus so einfach und so tief war, dass die Marktfrau und der RWTH Professor sie gleichermaßen verstand“. Es bleibt dann doch wohl mein kleines Problem, ob es jenseits von Marktfrau und Professor noch etwas gibt, wo ich dann vorkommen könnte.

Doch dem eben gesagten zum Trotz, auch wenn ich im Nachhinein verstand, dass ich von seinem Sprechen nicht immer alles verstanden habe, so blieb doch ein Begreifen meinerseits zurück, ein Begreifen, ein Stück Ahnung haben von dem, was er zutiefst mitteilen wollte. (Es ging ihm nicht primär um wissen im Sinne der Wissenschaftlichkeit sondern ihm ging es vielmehr darum sehen zu vermitteln).

Sein geliebtes Wort Gottes, gelebt in der Fokolarbewegung, und immer auch darüber hinaus, begleiteten ihn durch alle Etappen seines Lebens: ob er in der Lehre tätig war oder als Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, ob als Bischof von Aachen, als Vorsitzender der Kommission für geistliche Berufe der deutschen Bischofskonferenz, oder als Mitglied des Rates der Bischofsynode in Rom, oder einfach in so unendlich vielen Begegnungen als Mensch Klaus auf Mensch Du hin.

Eines gab er nie auf: Seine bewohnbare Vision von der Einheit, von dieser großen Stadt, die entsteht von oben nicht ohne das Unten und von unten nicht ohne das Oben. Wie oft jedoch auch spürte er seine Grenzen. Ob in der Verwaltung unseres Bistums oder an den Gräben zwischen Kirche und Gesellschaft, ob es der oft fast nicht mehr seiende seidende Faden des Gemeinsamen in der Bischofskonferenz war oder die Unvermittelbarkeit vieler kirchlicher Gesetzmäßigkeiten in unsere Gesellschaft hinein.

Vielleicht waren das die Augenblicke, an denen er sich an sein Klavier setzte, Mozart, Bach und Beethoven spielte. Sicherlich waren es aber auch jene Augenblicke, in denen er betete „Omnes unum …“, sicherlich waren es auch die Augenblicke, in denen er sich von Menschen verabschiedete, mit denen er um Einheit rang und diese, wenn auch noch nicht gefunden, er sie aber mit unsichtbarer Tinte in seine Visionen geschrieben hatte, die jedoch so unendlich zerbrechlich an der Realität wurden, und er sich dann nochmals verabschiedend zu den Menschen umschaute und winkte in seiner unverwechselbaren Art.

Seine Kraft und sein Motiv blieben, zu geben, was ihm gegeben wurde; Gott und sich selbst, diesen Gott im Dialog, im gemeinsamen Augenblick, in Weggemeinschaft auf dem Erlebnishintergrund einer sich real darstellenden Gesellschaft und des Seins der menschlichen Existenz.

Bischof Klaus wusste um die Menschen unserer Gesellschaft, er wusste um die Lebenssituationen, um die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen in seinem Bistum, auch wenn er teilweise das Leben einer „very important person“ führen musste. Diese Menschen, um die er wusste, erlebte er als Menschen, die eine Ahnung von Gott aus ihrem Leben noch nicht evakuiert haben, auch wenn sie oft binnenkirchlich als Gottesdienstbesucherinnen und -besucher nicht zählbar waren oder sogar offen gegen die Institution Kirche auftraten. In einem seiner ca. 30 Bücher, das 1975 unter dem Titel: „Theologie als Nachfolge – Bonaventura ein Weg für Heute“ erschienen ist, gab er seiner Ahnung von der Ahnung des Menschen wie folgt Ausdruck: „Als die heilige Klara vor Franziskus trat und er sie fragte, was sie von ihm begehre, soll sie mit einem einzigen Wort geantwortet haben, mit dem Wort: Gott. Wenn der Mensch von Heute mit mancherlei Fragen, Anklagen, Provokationen vor die Kirche, vor die Theologie, vor den gläubigen Christen hintritt und wenn man hindurchhört auf das, worum es in solchen Fragen, Anklagen und Provokationen zutiefst geht, dann trifft wiederum kein anderes Wort als dieses selbe: Gott. Dem ersten Augenschein nach mag dies eine verwegene Behauptung sein. Sagen nicht viele, dass ihnen das Wort Gottes gerade nichts mehr sagt? Wird es nicht Hülse ohne einen Inhalt, den der Mensch in seinem Leben verifizieren könnte? Müsste man nicht eher formulieren: dem Menschen von Heute gehe es um die Zukunft, um die glaubwürdige Gestalt des Menschseins, um Identität, um Ursprünglichkeit, um das, was man den Sinn des Lebens nennt? Und doch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass christliche Antworten, die sich um die letzte Eindeutigkeit des Bekenntnisses herumdrücken, Antworten, die nicht durchstoßen zum befremdlich eigenen und eigentlichen des Glaubens, (diese halbherzigen Antworten) nur zum Anlass werden, sich enttäuscht von denen abzuwenden, die im Grunde doch nichts anderes anzubieten haben als ungezählte Analysen, Heilslehren, Versuche und Entwürfe sonst auch. Kirche und Theologie – und genau genommen jeder Christ – sind gefordert, Gott, nichts weniger als ihn, glaubhaft, verständlich und lebendig werden zu lassen.“ Die von der Ahnung um das Göttliche angehauchten Facetten menschlichen Lebens gilt es im gemeinschaftlichen Leben zu entfalten auf den hinter der Ahnung sich selbst aushauchenden Gott, der Atem menschlichen Lebens sein möchte.

Entfalten lassen sich diese Ahnungen um das Göttliche nur auf dem Boden der Ursprünglichkeit des Evangeliums.

Der heilige Franz, der im 13. Jahrhundert den Menschen seiner Zeit, die wie selbstverständlich christlich geprägt waren und das Evangelium gesellschaftsfähig im Gepäck hatten, dieser heilige Franz trug diesen Menschen die Ursprünglichkeit des Evangeliums tanzend, singend, erzählend neu in ihr Leben. Franz ist für Bischof Klaus ein Weg für heute „Um das, was Franz von Assisi der damaligen Tradition gegenüber an Neuem und ursprünglich Altem darstellte, geht es auch heute: Nur der unselbstverständliche Urtext des Evangeliums, zugleich aber auch die neueste und radikalste Übersetzung dieses Urtextes holen die Geschichte der Verdrängung und des Vergessen Gottes in der Neuzeit auf. Der Mensch sucht heute wieder nach Ursprünglichkeit. Er hat sich, neuzeitlich, selbst zum Ursprung seiner Welt gemacht in Wissenschaft, Technik, Philosophie und Konstruktion der Gesellschaft. Nun ist er der von sich selbst verplante, der in seinen eigenen Ansatz verstrickte und verfangene, der von sich selbst um seine Freiheit Betrogene geworden. Heute will er den Ursprung, der er ist und doch nicht mehr ist, wiederhaben – und er ahnt zumindest, dass er diesen Ursprung nur dann hat, wenn er nicht nur sich als Ursprung, sondern die reine, unverfügbare Ursprünglichkeit, christlich gesprochen: wenn er Gott erfährt und empfängt.

Die Sprache, in der heute gefragt und verstanden wird, ist eine andere als die des 13. Jahr- hunderts, das Wort, nachdem diese Sprache fragt und das sie selbst wieder sprechend werden lässt, ist dasselbe: „Gott“

Die Bedeutung des Heiligen Franziskus verdichtet Bischof Klaus auch für heute in einem Bild wie folgt: „In ihm sind die geheiligten Worte wieder als lebendige Worte erfahrbar, in ihm fällt der Stein, der die Spitze eines ragenden Gewölbes ziert, wieder auf den Erdboden und wird zum Grundstein, auf dem sich gegenwärtiges, alltägliches Leben bauen lässt.“ 1 Klaus Hemmerle konnte in seinem vom Leben geerdeten Sprechen diese Ursprünglichkeit des Evangeliums wieder ins Wort setzen. So sprengte er das altvertraute Evangelium in seinen Worten zu seiner Ursprünglichkeit auf.

Ich möchte Sie nun einladen, einen zumindest so scheinenden kleinen Sprung zu machen. Einen Sprung zu zwei anderen Theologen der Kirchengeschichte: Thomas von Aquin und Bonaventura. Unter dem Stichwort “ Zwei Weisen von Integration“ sagt Bischof Klaus über Thomas von Aquin: „Faszinierend ist an Thomas die Fähigkeit, aus verschiedenen Positionen Wesentliches für die eigene fruchtbar zu machen, und beinahe noch mehr das Vermögen, sich auf verschiedene Gangarten und Ansätze des Denkens so einzupendeln, dass dabei das Eigene seines Partners zur Geltung, zugleich aber im Gespräch zu einer Integration in einem je weiteren Horizont kommt.“

Und nach dem Motto das kann Bonaventura zwar nicht dafür aber was anderes schreibt er weiter:

„Bonaventura gelingt das gewiss nicht weniger erstaunliche die verschiedene Sachbereiche durchgreifende polare Spannungen aufzudecken und zu vermitteln, (…). An dieser Stelle mögen knappe Hinweise genügen: Das Werk des Bonaventura im ganzen darf gelten als Vermittlung zwischen Rationalität und Mystik, zwischen Ansatz bei Gott allein und Ansatz bei der existentiellen Situation, zwischen schlichter Nachfolge und ins äußerste vorgetriebener Reflexion, zwischen getreu übernommener Tradition und der Kühnheit eigenen Entwurfs, zwischen ‚objektiv‘ expliziertem Glaubensinhalt und ’subjektivem‘ Glaubensvollzug, zwischen Metaphysik und Heilsgeschichte.“

Konnte Klaus Hemmerle das alte so vertraute Evangelium in seinem Leben und seinen Worten nicht erst dadurch zu seiner Ursprünglichkeit aufbrechen lassen, weil er die Fähigkeit besaß in diesem Punkt das Erbe Bonaventuras und Thomas gleichermaßen anzutreten. Verinnerlichte Klaus nicht das faszinierende des Aquinaten durch das bereichernde Eigene zu einem „Hemmerle“, der das Eigene in das Licht des Eigenen eines je anderen Menschen stellte? Gemeinsam fragend, suchend und so hoffend um Einheit und so in der Integration einen je weiteren Horizont beschreitend (da wo es von allen gewollt auch gelingen konnte). Ist die Weise wie Hemmerle diesen Weg, diese Weggemeinschaft geht nicht beschrieben in dem Wort von Hölderlin „vieles hat Erfahren der Mensch seid ein Gespräch wir sind?“

Ist es nicht auch der selbe Hemmerle der das integrative Talent von Bonaventura nochmals zu seinem je eigenen, dem „Hemmerletypischen“ macht. So stimmt doch für Klaus selbst, dass, was er Bonaventura postuliert: durchgreifende polare Spannungen zu vermitteln zwischen Rationalität und Mystik, zwischen Ansatz bei Gott allein und Ansatz bei der existentiellen Situation, zwischen schlichter Nachfolge und ins äußerste vorgetriebene Reflexion, zwischen je treu übernommener Tradition und der Kühnheit eigenen Entwurfs.

Ist diese Gabe nicht verdichtet im tiefsten Sinne des Wortes in dem Ostergruß, den er 1993 Menschen seines Bistums wünschte:

Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Tod bis zum Leben,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Herrlichkeit,
im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im Ich bis zum Du zu sehen vermögen.

Mit solchen Augen können nur Menschen sehen, die die Fixierung verlassen und Perspektiven in den Blick nehmen. Die bewegt sehen können, selbst das was am weitesten voneinander entfernt scheint „im Menschen bis zu Gott“ und alles umgreifend, untrennbar zusammen, ineinanderstehend „in Gott bis zum Menschen“!

Bewegt sehende Menschen sind Wegmenschen. Die Einladung: Bewegte, Wegmenschen zu sein, drückt Bischof Klaus in seiner ersten Predigt im Aachener Dom, anlässlich seiner Bischofsweihe am 08. November 1975, so aus: „Die Gemeinschaft ist die Aufgabe die ich vor mir sehe. Aber diese Gemeinschaft ist nicht nur eine Aufgabe. Diese Gemeinschaft ist schon jetzt eine Erfahrung in diesem Gottesdienst. Ich hoffe, wir haben sie alle gespürt. Und wir sind nicht nur die Summe vieler Einzelner, von denen jeder seine Ideen im Kopf hat, und dann addieren wir uns unter einen gemeinsamen Nenner, sondern wir sind verbunden. Und was uns verbindet, ist mehr als die Woge der Bewegung oder der Begeisterung, die hier so schön genährt ist durch diesen einmaligen herrlichen Raum, durch diese schöne Liturgie, durch diese wunderbare Musik. Aber was uns hier bewegt und verbindet ist etwas tieferes für das alle Schönheit und aller Glanz nur ein äußerer Ausdruck sein können. Ich möchte sagen, es ist die Gabe aller Gaben, es ist die Gabe des göttlichen Lebens selbst. Gott hat uns alles gegeben, was er hat. Er hat uns sein eigenes Leben gegeben, damit wir dieses Leben miteinander leben. Und dieses Leben ist jene göttliche Einheit von Vater und Sohn im heiligen Geist. Nur wenn wir so leben wie der Vater und der Sohn im heiligen Geist, nur wenn wir das Leben Gottes leben, nur dann haben wir das Maß unseres Christseins erfüllt. Und nur dann, wenn wir dieses tun, werden wir auch zur Antwort werden in dieser Zeit, zur Antwort an die Menschen, die herauswollen aus ihrer Vereinzelung, die herauswollen aus der Angst, dass sie nur an den Rand Gedrängte sind, die herauswollen aus diesem Silbenrätsel der Welt in dieses eine Wort, in dem sie geborgen sind, in dem sie sich verstehen können, in dem sie einander verstehen können. Und dieses eine Wort ist das göttliche Leben, dass uns erschlossen ist in Jesus Christus, der uns Anteil gegeben hat an seinem Verhältnis zum Vater.“

In der selben Predigt sagt Bischof Klaus an anderer Stelle: „Aber das soll kein Programm sein, denn mit Programmen fahren wir nicht gut. Es soll ein Leben sein, und deswegen muss ich mich unter dieses ‚Programm‘ stellen. Ich muss selber damit anfangen, diese Einheit zu leben. Und da bin ich darauf angewiesen, dass sie alle, meine Schwestern und Brüder, mir helfen, das wir das miteinander tun.“

Wir wissen heute, dass dies wirklich kein Programm war, das es zu veranstalten galt, es war kein Programm von Satzwahrheiten, es war schlicht und ergreifend ein Weg, sein Weg indem er seinen Glauben und sein Leben im Unterwegssein mitteilte. = Nachfolge!

Zur Nachfolge schreibt Bischof Klaus in seinem Buch über Bonaventura „Nachfolge (…) hat Wegcharakter, und das spezifische des Weges der Nachfolge ist, dass er ein Weg, aber Weg aus doppeltem Ursprung ist, Weg, der einzig und allein geprägt ist durch den, der vorgeht, Weg, der jedoch gerade so auch den spontanen und eigenen Weg dessen ausmacht, der nachfolgt.“

Weggemeinschaft war der Ort des Lebens unseres Bischofs und nicht erst in den letzten zehn Jahren in unserem Bistum. Zu diesem Thema möchte ich in diesem Vortrag zum letzten Mal Bischof Klaus selbst sprechen lassen. Als er in einem Vortrag am 25. April 1990 der Frage nachgeht, worin Weggemeinschaft theologisch für ihn begründet war. Hier der Grundgedanke:

„Wenn ich Rechenschaft geben soll, worin Weggemeinschaft theologisch gründet, dann kommt mir oft ein Bild vor Augen. Gott wohnt zwar in einem Haus, aber er ist zugleich auch Nomade. Gott hat durchaus einen Ort: „Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (Joh. 14,2). Er wird uns stets aufnehmen, und wir können immer zu ihm gelangen, denn er selbst öffnet uns sein Haus. Aber Gott beschränkt sich nicht darauf, ein Haus zu bewohnen; er bricht mit uns auf und ist unterwegs, wo immer Menschen auf dem Wege sind. Gerade dies ist aber eine grundlegende Ortsbestimmung: Jahwe selbst bereitet die Wege, um das bedeutsamste und wirkmächtigste Ereignis der Weltgeschichte anzubahnen – Gott selber hat sich ein für allemal unwiderruflich in allen menschlichen Wegen auf den Weg gemacht. Er selber ist auf dem Weg eines Menschenlebens alle Menschenwege mitgegangen. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“, formuliert die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (GS 22). Dass einer den Weg der Vielen sich zu eigen machte und mit einem jeden Menschen mitging, ist das entscheidende Heilsereignis in Jesus Christus. So stehen wir als Christen vor dem unbedingten Anspruch, jeden Menschen erfahren zu lassen, dass er nicht allein ist, sondern dass jemand mit ihm auf dem Weg ist. Dies kann aber nur geschehen, wenn wir selber uns mit anderen auf den Weg machen. Dieses Mitgehen ist der Dank und die schuldige Antwort gegenüber jenem, der uns Weggeleit geschenkt hat. Kirche, welche als wanderndes Gottesvolk auf dem Wege ist, wird so zu einem Raum, in dem kein Mensch allein gehen muss – weder jene, die zur Kirche gehören, noch jene, die ihr fern stehen“.

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen setzt er den Gedanken faszinierend eindeutig, stringent und so ungeahnt einfach um:

„Was können wir von Kindern im Blick auf das Thema der Weggemeinschaft lernen? Kinder lehren uns gehen: Die Weise, wie sie zu gehen beginnen, ist zugleich Herausforderung zum Mitgehen; sie laden ein, sie zu begleiten durch ein Weggeleit, das sie aber nicht gängelt, sondern freigibt, ohne sie freilich allein zu lassen.

Was lernt das Kind selbst in seinem Gehen? Was können wir an diesem Selbsterlernen des Kindes ablesen? Das Kind lernt das Ich, es lernt das Du, und es lernt das Wir.

Das Kind lernt, indem es selbst geht und sich selbst in Kommunikation auf den Mitmenschen hin, auf andere und anderes zu bewegt. Solches Gehen geschieht als Mitteilung, als Geschenk, um auf diese Weise in das Wir hineinzuwachsen. Das Miteinander und Aufeinander zu, das dem anderen das Selbergehen gönnt und ihn nicht gängelt, ist eine fundamentale Form, wie Subjektwerdung geschieht.“

Was das Gehen eines Kindes und die Weggemeinschaft gleichermaßen bezeichnet, da und nicht nur da, hat unser Bischof die Kinder gut verstanden und ich glaube, Kinder haben unseren Bischof zwar nicht immer verstanden was die Worte angeht, aber begriffen.

Ob ich ihn verstanden habe weiß ich nicht genau, aber eines weiß ich:

Als ich im Krankenhaus unseren Bischof besuchte, und er sehr viel aus seiner persönlichen Geschichte, seinem Erleben mir erzählte nahm er das Bild eines Menschen aus seinem Nachttisch, zeigte es mir und erzählte welche Wichtigkeit dieser Mensch für ihn hatte. Da spürte ich, er hatte mich begriffen!

Ihn, unseren Bischof begreifen, bedeutet zu verstehen das er begreifen wollte. Ihn, unseren Bischof begreifen, bedeutet so glaube ich weiter: Ihn, dem Herrn gemeinsam folgend, den je eigenen Weg miteinander, im Aufeinander zu zugehen um so ihm, dem Herrn, entgegenzugehen.

„Seine“ letzte Veröffentlichung, die die Vorträge von 1991 enthält, welche er in Kärnten bei den St. Georgener Gesprächen gehalten hat, konnte Bischof Klaus nicht mehr selbst herausgeben. Nicht einmal mehr ganz für die Veröffentlichung überarbeiten.

Peter Blettler, sein Bischofskaplan hat diese letzte Veröffentlichung auf den Weg gebracht und herausgegeben unter den Titel: „Leben aus der Einheit“. In seinem Vorwort schreibt Peter Blettler: „Der Buchtitel Leben aus der Einheit verspricht auf den ersten Blick nicht, etwas Neues von Klaus Hemmerle zu erfahren. Oft genug hat er bei vielen Gelegenheiten gerade über dieses Thema gesprochen oder geschrieben.“

Wenn ich die Frage nach dem Verstehen, besser die Frage des Begreifens wie eingangs erwähnt hier nochmals stelle, dann weil ich meine das Peter Blettler die Antwort sehr einfach am Schluss seines Vorwortes formuliert hat:

„Nehmen wir dieses Buch darum dankbar als seine Ermutigung und Einladung zu einem Leben aus der Einheit. Dann ist es ein neues und aktuelles Buch von Bischof Klaus Hemmerle.“

Dies, so glaube ich, ist der einzige Weg, der auch dem Leben von Bischof Klaus am gerechtesten wird, der einzige Weg ihn zu begreifen, zu versuchen, zu tun was auch er versuchte in seinem Leben zu tun: „In Menschen bis zu Gott und in Gott bis zum Menschen zu sehen zu vermögen“.

Das große Geheimnis der Einheit, seine bewohnbare Vision von Gottes Zelt auf Erden ist das große Geheimnis, das Bischof Klaus in seinem Leben erfahrbar und greifbar werden lassen wollte.

Oder nochmals ganz einfach auf Gott und in gleicher Weise auf dem Menschen hin gesagt:

Ich lege meine „Zeit“ (Zeit mehr als reine Zeit) in Deine Hände, damit sie unsere „Zeit“ wird!

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Ansprache anlässlich des 55. Jahrestages der „Reichspogromnacht“

Auf dem Aachener Rathausplatz, 1993

Wie soll ich Sie, wie sollen wir uns anreden, heute, anlässlich des 55. Jahrestages der Pogrome gegen Jüdinnen und Juden?

Ich habe mich für die Anrede entschieden, die das Wesentlichste, das Grundsätzlichste, das Verbindendste und das Zärtlichste beinhaltet, das allen hier zu eigen ist: Du Mensch!

Für mich klingt in diesen einfachen Worten uneingeschränkte Würde, Persönlichkeit, Individualität sowie Selbstverwirklichung, aber auch Sehnsucht nach Sinn, nach Gemeinschaft, nach Geborgenheit, nach Liebe, Sehnsucht, nach dem, was uns selbst noch einmal übersteigt, egal, wie wir es nennen wollen. Sie werden in dem Klang dieses Wortes „Du Mensch“ sich selbst erkennen und sagen: „selbstverständlich, ja, das bin auch ich.“

Sind das zu seichte Worte, das Selbstverständliche zu banal anlässlich des 55. Jahrestages der Pogrome gegen Jüdinnen und Juden? In dieser Nacht, in der auch die Synagoge von Aachen gebrannt hat? – Nein –

„Du Mensch“, ja das bin ich auch, selbstverständlich.

Tausende, Millionen von Menschen fühlten, spürten und wussten: Das bin ich auch.

Diesen Tausenden und Millionen von Menschen ist im Wahnsinn der NS Diktatur gerade das Selbstverständliche genommen worden, wegen ihres Glaubens, ihrer Volkszugehörigkeit, ihrer Meinung, ihrer Art zu leben. Menschen wurden verdächtigt, verfolgt, gefangen genommen, gefoltert, ermordet, tausendfach, millionenfach. Ein ganzes Volk, Jüdinnen und Juden, freigegeben zum Mord. Beraubt um das Selbstverständlichste. „Du Mensch“ ermordet. Hier in Deutschland und von Deutschen – nicht nur hier.

Ich mit meinen 36 Lebensjahren kann das nicht verstehen, doch es ist ein Teil auch meiner Geschichte, der Geschichte des deutschen Volkes und auch der Geschichte der christlichen Kirchen, in der zu dieser Zeit zu viele Christinnen und Christen zu lange geschwiegen und weggeschaut haben.

Doch ich kann und will den Augenblick nicht vergessen, an dem ich vor drei Jahren im KZ in Dachau stand, um den Barackenblock sehen zu wollen, in dem mein Familienmitglied mütterlicherseits, Christoph Hackethal, Priester, die letzten Stunden seines Lebens verbracht hat, bevor er ermordet wurde. Bei seinen Predigten saß die Gestapo stets in der letzten Reihe. Er hat nicht geschwiegen er wurde zum Schweigen gebracht. Er war nicht der einzige. Auch jene Frauen und Männer dürfen wir nicht vergessen, die nicht geschwiegen haben.

Und wieder finden wir hier in Deutschland Parolen wie Ausländer raus, Deutschland den Deutschen, werden Hakenkreuze an Wände geschmiert. Menschen werden in Deutschland wegen ihrer Hautfarbe, Nationalität oder Religion benachteiligt, angepöbelt, ausgegrenzt und verfolgt.

Menschen aus anderen Völkern und Nationen, die bei uns Zuflucht suchen, die das Selbstverständlichste bei uns erhoffen. Aus ihren Reihen wurden Menschen ermordet, verbrannt.

Es ist immer noch nicht in allen menschlichen Herzen und in allen Köpfen der Menschen verankert, dass dieses Land auch uns nur geliehen ist, es gehört nicht einfach einem Volk.

Ich bekenne mich zu meinem Glauben an Gott und freue mich dessen und das Bekenntnis zu Gott ist ein Bekenntnis zu dem Geschenk Mensch und ein Bekenntnis zu einer uns allen anvertrauten Erde, ein den Menschen geliehenes Land.

  • Menschen, die verfolgt werden, müssen wissen, in diesem Land sind wir willkommen, sind wir sicher, zählt das Menschsein.
  • Menschen anderer Völker und Nationen, die in diesem Land leben, haben das Recht, sich als politische, kulturelle, soziale, religiöse und individuelle Menschen einzubringen, wie Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch, auch auf dem selben Hintergrund uneingeschränkter Menschenwürde.
  • Wir dürfen nicht vergessen: Jeder Mensch ist Reichtum und von unschätzbarem Wert!
  • Eine Politik ist den Begriff „sozial“ nicht wert, wenn sie als notwendiges Übel in Kauf nimmt, dass immer mehr Menschen in die absolute Armut abrutschen.
  • Wo Menschen in Gefahr sind, wo menschliches Leben bedroht ist, ist unser Aufschrei unverzichtbar, unsere Sorge für den Menschen gerufen, unser Handeln zutiefst aus unserem Menschsein heraus gefordert.

Politisches und gesellschaftliches Handeln hat ein unabdingbares Maß: den Dienst an allen Menschen, keinen Menschen zurücklassen könnend. Hierfür gilt es, die Stimme zu erheben, als Menschen, als Christen und Christinnen einzustehen, mit Würde für die Würde gerade zu stehen.

Gute Politik misst sich nicht am Reichtum einzelner, sondern am Wohlergehen aller.

Die Gesellschaft aller hier in Deutschland lebenden Menschen würde um vieles reicher, wenn nicht Quantität des Besitzens Ansehen steigern würde, sondern die Qualität der Menschlichkeit das Ansehen der Menschen bestimmen würde.

Jede Gruppierung, jeder Mensch, jeder Einzelne von uns ist aufgerufen, sich mit seinem eigenen Menschsein ernst zu nehmen, um so das Menschsein des anderen gleichermaßen ohne Angst zu schätzen und zu schützen. Denn nur so wird das Selbstverständliche uneingeschränkt wieder selbstverständlich:

„Du Mensch“, keine Ausnahme kennend.

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Demo

Aus einer Einladung zur Fronleichnamsprozession

Bekannter ist diese Demo unter dem Begriff Fronleichnamsprozession; aber es ist eine Demo (demonstrare = auf etwas zeigen), die auf Christus zeigt; demonstrieren für unseren Glauben, für Christus in unserer Mitte – Fronleichnamsprozession!

Hier verlassen Christen den geschützten Raum des Kirchengebäudes, um in aller Öffentlichkeit auf den zu zeigen an dem sie ihr Leben zu orientieren versuchen. Keine „Demo“ von perfekten, alles im Griff habenden Menschen, sondern ein auf-Christus-zeigen von Menschen, die auch um ihre Unfähigkeiten wissen, bewusst auf dem Weg als Kirche sind und zum Mitgehen ermutigen wollen. Dieses Miteinander-auf-dem-Weg-sein-wollen kann sich aber nicht nur in dem oft „gestammelten“ Bekenntnis der Christen ausdrücken, sondern dieses Christus-feiern muss sich auch widerspiegeln im Miteinander von uns selbst feiern.

In der Art, wie wir uns begegnen, annehmen, aneinander interessieren und untereinander respektieren. So möchten wir das auf Christus-zeigen in der Prozession weiterführen zu einem Aufeinanderschauen in dem anschließenden Gemeindefest.

Aus der Einladung zur Fronleichnamsprozession 1991 in Schleiden in der Eifel

Aus „Damit Jesus die Mitte bleibt – Auf der Suche nach religösem Profil“ aus der Reihe Themenhefte Gemeindearbeit, 3. Quartal 1991, hrsg. vom Bergmoser + Höller Verlag.
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Damit Jesus die Mitte bleibt

1. Der Stachel im Fleisch der Kirche

Christengemeinden sind benannt nach Jesus Christus. Was das heißt, verdeutlicht Paulus der Gemeinde von Philippi mit großer Eindringlichkeit: „Vor allem: lebt als Gemeinde so, wie es dem Evangelium Christi entspricht. Ob ich komme und euch sehe oder ob ich fern bin, ich möchte hören, daß ihr in dem einen Geist feststeht, einmütig für den Glauben an das Evangelium kämpft und euch in keinem Fall von euren Gegnern einschüchtern laßt“ (Phil 1,27 f.).

Ist das nicht eine „Parole“, die sich nun schon über 1940 Jahre die Gemeinden in der ganzen Weit in immer neuen Schüben anzueignen versuchen? Denn immer wieder gibt es das Zurücksinken hinter den übergroßen Anspruch. Aber da sind diese Paulus-Worte, die das nicht zulassen. Plötzlich wird es für eine Gemeinde wieder existentiell wichtig den Geist Jesu in sein Recht einzusetzen. Paulus darf wieder den Weg weisen, wie damals in seinem ersten Brief an die Thessalonicher: Achtet die, die euch im Namen des Herrn leiten, haltet Frieden, sorgt für ein geordnetes Leben, macht den Ängstlichen Mut, stellt euch auf die Seite der Schwachen und übt euch in Geduld, vermeidet, dass einer Böses mit Bösem vergilt, sucht das Gute und tut es untereinander; ja sei gut zu allen, freut euch, betet, ohne müde zu werden; dankt –Gott möchte euren Dank, erstickt nicht den Geist, deutet die Zeichen für die Zukunft, lehnt nichts gleich ab, sondern prüft alles und behaltet das Gute, und nehmt euch in Acht vor dem Bösen (vgl. 1 Thess 5,12 ff.).

Damals wie heute werden diese Bibelworte und ähnliche Aufforderungen der Heiligen Schrift den aufmerksamen Gottesdienstbesuchern, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise, zu Gehör gebracht. Kaum eine Publikation zu Gemeindeaufbau und Gemeindeleben kann auf diese und sinnverwandte Zitate der Überlieferung verzichten.

Es sind ja nun nicht Worte, die den Gemeindemitgliedern aufgepfropft werden – es ist die Sehnsucht ungezählter Menschen auf dem Weg Jesu ein mit Sinn geordnetes und erfülltes Leben zu finden. Sie suchen Frieden mit sich, mit den Menschen, mit Gott. Gerade in den unterdrückten Völkern, in den Menschen, die ihrem Glauben an Gott keinerlei Ausdrucksformen geben durften, sprudelt nun – vom erdrückenden Zwang befreit oder sich selbst befreiend – religiöse Identität hervor. Da ist der Wunsch zum „ich glaube an Gott, ich feiere meinen Gott“ ganz stark. Die Sehnsucht lebendig zu sein und nicht vom Alltag sich begraben zu wissen, lieben zu dürfen, begeistert zu sein, sich zu freuen …. diese Sehnsucht lebt und lebte in fast jedem Menschen, sicherlich unterschiedlich stark, in welcher Zeitepoche auch immer.

Diese allgemeine Sehnsucht immer besser in Christus zu orten, ist ein „Dauerauftrag“ der christlichen Gemeinde, denn sie weiß von den menschlichen Lebenswünschen, wo sie eine Heimat finden können: Wir sind so gemacht, „daß wir durch Jesus Christus das Heil erlangen“ (1 Thess 5,10). In Christus finden wir „ewigen Trost und sichere Hoffnung“ (2 Thess 2,16).

Diese Worte Gottes, durch Jesus Christus geoffenbart und von Menschen überliefert, von Gemeinde zu Gemeinde weitergesagt, in der Gemeinde gehört, treffen unser Leben wie das Leben der Menschen unserer Zeit, die schon zu hören gelernt haben.

2. Vielfalt aus dem Ursprung Jesu

Das Wort des Herrn hat aber in den letzten zwei christlichen Jahrtausenden die unterschiedlichsten Gemeindeformen, Gemeindestrukturen, Gemeindeidentitäten und Gemeindeaktivitäten hervorgebracht, obwohl keine Gemeinde zu keiner Zeit je von sich behauptet hätte nicht aus dem Grundfundament der Heiligen Schrift hervorgegangen zu sein und aus ihr zu leben. Dies unbeschadet der Tatsache, dass gemeindeinterne wie von außen kommende Kritik immer wieder die Richtigkeit gemeindlichen (und auch kirchlichen) Handelns und dementsprechend ihre Worttreue bezweifelt.

2.1 … ein Filmausschnitt

Wenn die eigene Erfahrung aus Altersgründen auch nicht reichen mag, so wird uns doch manchmal in älteren Filmen ein Bild von Gemeinde in die Wohnzimmer geliefert, wie es vor ca. 80 Jahren etwa gewesen sein mag und in geschichtlichen Reststücken hie und da noch ist: eine lammfromme Gemeinde, wohlgeordnet und nach strengen Regeln eingeteilt, im persönlichen Gebet einer meist unverstandenen Liturgie folgend, sie aber penibel genau schätzend. Begriffe wie Mildtätigkeit, Keuschheit und Ergebenheit (letzteres auf Gott und den Pastor bezogen) wurden großgeschrieben und bei Respektierung auch dementsprechend honoriert. Nichtbeachtung freilich wurde mit einem Quentchen mehr an Härte bestraft, im Vergleich zum Lohn bei Einhaltung.

Über einen solchen „Filmausschnitt“ hinaus gehörte doch schon mehr zum damaligen Gemeindeleben. Klaren Regeln entsprechend, gab es natürlich oft recht lebendige Bünde wie den Frauenbund, Männerbund, die Jungfrauenkongregation und den Bund der Jungmänner. Auch prägten, streng nach Geschlecht getrennt, Mädchen- und Jungen-Gemeinschaften, später Frohschar genannt, das Bild einer Gemeinde. Nicht fehlen durfte natürlich der Kirchenchor, der Kirchbauverein sowie der Paramentenverein. Last but not least gehörten zu einer damaligen Gemeinde eine Fülle von“Frömmigkeitsvereinigungen“, die meistens im Zeichen der Marienverehrung standen oder sich der oft ortsverbundenen Heiligenverehrung verschrieben. Diese Verehrungen fanden ihren sichtbaren Niederschlag in Andachten, Wallfahrten, eucharistischen Anbetungen; obenan aber ist sicherlich das Rosenkranzgebet zu stellen.

Die von einer starken Volksfrömmigkeit geprägten Gemeinden pflegten mit Hingabe die liturgischen Feste ihrer Patronats- und Lokalheiligen, tradierten die Fronleichnamsprozession, Wetter-, Dank- und Bittprozessionen und die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu, beherzigten eine hingebungsvolle, manchmal auch engstirnige Treue zum Sakramentenempfang und bedienten sich überdies einer Vielzahl von Sakramentalien wie Ein- und Aussegnungen. Bei aller strengen Wertschätzung der Feste des Kirchenjahres darf aber nicht verschwiegen werden, dass so manches kirchliche Fest einen recht ausgelassenen weltlichen Ausklang fand.

Ganz in der Obhut des Pfarrers (oder des Kaplans/Vikars) befand sich die katechetische Unterweisung der Kinder, die Bibelstunde sowie die Christenlehre und vielerorts auch der Religionsunterricht. Daneben sollte man aber auch nicht übersehen, dass viele Frömmigkeitsübungen und auch biblische Unterweisungen im Kreise der Familie stattfanden.

Wenn diese meist gottesdienstlich ausgerichteten oder der seelischen Ertüchtigung und Erbauung dienenden Elemente fast ausschließlich auf die Territorialgemeinde bezogen waren, so gab es doch auch Bewegung, die diesen Raum sprengten. Erwähnt sei hier die um die Jahrhundertwende entstandene Jugendbewegung, die Front machte gegen das enge Denken der damaligen Zeit (besonders des Bürgertums) sowie des zeitbedingten Materialismus. Für diese Begegnung begeisterten sich ideal gesinnte junge Menschen, die z. B. Abstinenz von Alkohol und Tabak übten als äußeres Zeichen innerer Freiheit. Der „Zupfgeigenhansel“, ein weit verbreitetes Liederbuch, dokumentiert den Geist dieses Aufbruchs. Die Jugendbewegung in ihrer christlichen Variante (Burg Rothenfels) veränderte auch das Frömmigkeitsklima in unseren Gemeinden. Plötzlich wurde das süßliche 19. Jahrhundert abgelehnt, und herbere Formen der Frömmigkeit fanden Anklang. Das mit Begeisterung begangene „Christkönigsfest“ geriet zum Ausdruck eines neuen religiösen Lebensgefühls, das anstelle der vielen sekundären Kulte wieder „Christozentrik“ wollte.

2.2 Und heute?

Ein flüchtiger „Filmausschnitt“! Er genügt, um festzustellen, wieviel sich seither in unseren Gemeinden verändert hat. Der religiöse Stil ist ein anderer; die Tätigkeitsfelder der Gemeinde haben sich verändert (verschoben?) und erweitert.

Sich auf dieselbe Heilige Schrift berufend hat die Gemeinde ihr Dasein verändert und sich mit Blick auf die stetig sich wandelnde Lage der Menschen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erneuert. Anknüpfend an die eben erwähnte Jugendbewegung mit ihrer Kraft zur „Renovation“ und damit zur Veränderung darf der Name Romano Guardini genannt werden, der nicht nur für die liturgische Erneuerung steht, sondern sehr weitgreifend für Erneuerung der Kirche und somit auch der Gemeinde anzuerkennen ist und seine Spuren hinterlässt bis in die Wegbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Nun ist das Stichwort für Veränderung in unseren Gemeinden gefallen: Das Zweite Vatikanische Konzil, der Atem Papst Johannes XXIII. und seine Fortführung durch Papst Paul VI.

Ohne hier näher auf das Zweite Vatikanische Konzil einzugehen – es ist uns allen vertraut – bleibt es doch unbestritten eine Zäsur im Leben unserer Gemeinden: Der jüngste, elementarste Grund der Veränderung. Egal wie das Faktum des Zweiten Vatikanischen Konzils und der ihm folgenden Synoden eingeordnet wird, es hat Bewegung und Erneuerung in jede Gemeinde hineingetragen. Stichworte wie Dialog, Ökumene, Verantwortung für die Weit, Beteiligung der Laien, gemeinsames Priestertum, Volk Gottes, Kirche auf dem Weg u.v.m. haben Glanz gewonnen (auch wenn sie nicht überall glänzen dürfen). Leider sind die Impulse und Veränderungen, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil ausgegangen sind, nicht in jeder Gemeinde unseres Sprachraumes gleichermaßen angekommen und eingebunden worden, doch gibt es kaum eine Gemeinde, die gänzlich unberührt von dem frischen Wind des Konzils geblieben ist.

Am schnellsten und sichtbarsten hat die liturgische Erneuerung Einzug in unsere Gotteshäuser und unsere Gottesdienste gehalten, was bis heute mancherorts unverstanden ist, ja sogar abgelehnt wird.

Mit dieser Erneuerung, aber nicht zwangsläufig aus ihr hervorgehend, haben manche Gottesdienstformen, wie z. B. Andachten, an Boden eingebüßt. Eine scheinbare Entmystifizierung unserer Gottesdienste und ihre sinnvolle Entfrachtung von Frömmigkeitsballast ist nicht von jedem bejubelt worden, aber in jeder Gemeinde ein sichtbarer Beleg des Aufbruchs: Heraus aus sinnentleerten und erstarrten gottesdienstlichen Mechanismen, hinein in Gottesdienstformen, die die Möglichkeit in sich bergen, das konkrete Leben der Gläubigen aufzugreifen; ein Dienst an Gott und den Menschen, der gut tut und heilt.

Doch nicht nur im Bereich der Liturgie hat sich etwas gewandelt; das ganze Gemeindeleben hat ein erneuertes Gesicht bekommen. Angefangen bei – oft allerdings noch sehr zaghaften – ökumenischen Bemühungen (z.B. gemeinsamen Bibelkreisen), über die Bildung von Beratungsstrukturen, z. B. Pfarrgemeinderat und Sachausschüsse, die die Gemeindemitglieder mehr in den Entwicklungsprozeß ihrer Gemeinde hineinnehmen wollen, bis hin zu ihrem sozialen und gesellschaftlichen Engagement. Indem man die „sakristeifixierte“ Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts relativierte oder ganz abschüttelte, versuchte man einer „weltlichen Frömmigkeit“ den Weg zu bereiten – einer Frömmigkeit der Arbeit, einer Frömmigkeit der Beziehungen, einer Frömmigkeit des politischen Engagements.

2.3 Vom Tanzkurs bis zum Kochlehrgang

Schauen wir heute in die Pfarrbriefe oder Schaukästen unserer Gemeinden, so stellen wir fest, dass gerade ihre „gesellschaftliche Öffnung“ große Resonanz gefunden hat. Da tauchen von Gemeinde zu Gemeinde verschiedene Aktivitäten auf wie Pfarrfeste, Altenfahrten, Kinderkarneval, Jugendheimfeten, Wandertage, Filmangebote, Sportveranstaltungen, Bildungsveranstaltungen, Musikangebote, Podiumsdiskussionen, Friedensdemonstrationen, politische Foren, Basare, Tanzkurse, Kochlehrgänge, Hausaufgabenhilfe usw. Gemeinden machen sich in unterschiedlichster Weise stark für die „Asylantenproblematik“, Arbeiterfrage (was nichts Neues ist; erinnert sei hier nur an die KAB, die kein Kind des Konzils ist), Behinderte, Alleinerziehende, Drogenabhängige, soziale Brennpunkte usw. Manche Gemeinde hat sich zu einem florierenden Reiseunternehmen entwickelt oder macht so mancher Volkshochschule Konkurrenz. Die meisten Gemeinden verfügen über Pfarrzentren, die bis hin zum regelmäßigen Kneipenbetrieb Sammelpunkte gesellschaftlichen Lebens sind.

Nicht zuletzt ist die Steigerung der gemeindlichen Aktivitäten festzumachen an der großen Zahl haupt- und nebenamtlicher Mitarbeiter wie Sekretärinnen, Gemeindereferentinnen, Pastoralreferenten/innen, Dekanatsbeauftragte, Leiter und Mitarbeiter von TOT und Sozialarbeiter/innen. Die genannten und viele andere Aktivitäten sind heute fester Bestandteil unzähliger Gemeinden. Sie sind Zeichen für eine lebendige, den Bedürfnissen der Menschen nachgehende Pfarrgemeinde und entlocken so manchen gefrusteten Gemeindemitgliedern den Ausruf: „Hier ist was los!“

Gerade auf diesem Hintergrund bekommt das Thema dieses Heftes aktuelles Gewicht und zukunftsweisende Bedeutung: „Auf der Suche nach religiösem Profil: Damit Jesus die Mitte bleibt.“ All die oben aufgeführten Aktivitäten in unseren Gemeinden sollen hier nämlich nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wir möchten nur anregen wieder neu zu fragen, ob wir genug Phantasie entwickeln, all unser Tun aus Ihm heraus zu motivieren und dadurch die Grundlagen unseres Glaubens ideenreich weiterzuvermitteln.

3. Auf dem Weg zu einer „geistlichen“ Gemeinde

Eine Gemeinde ist nicht irgendein Verein, der Langeweile kompensiert und mit seinem Freizeitangebot professionellen Anbietern Konkurrenz macht. Eine Gemeinde braucht das Profil, das sie zu dem profiliert, was sie sein soll: Gemeinde Jesu, des Sohnes Gottes, der den Mensch als Ganzes ernst nimmt in seinem Suchen nach Sinn, nach Freude, nach Geborgenheit, nach Zukunft, nach Leiblichkeit, nach Liebe, nach Vergebung, nach einem Da-sein-Dürfen, das die vielen verschiedenen Profile der einzelnen Menschen mit religiöser Tiefenschärfe versieht.

Wo dieser Anspruch formuliert wird, ist nicht selten davon die Rede, unsere Gemeinden bräuchten wieder so etwas wie „Spiritualität“. Spiritualität kommt von „spiritus“ = Geist. Der Heilige Geist ist nach allen Aussagen der Heiligen Schrift der Mittler – das heißt: der Verbinder. Im Geist war Jesus ganz mit dem Vater verbunden. Der Geist ist es auch, der unsere Gemeinden (und die vielen einzelnen in ihr) miteinander und mit Jesus verbindet. Eine Spiritualität ist also eine „Geistigkeit“ – eine „geistliche“ Prägung all unseren Tuns. Wer unter Spiritualität nur eine isolierte Frömmigkeitsübung versteht, verkürzt die Dimension des Begriffes in unzulänglicher Weise. Selbst die Herz-Jesu-Spiritualität, der man heute manches Schlechte nachsagt, war in ihren besseren Tagen niemals nur eine auf den Knien zu absolvierende Übung, sondern eine prägende Lebenshaltung.

Hier soll nicht der Wiederauffrischung überlebter „Spiritualitäten“ das Wort geredet werden. Spiritualitäten haben sowieso ihre eigenen Lebensgesetze, und – wer weiß – vielleicht ist die zentrale Einsicht der Herz-Jesu-Verehrung, dass Gott nämlich ein Herz für uns hat, noch gar nicht am Ende. Dieses Heft ist allerdings ein klares Plädoyer dafür, dass unsere Gemeinden in ihrer Mitte eine „geistliche“ Dimension brauchen.

Das bedeutet nun nicht, dass man sich krampfhaft auf die Suche nach neuen Frömmigkeitsformen macht. Es bedeutet viel eher, dass wir langsam entdecken, wie sehr wir einander „Seelsorger“ sein müssten. Seelsorger sind Menschen, die einander „geistlich“ begleiten. Es fehlt ja an einer neuen Spürigkeit dafür, dass jeder Mensch „geistliche“ Sehnsüchte hat. Und dass eine Gemeinde auch Formen braucht, in denen sich diese geistlichen Sehnsüchte kollektiv ausdrücken können.

Spiritualität fängt ganz weit unten an. „Ich möchte mich in meiner Gemeinde wohl fühlen, und das ist hoffentlich nicht zuviel verlangt. Dafür muss mich aber die Gemeinde mit meinen Fehlern und Überzeugungen ernst nehmen. Wie soll ich mich in einer Gemeinde wohl fühlen, wenn ich schon schief angesehen werde, wenn mein Hemd nicht in der Hose steckt?“ Ist das zuviel verlangt, wenn ein junger Mensch sich erst einmal danach sehnt sich wohl zu fühlen als gläubiger Mensch in einer Gemeinschaft gläubiger Menschen? Und setzt eine Spiritualität der Gemeinde nicht schon da an, wo eine Gemeinde alles daran setzt eine Kultur der gegenseitigen Annahme zu entwickeln? Wir meinen: Ja. Eine neue Frömmigkeit wird eine Frömmigkeit der kleinen, alltäglichen Dinge sein.

Dabei dürfen wir nie die Frage vergessen, ob sich Jesus bei uns wohl fühlt in unseren Gemeinden, die sich doch auf Ihn berufen.

Als wache Christen in einer Zeit, in der gesellschaftliche Äußerlichkeiten sich sehr schnell wandeln, ist es für uns unveräußerbares Gut auf der Suche nach der Mitte zu bleiben, immer neue Wege zu Ihm zu entdecken. So gewinnen unsere Gemeinden Profil, sie zeigen das „Gesicht Jesu“ im Dienst an Gott, dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft. Auf diesem Weg wahren wir unsere Identität, das Zusammenklingen von Gottesdienst und Menschendienst, von Gebet und Handeln, von Besinnung und Geselligkeit. Er bei uns und wir bei Ihm.

4. Schwierige Mitte: Liturgie

Nach dem Willen nicht nur der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils soll der Gottesdienst „Höhepunkt“ und „Quelle“ sein: Der Punkt also, worauf alles Tun in der Gemeinde zustrebt – und der Punkt, aus dem die Gemeinde alle Kraft bezieht für die Gestaltung und Veränderung ihrer kleinen Weit. Die Liturgie hat demnach eine existentielle und funktionale Mittelstellung im Leben der Gemeinde. Zumindest in der Theorie.

Hier ergibt sich besonders für die Menschen ein Problem, die Gottesdienste zu feiern verlernt oder es erst gar nicht erlernt haben. Aber auch denen, die ein regelmäßiges Gottesdienstleben praktizieren, ist dieses Problem nicht ganz fremd: „Wie werde ich identisch mit diesen fernen Riten, schweren Gebeten, fremden Texten? Wie wird dieser Gottesdienst mein Gottesdienst, meine Quelle, mein Höhepunkt?“

Noch etwas kommt hinzu. Im Gottesdienst wird oft von Lieben und Teilen, von Barmherzigkeit gesprochen. Doch nicht selten spiegelt sich im Umgang der Gemeinde miteinander und in persönlichen Begegnungen von Gemeindemitgliedern mit anderen Menschen (am Arbeitsplatz, in der Freizeit, im Bekanntenkreis etc.) ein anderes Bild wider: Lieblosigkeit, Haben-wollen, Unbarmherzigkeit. Oft stehen hier Priester im Feuer der Kritik und mit ihnen die ganze Kirche. Ob dies nun immer berechtigt ist oder auch nicht, so hat doch besonders eine Gemeinde die Aufgabe und Chance diesem ldentitätsverlust von Verkündigung und Handeln entgegenzuwirken.

Wenn auch die Großwetterlage der Kirche (beeinflusst in der Öffentlichkeit etwa durch Verlautbarungen zum Thema Sexualität, durch ihre Kapitalmächtigkeit, beispiellos in der deutschen Kirche und das wenig gewinnende Auftreten so mancher Verantwortlichen in Kirche) bei vielen Bevölkerungsschichten Kritik hervorruft oder Desinteresse bewirkt, das bis in die kleinste Gemeinde hinein spürbar ist, so hat doch die Gemeinde die Möglichkeit Räume zu schaffen, in denen Menschen zu sich kommen. Auch liturgische Räume …

Das heilende Handeln Jesu, welches im Gottesdienst, besonders der Eucharistie, gefeiert, muss in einem heilsamen Klima geschehen, damit es ein heilendes „Miteinander“ von Gemeinde und einzelnen Menschen zur Folge hat. Erst dann, im Erleben dieses Zusammenhanges, kann Menschen, egal, wie regelmäßig sie Gottesdienste besuchen einsichtig werden, dass Gottesdienste wirklich Quellen sind, aus denen man leben kann. Jede Gemeinde und jeder einzelne ist gerufen, sich selbst diesen Identitätsdruck aufzuerlegen, damit Christus die Mitte bleibt und wir selbst neu ermutigt werden. Und damit fernstehende Menschen wieder Interesse daran bekommen Christus zur Mitte werden zu lassen.

Erst wenn aus der Quelle wohltuend geschöpft und weitergegeben wird, ist begreiflich, dass die gottesdienstliche Versammlung auch der Höhepunkt gemeindlichen Lebens ist.

5. Christus mitten im Miteinander

Christus wird auch da Mitte der Gemeinde, wo der einzelne Mensch ernsthaft in das Zentrum der Gemeinde rückt. Bei aller guten Tradition darf Tradition den Menschen und seine Bedürftigkeit nicht abhängen.

  • Leitung muss in der Gemeinde wahrgenommen werden, doch darf sie weder von Priestern noch von Laien zu Machtmissbrauch und Entmündigung einzelner oder der ganzen Gemeinde benutzt werden.
  • Das Wissen der Fachleute in den Gemeinden ist unerlässlich für ein Miteinander von Gemeinde in den Anforderungen unserer Zeit und im Bewusstsein einer fast 2000jährigen Tradition. Doch das Wissen der Fachleute darf in diesem Bereich die mündigen und geistbegabten Christen in der Gemeinde nicht disqualifizieren. Oft führt einfaches Empfinden, Spüren, ein Sensibelsein über das Wissen hinaus und kann so hilfreicher sein.
  • Was zwei oder mehr nicht perfekt tun, ist trotzdem besser als das, was einer perfekt macht.
  • Mitverantwortung, Mitbestimmung, Teilhabe, das partnerschaftliche Miteinander aller an der Gemeinde Interessierten ist entscheidend für den Weg einer Gemeinde.
  • Alle Gemeindeglieder sind durch Taufe und Firmung Begabte im Geiste Gottes (auch wenn das zu akzeptieren nicht immer einfach ist). Es ist für eine Gemeinde lebenswichtig allen in ihr vorhandenen Fähigkeiten und Talenten Raum zu geben.

Christus rückt um so mehr ins Zentrum unserer Gemeinden, je mehr es Teil unserer Spiritualität wird Ihn im anderen zu sehen. Noch fehlt es in vielen Gemeinden an einer echten Hochachtung des anderen, seines spezifischen Talents, seiner besonderen Gabe von Gott. Ein Lied von Alois Albrecht bringt dieses Suchen zum Ausdruck:

Kehrvers:
Jetzt ist die Zeit,
jetzt ist die Stunde.
Heute wird getan,
oder auch vertan,
worauf es ankommt,
wenn Er kommt.
3.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du beherrscht,
was hast du dir unterworfen?
Seine Frage wird lauten:
Wem hast du gedient,
wen hast du umarmt
um meinetwillen? Kv
6.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du geglänzt,
was hast du Schönes getragen?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du bewirkt,
wen hast du gewärmt
um meinetwillen? Kv
1.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du gespart,
was hast du alles besessen?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du geschenkt,
wen hast du geschätzt
um meinetwillen? Kv
4.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du bereist,
was hast du dir leisten können?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du gewagt,
wen hast du befreit
um meinetwillen? Kv
7.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du gesagt,
Was hast du alles versprochen?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du getan,
wen hast du geliebt
um meinetwillen? Kv
2.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du gewusst,
was hast du Gescheites gelernt?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du bedacht,
wem hast du genützt
um meinetwillen? Kv
5.
Der Herr wird nicht fragen:
Was hast du gespeist,
was hast du Gutes getrunken?
Seine Frage wird lauten:
Was hast du geteilt,
wen hast du genährt
um meinetwillen? Kv

6. Von der Mitte und von den Rändern

Zum Schluss dieser Überlegungen, in denen viel von Jesus Christus als der Mitte unserer Gemeinden die Rede war, sollen uns die Ränder unserer Gemeinden nicht aus dem Auge kommen. Jesus, der hohe Anforderungen an diejenigen stellte, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung befanden, hat trotzdem auch die nicht ausgegrenzt, die nur am Rande mit ihm waren. Heute droht in vielen Gemeinden der Rückzug in ein windgeschütztes Kerngehäuse. Die da draußen sind eben draußen. Nach dem Geist Jesu ist das nicht.

Wir haben viel Verstand aufgewandt, um darzulegen, „wer noch dazugehört und wer nicht“. Sollte man im Sinn Jesu nicht lieber all jene dazurechnen, die sich innerhalb der Gemeinde „berühren“ und von der Gemeinde „berühren“ lassen? Eine Gemeinde wäre dann das, was sich in einem bestimmten territorialen Bereich oder als eine bestimmte „Kategorie“ von Menschen als Gemeinschaft von Christen berührt.

Die hier anklingenden traditionellen Begriffe „Territorialgemeinde“ (herkömmliche Pfarrgemeinde) und „Kategorialgemeinde“ (z. B. Hochschulgemeinde) müssen sicherlich auf die Zukunft hin neu überdacht werden. Auch in dieser Hinsicht mag es vielleicht besser sein von der Gemeinde zu sprechen als dem Sich-„Berühren“, von Menschen auf den Grundfesten der Heiligen Schrift, in Übereinstimmung mit den Wegweisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Vätertradition.

Besonders mit Blick auf die herkömmliche Gemeindeform, der Pfarrgemeinde, sprechen wir hier also bewusst von Menschen, die sich berühren, und nicht von Menschen, die miteinander leben, da dies ein sehr hoher und an der Realität nicht verifizierbarer Anspruch ist. Die Berührungspunkte können sehr vielfältig sein: Vom Gottesdienst bis zum Kneipentreffen, vom Diskussionskreis bis zum Pfarrbesuchsdienst – und viele Berührungspunkte mehr.

Die Gemeinde zu bezeichnen als Menschen, die sich berühren lassen, entlässt uns auch aus einer strengen Aus- oder Eingrenzung, wer nicht mehr und wer noch in der Gemeinde ist. Gehört nur der zur „wirklichen“ Gemeinde, der regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst geht, oder ist auch der „noch“ Gemeindemitglied, der sich an Weihnachten und zum Pfarrfest erfahrbar, berührbar macht? Hier läßt sich sicherlich streiten, aber oft wäre eine Neubesinnung darüber hilfreicher, wen Jesus wohl gemeint haben kann, als er für die Einheit derer gebetet hat, die ihm vom Vater gegeben worden sind (vgl. Joh 17, 21).

Aus „Damit Jesus die Mitte bleibt – Auf der Suche nach religösem Profil“ aus der Reihe Themenhefte Gemeindearbeit, 3. Quartal 1991, hrsg. vom Bergmoser + Höller Verlag.
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Entdeckung und Deutung der Spiritualität Jugendlicher

Begegnungssuche

Um sich wirklich auf eine Entdeckungsreise zu begeben, um Spiritualitäten einzelner Jugendlicher (im deutschsprachigen Raum) aufzuspüren, ist es nötig, herkömmliche Deutungsraster von Spiritualität getrost zu Hause zu lassen und dem Reisegepäck der Offenheit, des Wohlwollens, dem Wissen um die Geisterfülltheit junger Menschen sowie des einfühlenden Hörens und Schauens nur noch eine grobe Umschreibung der Zielgruppe beizulegen.

Die Gruppe der Jugendlichen, bei der ich auf Entdeckungsreise gehen möchte, habe ich umrissen als junge Menschen, die bewußt auf christlich kultiviertem Boden sich nicht selbstgenügend, individuell und entschieden die Nähe dessen suchen, den uns Jesus Christus als den einen Gott geoffenbart hat, der in allem mächtig ist.

Dieser Zielgruppe bin ich begegnet durch Gespräche, Anfragen ihrerseits, Beobachtungen und spontanen Befragungen (in der Schule).

Im weiteren Verlauf möchte ich das Wort Spiritualität vermeiden, da ich damit als Theologe genaugenommen schon vordeutend suche.

Statt dessen möchte ich den Begriff „Begegnungssuche“ einführen. Diese „Begegnungssuche“ stellt sich für mich wie folgt dar:

1. Das ganz oder teilweise Verlassen vorgegebener „Erlebnisfelder“

Dieser Auszug aus den kirchlicherseits vorgegebenen Räumen der Begegnung (oder eine starke Distanz dazu) zwischen Gott und der Gemeinschaft von Menschen, liegt in der Empfindung (nicht nur) junger Menschen, in eben diesen Räumen zu viel (teils unbewußter) Unehrlichkeit und zu wenig Wahrhaftigkeit zu finden. So sind Eucharistiefeiern, Andachten und andere althergebrachte Formen für die Bedürfnisdeckung der „Begegnungssuche“ junger Menschen nicht ausreichend. Ebenso decken sich Sprache, Zeichen und Bilder unserer christlichen Kultur (wie z.B. Gottesdienstformen, Weihwasserkessel, Heiligenfiguren) nicht mit dem, was junge Menschen in ihrer „Begegnungssuche“ empfinden und entdecken. Darüber hinaus wird das personale Angebot seitens der Kirche seiten als kompetente Begleitung bei der Begegnungssuche Jugendlicher empfunden.

2. Die Suche nach dem lebendigen Du

Aus dem Empfinden der mangelnden Ehrlichkeit und der fehlenden Wahrhaftigkeit findet die Begegnungssuche unserer Zielgruppe einen Ruheort dort, wo meist Gleichaltrige miteinander über ihr Suchen sprechen. Oft ist dieser Ruheort verbunden mit kameradschaftlichen Kontakten und freundschaftlichen Beziehungen.

3. Das Entdecken der Schöpfung als Geschenk

In diesen, den Austausch suchenden Beziehungen, die durch ihre Offenheit auch bereit sind, sich selbst verletzlich zu machen, wird das Bedürfnis schnell wach, gemeinsam den Blick über das Geschenk der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft hinaus auf die Schöpfung zu richten, die oft bis in kleinere Elemente ihrer Ganzheit, als Gabe eines guten Gebers erkannt wird. Je mehr dies entdeckt wird, um so mehr steigt der Grad der „persönlichen Verletztheit“ an den Verletzungen der Schöpfung.

4. Im „Du und Ich“ als Geschwister der Schöpfung sind wir mehr als „Wir“

In der annehmenden Begegnung mit orientiert suchenden Menschen und in der gemeinsamen Verbundenheit im Datum der Schöpfung befreit sich das gemeinsame (oder auch „nur“ eigene) Wissen um einen Gott (einen Jesus) zur Erfahrung: „er ist da“, „er lebt“!

Diese Erfahrung und ihre Wiederholung ist das Ziel der Begegnungssuche junger Menschen.

5. Neue Erlebnisfelder der Begegnungssuche und deren Wiederholung

Ich möchte nicht ausschließen, daß Jugendliche in der Lage sind, die einmal gemachte, erfolgreiche Begegnungssuche auch in den herkömmlichen Räumen unserer tradierten Spiritualität und Gottesdienstformen „wiederbeleben“ zu können, doch zeigt die Beobachtung, daß neue Erlebnisfelder von jungen Menschen erschlossen werden.

  • Am auffälligsten scheint die große Teilnehmerzahl junger Menschen an kirchlichen „Großveranstaltungen“ (z.B. Katholikentag, Kirchentag, Jugendkreuzweg), bei denen wohl das unsystematische Gewimmel teils unüberschaubarer Menschenmengen das Gefühl fördert. „Gott in allen Dingen entdecken zu können!“ (Ignatius von Loyola). Hier drängt sich der Eindruck auf, daß dieses ein solches neues Erlebnisfeld zu sein scheint. Ich möchte jedoch eher behaupten, es ist ein wiederentdecktes Erlebnisfeld, da solche Firmen des „Wirgefühls“ innerhalb der Jugendbewegung unseres Jahrhunderts häufiger ähnliche „Großveranstaltungen“ hervorbrachte oder mittrug.Es wäre falsch, nur dies als „neues Erlebnisfeld“ entdecken zu wollen.
  • Frühschichten, Spätschichten, Wort des Lebens-Kreise, Jugendkreuzweg, Jugendmessen, Wallfahrten für Jugendliche und andere neue liturgische Formen sind ebenso Erlebnisfelder der Begegnungssuche oder deren Erneuerung.
  • Darunter rechne ich auch den Wunsch vieler junger Menschen nach Augenblicken der Stille im eigenen Zimmer, in der Natur und auch in Gottesdiensträumen.
  • Von durchgehender Wichtigkeit sind immer wiederkehrende Begegnungen von „Begegnungssuchenden“ im vertrauten, aber auch offenen Kreis.
  • Ein weiteres wichtiges Erlebnisfeld ist die Musik. Nicht aggressive Musik, sondern Instrumentalstücke, die die „Begegnungssuche“ mittragen können, in denen sie wiederklingt oder Lieder, die thematisch die Situation der Jugendlichen aufnehmen, die von Hoffnung sprechen, die offen bleiben für einen „guten Geber“ und die den Dank nicht scheuen.
  • In dieselbe Richtung geht das Bedürfnis nach Literatur (Gedichte, Kurzgeschichten, Novellen, Erzählungen etc.), in der von „begegnungssuchenden Menschen“ berichtet wird oder die selbst Ausdruck der Begegnungssuche ist.
  • Eine Fülle äußerer Zeichen der erfüllten oder ersehnten Begegnungssuche finden wir bei jungen Menschen. Diese Zeichen (Symbole) haben oft horrenden persönlichen Wert und werden wie „Heiligtümer“ behandelt.

Hier gibt der Katalog „Das ist mir heilig“, Ausstellung Heiligtümer Jugendlicher anläßlich der Aachener Heiligtumsfahrt 1986, tieferen Einblick.

Einige Beispiele:
Das Kreuz um den Hals Dankbare Erinnerung an Familienmitglieder
Geschenk eines Mitsuchenden
Die gepreßte Blume … gepflückt bei einem Spaziergang mit einer „Offenbarung“
Ein Rosenstachel Erinnerung an einen wiedergutzumachenden Fehler
Ein Bild „das war unheimlich wichtig für mich“
Ein Stoffarmband von dem ich das habe,
der hat mir das gegeben
Ein selbsterstelltes Büchlein „das erzählt mir …“
Ein Zipfel Notenpapier

Nach dieser unvollständigen Skizzierung der „Begegnungssuche“ junger Menschen – unvollständig, da es noch mehr zu entdecken gäbe, das hier aufgeführt werden könnte – nun die abschließende Deutung.

6. Deutung der hier genannten „Begegnungssuche“

Die hier aufgeführten Entdeckungen: Die Begegnungssuche in der Suche nach dem lebendigen Du, in der Entdeckung der Schöpfung als Geschenk, in der Erkenntnis „Du und Ich“ als Geschwister der Schöpfung sind mehr ein „Wir“, diese Begegnungssuche, die dann ihre entsprechenden Erlebnisfelder sucht, sind das wirklich so neue Entdeckungen?

Hat nicht Spiritualität im herkömmlichen Sinne auch etwas mit Begegnung von Mensch-Schöpfer-Gott zu tun?

Ist das Suchen, miteinander Sprechen nicht mindestens ein stammelndes Gebet? Ist das Staunen, die Ehrfurcht vor der Schöpfung nicht eine zaghafte Anbetung? Ist die über das Wissen hinaus gemachte Erfahrung „er ist da“ nicht ein lediglich das Versmaß missender Hymnus?

Sicherlich hat das mit der „geistlichen Verzückung“ unserer großen Heiligen nicht viel zu tun. Aber ist diese geistliche Verzückung kleiner Leute, jener die „Begegnung“ suchen (und das nicht nur mit Blick auf den Menschen), nicht ein Anfang und mehr? Gibt es da nicht vielleicht große Heilige, die ihre „Karriere“ ähnlich begonnen haben?

Bleibt Spiritualität nicht auch der Entwicklung, der „Reifung“ unterlegen? Ich bin der Überzeugung, wir würden unsere spirituelle Landschaft bereichern (ohne in Konkurrenz zu entgleisen), wenn wir das, was ich vorsichtig unter Begegnungssuche zu entdecken meine, mit dem Begriff Spiritualität bezeichnen.

Aus „Damit Jesus die Mitte bleibt – Auf der Suche nach religösem Profil“ aus der Reihe Themenhefte Gemeindearbeit, 3. Quartal 1991, hrsg. vom Bergmoser + Höller Verlag.
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Ein Engel kommt nach Babylon

Aus der Chronik des Priesterseminars St. Georgen 1984

Am 13. und 15. Januar dieses Jahres (1984, Anm. d. Red.) erlebten insgesamt ca. 600 „Theaterbesucher“ Studenten und Gäste von St. Georgen, in unserer Hochschulaula das Finale gut siebenmonatiger Arbeit einer sechsundzwanzigköpfigen studentischen Laienspielgruppe unter der Leitung von Pater Franz-Josef Steinmetz SJ. Dieses Finale offenbarte nun in „vollem Glanz“, was in der Idee Ausgangspunkt der Bemühungen war und auf dem Weg der Entstehung den Akteuren viele Anstrenungen, aber um vieles mehr Freude bereitet hat. Es war die Inszenierung der fragmentarischen Komödie in drei Akten von Friedrich Dürrenmatt „Ein Engel kommt nach Babylon“.

Das Material, das Dürrenmatt in seinem Werk verarbeitet, reicht von einem munter zusammengewürfelten antiken Geschichtsgut und deren Machtstrukturen, über eine heute nicht mehr haltbare Gnadenlehre und einige durchaus auch in unserer Zeit noch interessanten theologischen und humanistischen Fragestellungen, bis hin zu einigen technischen Errungenschaften aus unserem Jahrhundert.

Babylon, auch bei Dürrenmatt am Euphrat gelegen, ist Ort des Geschehens. Ein Engel, natürlich noch anerkannt, bringt die im Mädchen Kurrubi personifizierte Gnade zu dem ärmsten Menschen. Dieser ist nach himmlischen Berechnungen ein Bettler namens Akki, der einzig noch lebende, da alle anderen Standesgenossen sich mehr oder weniger freiwillig. auf Geheiß des Königs von ihrem Bettlergewerbe getrennt haben und nun den Diensten des Königs frönen.

Wie es das „Pech“ aber nun so will, treffen die Himmelsboten auf zwei Bettler. Was sie ja nicht wissen konnten, ist dies: der andere Bettler ist kein Bettler; er ist nur der als Bettler verkleidete König, der gekommen ist, den einzig noch lebenden Bettler zu überzeugen, daß sie nicht mehr Bettler sein können. Da ein verbaler überzeugungsversuch scheitert, einigt man sich auf einen Bettelwettbewerb. Akki ist ein wahres Genie, was die Kunst des Bettelns angeht, und es gelingt ihm mühelos, den geistig leicht impotenten und stark dümmlichen, als Bettler verkleideten König zu besiegen. So hat der noch verborgene König einen Dienstmann verloren, aber die Gnade des Himmels gewonnen, er ist ja nun der „ärmste der Menschen“, da er der schlechteste Bettler ist,und überdies hat sich das Mädchen auch noch in den falschen Bettler unsterblich verliebt. Aber was will ein König mit,einem Mädchen, das einen Bettler liebt, den es nicht gibt, und so tauscht der „König“ das Mädchen gegen seinen Mit-Ex- und Gegenkönig ein, den Akki ganz nebenbei in dem Bettlerwettstreit gewonnen hat.

Im Mittelpunkt des zweiten Aktes stehen der Bettler Akki und seine neueste Errungenschaft, Kurrubi, die Gnade des Himmels. Wie schon angedeutet, ist Akki der Meister unter den nicht mehr vorhandenen Bettlern. Mit seiner Kunst zu betteln ist er nicht nur fähig, ungeheure materielle Schätze anzuhäufen (denen er aber wenig Bedeutung beimißt), mehrnoch, er erbettelt sich Liebschaften, Ämter und Ehren, ja, es gelingt ihm auch, dem unbestechlichen königlichen Henker sein Amt abzuknöpfen, was ihm später sein und das Leben Kurrubis rettet.

Kurribi bezaubert durch ihre Schönheit und ihre Herkunft ganz Babylon. Die Freier stehen Schlange vor dem Brückengemach des Bettlers Akki am Euphrat, in dem Kurrubi hausfraulichen Tätigkeiten nachgeht. Doch Kurribi liebt immer noch den Bettler, der keiner ist. Hier und da sorgt der Engel für Aufsehen dergestalt, daß er einige wissenschaftliche Exkursionen auf der Erde unternimmt, die die Bevölkerung sichtlich befremden. Auch sind seine Bemühungen um die ihm anvertraute Gnade als mäßig zu bezeichnen, da er der Erforschung roter Riesen mehr Bedeutung beimißt.

Das Zentrum des dritten Aktes bildet das Thronduo, die beiden Könige Nimrod und Nebukadnezar. Sie stehen einander in Schönheit, Jugendhaftigkeit, in Machtstreben, Besitzstreben, Dummheit, Brutalität und Naivität nichts nach. Eine ihrer liebsten Beschäftigungen ist es, sich gegenseitig den Thron streitig zu machen, wobei aufgrund der politischen Lage Nimrod momentan den Kürzeren zieht. Um diesen lebhaften Thron herum wird Politik gemacht. Erzminister und Theologe tun ihr Bestes, dem eigenen Ansehn den nötigen Glanz zu verleihen, und dementsprechend wird das Fähnchen politischen Interesses stets in den Wind persönlicher Belange gehängt. Das Politikum des Tages, die Gnade Kurrubi, macht den königlichen Behörden doch einiges zu schaffen, will sie doch nicht das Gespinst des Bettlers aufgeben und den König lieben, der für sie aus Liebe fast —: aber nur fast —: alles tun würde. Jedes Werben. ist sinnlos, auch kein anderer will alles geben, um sich in den Bettler zu verwandeln, den es nicht mehr gibt,und so scheint nur noch ein alles regelnder Schritt der leidlichen Situation‘ ein Ende zu bereiten. Mit einem wieder einmal treuen Heer im Rücken bricht in Nebukadnezar der ganze Haß über die unglückliche königliche Liebe zu Kurrubi auf. Er schickt die Gnade in die Wüste, wo der Henker (der in Wirklichkeit der Bettler Akki ist, was der König aber nicht ahnt) sie töten soll. Anschließend läßt er den Theologen und den Minister töten, da sie, von egoistischen Motiven geleitet,ihm wenig dienstbar waren. Zum Schluß m uß auch noch das Volk daran glauben und ihre babylonische Freiheit gegen die Enge des neuen babylonischen Turmes eintauschen. Zurück bleiben zwei unverstandene Könige und zwei einer neuen Verheißung Entgegen- gehende: Akki und Kurrubi.

Soweit ein kurzer, etwas aufgelockerter überblick zum Stück. Wer mehr wissen möchte, muß sich entweder die Videoaufzeichnung ansehen oder sich am Urtext orientieren (Diogenes Verlag AG Zürich, 1980, ISBN 3 257 208 340).

Die Inszenierung war nicht ganz einfach, wie man aus dem bisher Gesagten entnehmen kann, aber Pater Steinmetz und seine Assistenten (H. Fell, Th. Kellner, M. Köhler, R. Jungnitsch) meisterten jedes Problem mit einer eigentümlichen Geschicklichkeit. Die sehr ansprechende Kulisse fertigte Hajo Fell und seine Helfer, Kostüme wurden selber gemacht oder aus dem Theaterfundus entliehen.

So war es nun soweit und im Glanze der strahlenden Augen aller Beteiligten und im Licht der neuen Scheinwerfer wurde begeistert gesehen und überliefert, wie es dann später hieß: „Am 13. und 15. Januar dieses Jahres erlebten insgesamt ca. 600 „Theaterbesucher, Studenten und Gäste

Aus der Chronik des Priesterseminars St. Georgen, Frankfurt/Main, Ostern 1984. Im Fotoalbum sind einige Bilder der angesprochnen Theateraufführung zu finden.
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