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Die „Wir Lüge“ auch eines 21. Jahrhunderts

Der Konformismus
macht aus dem Ich einer jeden geschichtlichen Wirklichkeit
dieses unerträgliche Wir,
das der Erinnerung das Subjekt raubt,
und im kollektivem Vergessen des Ich`s
ein Wir der Geschichte
in Lüge zur verständlichen Tat erhebt:
Wir waren es doch alle!
Wer kann so noch sein Haupt erheben!
Anfang des geduckten Gangs?

© Christoph Stender
In Lyrik + mehr, Walheim 2003 veröffentlicht | Kommentieren

Das Wir-Gefühl in eigenen Händen

Es ist schön ein Aachener, ja selbst ein Wahl-Aachener zu sein. Denn unsere Jungs haben es geschafft. Wir sind im Pokalendspiel, Berlin ruft, und so viele Fans wie in diesen Tagen hatten die Kicker in Schwarz und Gelb noch nie. Wir Aachener sind eben sportlich.

Damit aber nicht genug. Wir sind heute mit unserem Karlspreis beim Papst in Rom, oder genauer gesagt, Vertreter des Karlspreisdirektoriums verleihen heute unseren Preis an seine Heiligkeit Johannes Paul II. Diese Auszeichnung wird bekanntlich Persönlichkeiten verliehen, die in hervorragender Weise an dem immer größer werdenden Haus Europa mitbauen. Wir Aachener sind eben europäisch.

Sei die Frage erlaubt, ob ein solches „Wir“ uns Aachener wirklich wesentlich verbindet, oder handelt es sich bei der momentan so hoch im Kurs stehenden Wir-Befindlichkeit um eine von punktuellen Emotionen getragene Redensart.

Gibt es die Seelenverwandtschaft der Menschen einer Stadt wirklich, die ein Wir-Gefühl beseelt. Sind wir Aachener mehr als eine zufällige urbane Komprimierung von menschlichen Wesen an heißen Quellen.

Unser Oberbürgermeister betonte in den vergangenen Tagen, dass – bezogen auf vergleichbare Städte – Aachen durch Karlspreis und Sport eine ungewöhnlich intensive Außenwirkung habe. Recht hat er.

Der Karlspreis steht für eine vom Christentum hervorgebrachte zwischenmenschliche Akzeptanz, die Völker, Religionen und Kulturen in einem verlässlichen Bund vertrauenswürdiger Staaten solidarisch leben lässt.

Wettkämpfe, wie der Fußball, geben Sportlern ein Gesicht, die wegen der Freude am Spiel ihre physischen und psychischen Kräfte fair miteinander messen wollen.

Wer für die europäische Idee einen Preis auf der Weltbühne verleiht und sportlich im Rampenlicht steht, dem darf auch Verantwortung zugetraut werden. So auf die Karlspreisverleihung in Rom und das Fußballspiel in Berlin geschaut, könnte vom Aachener gesagt werden, er strebe das faire Miteinander an, liebe die Akzeptanz der Verschiedenheit und sei solidarisch um der Gemeinschaft willen.

Diese Kompetenz und Leidenschaft allerdings delegiert der Aachener weder auf seine Fußballmannschaft noch auf sein Karlspreisdirektorium.

Das nimmt der Aachener lieber gemeinschaftlich in die Hand. Oder sehen Wir das anders.

Quelle: Aachener Zeitung, 24.03.2004.
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Die Gegnerin von Unrecht und Schuld

Die Rentnerinnen und Rentner, die in diesem Monat trotz der steigenden Lebenshaltungskosten den selben Rentenbetrag wie im Vorjahr überwiesen bekamen oder gar weniger, sind gehalten, den Worten Jesu folgend, den Bundesfinanzminister zu lieben. Jeder Kassenpatient, der die quartalsmäßige Einlassgebühr für den Praxisbesuch hinblättern muss, möge trotzdem die Bundesgesundheitsministerin lieben. Jene Arbeitslosen, die ihren Job verloren haben, damit andere Arbeitsplätze erhalten bleiben, müssen diejenigen lieben, die ihren Job behalten konnten, beziehungsweise diejenigen, die die Firmen heruntergewirtschaftet haben. Die Kleinanleger müssen den Vorstand einer nicht näher genannten Bausparkasse lieben, obwohl diese seine Kunden gerade erst über den Tisch gezogen hat.

Das klingt komisch, aber auf die aktuelle Tagespolitik bezogen ist das die konsequente Umsetzungen der Forderungen Jesu: „Dem, der dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gibt jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlange es nicht zurück.“

Viele Menschen fühlen sich von der Politik und den Politikern betrogen. Immer wieder hört man die Menschen sagen: Diese Politik ist doch ein Schlag ins Gesicht der kleinen Leute. Die da oben ziehen einem noch das letzte Hemd aus. Der kleine Mann auf der Straße muss wieder einmal die Zeche zahlen.

Wut und Unverständnis sind da oft berechtigt, zumal wenn die obersten Etagen des Managements einiger Industriekonzerne Abfindungen in Millionenhöhe für angemessen halten, oder wenn Politiker nach wenigen Dienstjahren Ruhestandgehäher beziehen, von denen „Otto Normalverbraucher“ nur träumen kann. Solcher Verärgerung, egal von wem verursacht, hält Jesus seine Forderung entgegen: „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür?“

Meint Jesus das wirklich so? Oder versteht er seine Forderung viel unmittelbarer, bezogen auf alltäglichen Kontakt der Menschen. Dann wäre der liebenswert, der die Hiobsbotschaft eines maschinell erstellten Rentenbescheid verschickt, oder die Arzthelferin, die mich freundlich um die zehn Euro bittet, oder der Sachbearbeiter, der dem Kunden die faule Immobilie im Namen seiner Bank aufgeschwatzt hat. Die, die mir eine schlechte Botschaft überbringen, wären dann jene, die Jesus mich auffordert zu lieben. Aber auch das klingt nicht wirklich überzeugend.

Oder meint Jesus eher den Mitmenschen, der aus meinem Vorgarten die ersten Frühlingsboten klaut, muffelig an mir vorbei geht und sich dann noch in der Warteschlange vordrängt? Sind sie es, die ich fragen soll, ob ich ihnen noch anders helfen könne? Welch Ironie!

Fazit: Diesem Evangelium können wir dem Wortlaut folgend heute nicht mehr ganz gerecht werden. Die Welt ist komplexer geworden, als Jesus sich das damals vorstellen konnte, und sie differenziert sich weiter aus. Die Schuldigen sind heute nicht immer eindeutig auszumachen. Sachzwänge, strukturelle Gegebenheiten und komplexe Organisationen verstellen oft den Blick auf die wirklich Verantwortlichen, und somit auf die potenziell Schuldigen. Andererseits müssen Schuldige benannt werden, um den Menschen vor weiterem Unheil zu schützen.

Trotzdem vermittelt dieses Evangelium eine befreiende Botschaft, die aber nur zwischen den Zeilen spürbar zu lesen ist. Ihr Kern: Rache und Vergeltung im Kleinen – „Das zahle ich dir heim“ – wie im Großen – „Gegen dich führe ich Krieg“ – gebären nur Unrecht und Schuld, gefangen in Ausweglosigkeit; Unrecht und Schuld aber haben nur ein wirklich machtvolles Gegenüber: Die Liebe!

Erschienen in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 22.2.2004
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Zwischen Tisch und Stuhl

Verschaffen Sie sich Platz.
Platz nehmen.
Platzbeleg.
Plätze sind da für Platzhalter an Tischen.
Tischgeflüster.

„Verschwommen liegt ein Embryo auf dem Tisch,
ist Thema, steht zur Debatte.“
Embryos zwischen Stühlen, aufgetischt, vom Tisch gewischt,
unter den Tisch gefallen, weggefegt.

Und?
Punkten Sie mit Ihrem Platz.
Platzausweis.
Standpunkte geben runden Tischen Kanten.
„Über den Tisch ziehen“ verwischt Themen.
Tischtücher zerreißen unter Ideologien.

Aufgetischt nehme Platz
Ihr Leben.

Das Bild und der Text stammen aus der Buchveröffentlichung:
Färber-Töller, Lüderitz, Schmenk: Medizinethik im Spannungsfeld – Studium, Profession, Gesellschaft. Aachen 2004.
Weitere Angaben zu diesem Buch unter: www.medizinethik-aachen.de
Für das Bild wurde das Foto einer Wandinstallation „Round Table“ (1995) des Künstlers Thomas Locher verwendet (Besitz: Pinakothek der Moderne, München, Foto: © Artothek). „Der Fötus und die Innenwand der Gebärmutter“, Leonardo da Vinci um 1510-1520.
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Evolution der Bildung – wen kümmert der Mensch

Bildung ist in aller Munde. Die Ergebnisse der OECD Studie PISA 2000 (PISA Program for International Student Assessment) haben besonders das Volk der Dichter und Denker aufgeschreckt, das sich im darauf folgenden und bis heute anhaltenden konkreten Leidensprozess am Versagen ihrer deutschen Bildung vertreten lässt durch ihr gehobenes Bildungsmanagement in Schulen und Hochschulen, Ministerien sowie Verbänden.

So stellte der deutsche Kanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung in der 242. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Juni 2002 die verblüffende Frage, „warum ein Land mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung und der kulturellen Tradition Deutschlands nicht in der internationalen Spitzengruppe mithält.“

Die Folge waren und sind eine Flut von Antwortversuchen unterschiedlicher Personen und Einrichtungen, wie man unser ach so marodes Bildungssystem erneuern könne. Hier zwei Beispiele:

Stichwort Sinnlichkeit

„Der Musikpädagoge von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Professor Hans Günther Bastian, sagte: „Kinder sind voller Sinne. Sie erleben zu lassen, heißt, sie leben zu lassen.“ Nach den schlechten Pisa-Ergebnissen bräuchten die Schüler nicht noch mehr Deutsch, Mathe oder Englisch, sondern: die Musik. Der Pisa-Test habe zwar nur rationale Fähigkeiten erfasst und sich nicht auf ästhetische Bildung bezogen. Jedoch hätten Länder, die mehr Wert auf sinnliche Erfahrungen legten, auch im Pisa-Test besser abgeschnitten.“

Stichwort Leistungstest

Der Präsident der Berliner Freien Universität forderte anonyme Leistungstests für Grundschüler, um eine falsche Empfehlung für die weitere Schullaufbahn zu verhindern. Er sagte der Berliner Zeitung am 29.01.04: „Nur mit anonymen Diagnosen, die nicht von den Klassenlehrern, sondern von unbeteiligten Dritten gestellt werden, ist ein vernünftiges Urteil über die Fähigkeiten des Schülers möglich.“ Hintergrund ist das Ergebnis des Grundschulvergleichs der Bundesländer, wonach jeder zweite Schüler in der vierten Klassen eine falsche Schulempfehlung erhält […].

Die Bildungselite unseres Landes macht aber nicht nur Vorschläge zur partiellen Erneuerung des deutschen Schul- und Bildungssystems, sondern es sind auch immer noch genug Euro vorhanden, um weiter Studien in Auftrag zu geben. Nach PISA folgte PISA-E, PISA II, und auf Länderebene innerhalb der BRD erblickten IGLU und IGLU/E die weit verbreitete Unfähigkeit in unseren Klassenzimmern.

Zwei der jüngsten Reaktionen auf IGLU:

Bremen: „Nach dem schlechten Abschneiden Bremens beim nationalen Grundschultest IGLU verlangt Bildungssenator Willi Lemke (SPD) von den Lehrern mehr Leistung. „Es geht darum, einen besseren Unterricht zu machen“, sagte er am Donnerstag. Zugleich machte er seine politische Zukunft von einer Verbesserung der Situation abhängig […]“

Berlin: „Nach „Deutschland sucht die Super-Universität“ heißt es jetzt: Deutschland sucht die Super-Grundschule. Aus dem am Mittwoch in Berlin vorgestellten Grundschulvergleich von sechs Bundesländern gehen Baden-Württemberg, Bayern und Hessen als „Sieger“ hervor: Ihre Schüler lesen besser als die Pennäler in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg oder in Bremen. Der Stadtstaat ist Schlusslicht, seine Grundschulkinder lesen schlechter als die in Island und in Rumänien. Ein Fünftel kann Texte nicht zusammenhängend erfassen. Eine Expertenkommission soll jetzt die Ursachen für das schlechte Abschneiden der Schüler finden […]“

Deutschland will in allem, mit allem und durch alles Synonym für nur eine einzigartige Größe sein, den Superstar. Der wird nun in Deutschland an allen Ecken gesucht, selbst in Sachen Bildung. Da bleibt nicht aus, dass die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn auch ihren Beitrag leisten will und fünf „Super“ Elitehochschulen mit entsprechenden Sondermitteln ködern oder besser ausloben möchte. Da kommt einfach genial der Vorschlag von Prof. Dr. Burkhard Rauhut, Rektor der RWTH Aachen, daher, der mit Blick auf Synergien Super mit Super kombiniert, und schlüssig folgend den Vorschlag macht, „man solle eine Elite-Universität ausrufen, in der Daniel Küblböck Rektor wird.“ Über diese Vorschläge hinaus sind alleine im Monat Januar 2004 48 Artikel zum Thema PISA and Friends über den Ticker der dpa gegangen.

Auffallend ist, dass in keinem dieser Artikel die Frage aufgegriffen wird, was Bildung ihrem Wesen nach ist, welches Ziel Bildung verfolgt und wie sich Bildung und Kultur zueinander verhalten bzw. verhalten sollen. Es macht den Anschein, dass eine grundlegendere Diskussion zum Thema Bildung im Kontext der Politik unbequem werden könnte, weil in der Diskussion aufgedeckt werden würde, dass sich ein von der Wirtschaft dominierter Bildungsbegriff in Deutschland bereits etabliert hat. Denn wenn von der Befähigung durch Bildung die Rede ist, dann werden häufig im selben Atemzug Markt, Konkurrenz und der Standort Deutschland genannt. Anders gesagt: „Bildung wird mit marktgängigem Wissen gleichgesetzt“.

Das Volk der Jäger und Sammler stolpert immer dann über die Bildung, wesenhaft die eigene, wenn sie mit Finanzen in Verbindung gebracht wird. Da wo die Gelder knapper werden, taucht in quasi mystischer Verwandtschaft und ontischer Abhängigkeit der Begriff des Sparens auf, der nur ein einziges Synonym hat, nämlich den Begriff der Bildung.

Ganz anders jedoch ist die Ausnahme. Hier bedient man sich der Vorsilbe „super“, und dann ist Bildung in besonderer Weise bezuschussungsfähig, aber nur für die Superstars des Fachwissens auf handverlesenen Super-Universitäten.

Eine demokratische Gesellschaft ist in Zeiten knapper werdender Mittel und großer sozialer Spannungen und Herausforderungen „nicht nur auf ‚Menschen als Humankapital‘, sondern auch auf ‚Menschen, die zu Gemeinschaft und Solidarität‘ fähig sind“ angewiesen.

Es besteht notwendig eine grundsätzliche Differenz zwischen Ökonomie und Bildung, zwischen Geld und Geist, zwischen Marktprozessen und Lernprozessen. Nur so kann Bildung in dem großen Kontext einer immer interkultureller werdenden Kultur ansatzweise vom Diktat der Ökonomie verschont bleiben. Hierfür muss in der aktuellen Diskussion um das Thema Bildung eingestanden werden, diese Forderung muss Gesichter bekommen.

„Allgemeinbildung“ reduziert sich immer mehr in die Spezialisierung von Fachwissen. So verliert Bildung ihren das Fächerwissen notwendig übersteigenden und somit verbindenden Horizont.

Bildung an den Hochschulen wird ebenso eingeführt auf die Vermittlung technisch – naturwissenschaftlicher Fach- bzw. Basiskompetenzen. So wird Hochschulbildung immer mehr zu einer beliebigen Ansammlung von voneinander unabhängigen Fragmenten angelernten Wissens.

Die Studienzeit wird immer stärker reglementiert (z.B. Studienkonten, Gebühren für Längerstudierende), und somit wird der Leistungsdruck erhöht. In Folge werden die Zeiten immer geringer, in denen der Lebensunterhalt durch Studierende erworben werden kann, mit der Folge wirtschaftlicher Probleme, besonders bei ausländischen Studierenden.

Soziales, kirchliches und gesellschaftliches Engagement stehen sowieso nicht hoch im Kurs, doch selbst für den interessierten Studierenden bleibt kaum Zeit, seine Mitverantwortung für die Gesellschaft zu vertiefen.

Die jüngsten öffentlichen finanziellen Entwicklungen führt auch die katholische Kirche in massive Nöte. Deshalb sehen sich die Verantwortungsträge genötigt, die Präsenz der Kirche an den Hochschulen an vielen Hochschulstandorten in Deutschland massiv zu kürzen. So drohen weitere Orte der Kommunikation, Beheimatung und der Begleitung für Studierende verloren zu gehen, an denen es um Geist, Solidarität, Lernprozesse, Bekenntnisse und Werte, also um Bildung geht.

Jene gesellschaftlichen Kräfte, die Bildung mitverantworten, so auch die Kirchen, müssen sich den aktuellen Fragen stellen. Der falsche Weg ist es, weiter Einrichtungen zu schließen oder massiv zu reduzieren, in denen Antwortversuche auf die aktuellen Fragen erfolgreich gestaltet werden:

  • Wie sieht ein zukünftiges Studium angesichts der skizzierten Entwicklung aus?
  • Wie kann ein Studium in Zukunft gelingen, ohne immer mehr den Menschen zurückzulassen?
  • Welchen Herausforderungen sehen sich Einrichtungen gegenüber, die sich dafür engagieren, dass Studierende sinnvoll, wertorientiert und erfolgreich ihren Studienabschluss erreichen?
  • Wo „bleiben“ die Studierenden, die an ihrem Studium scheitern?

Hochschulpastoral: Existentielles
Fragment im Kulturschaffen und der Gestaltung von Bildung an deutschen Hochschulen.

Die Hochschulpastoral im Sinne einer konkreten Präsenz der Kirche an den Hochschulen, und mit ihr die Orte ihres Handelns (Katholische Hochschulgemeinden [KHG], Katholische Studierendengemeinde [KSG]) lassen sich nicht als Bildungseinrichtungen mit studentischem Weiterbildungsprogramm definieren, die auf die Zielgruppe der Studierenden hin kurrikulares Wissen und die entsprechenden Fertigkeiten vermitteln.

Die Orte der Hochschulpastoral sind keine Akademie, keine Bildungszentren und auch keine Seminarbetriebe. Das Kurrikulum der KHG ist nicht ein wie auch immer definiertes Soll der Wissensvermittlung. Das Kurrikulum der KHG ist der Mensch. Die Biographie von Studierenden, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Lebenssituationen, Lebensentwürfe und das Unwägbare eines jeden neuen Tages, das ist das Kurrikulum der Hochschulpastoral.

Aus diesen mit unter täglich sich verändernden Vorgaben des Lebens, den Standards, die das erfahrene Leben bisher schon geschrieben hat und die christliche Botschaft, die wir als katholische Kirche verkörpern wollen, lebt die Hochschulpastoral.

Das ist unser bischöflicher Auftrag, als katholische Kirche, durch Studierende und Hauptamtliche an den Hochschulen präsent zu sein. Das Kurrikulum ist der Mensch, die Gangart das christliche Bekenntnis. So haben wir Anteil daran, primär mit Studentinnen und Studenten, aus unterschiedlichen Nationen und Völkern, Traditionen und Religionen, Kultur zu gestalten.

Präsenz der Kirche an den Hochschulen bedeutet kulturschaffend zu sein. Oder anders gesagt: Bildung ist die kontinuierliche und so zustandslose „Menschwerdung des Menschen“, die als gemeinsam Verfügbares Kultur „entlässt“.

Erschienen in: ziel-lebensqualität, Nr.1/2004, S. 4
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Religiöse Symbole auf dem Prüfstand

Das kleine Schwein, oft aus Marzipan, mit einer Münze in der Schnauze, zur Jahreswende verschenkt, hat eine Botschaft: „Glück, Gesundheit und Erfolg mögen dich im neuen Jahr begleiten.“

Das Glücksschwein ist ein Symbol, das aus sich selbst heraus spricht. Wie auch der Tannenbaum, der Lebens- und Heilkraft symbolisiert.

Die teilweise noch vorhandenen Wegweiser der Ausstellung „Ex oriente“ auf dem Pflaster zwischen Rathaus und Dom – das Kreuz, der Halbmond und die „Menora“ – sind die signifikantesten Symbole der drei großen Weltreligionen.

Symbolkraft können aber auch Kleidungsstücke haben. So der Habit (einfache Bekleidung der Haut) eines christlichen Ordensmannes oder einer Ordensfrau, der eine besondere von Gott entgegengenommene Sendung symbolisiert .

Ein Pardah (Schleier), von einer Muslima getragen, ist Ausdruck der Ergebung in den Willen Gottes. Die Kippa (Kopfbedeckung) eines Juden ist Symbol seines Respektes vor Gott.

Die religiösen Symbole in unserer europäischen Gesellschaft allerdings scheinen kritikanfälliger zu werden. 1995 wurde das Kruzifix in bayrischen Klassenzimmern zum Skandal erklärt.

Seit 2003 wird mit dem Kopftuch islamischer Lehrerinnen an öffentlichen Schulen die Frage verbunden: Sein oder nicht sein! In Frankreich trifft es 2004 wohl auch die Schülerinnen mit Kopftuch.

Die Wahrung der Neutralität staatlicher und städtischer Einrichtungen sind der Hintergrund solcher Infragestellungen. Die Intention solcher Neutralität bezieht sich aber auf die Vielfalt der Religionen, immer vorausgesetzt, sie entsprechen dem Grundgesetz.

Neutral bedeutet, dass niemand auf Grund seiner Religion benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

Wenn ein religiöses Symbol nun als Ausdruck der Benachteiligung dessen gewertet wird, was es nicht zum Ausdruck bringt, dann müssten alle religiösen Symbole verboten werden, da sie allein auf Grund ihres Vorhandenseins schon eine Vorteilsnahme darstellen.

Der thronende Christus über dem Haupteingang des Rathauses müsste rausgebrochen werden, da andere religiöse Symbole nicht gleichwertig daneben stehen. Der Bart des griechisch-orthodoxen Bischofs müsste in Frage gestellt werden, und nicht nur der seine. S elbst den Ordensleuten an kirchlichen Schulen wäre zu untersagen, ihre Ordenstracht zu tragen, da diese Schulen mit ca. 85 Prozent aus Mitteln der öffentlichen Hand finanziert werden.

In Folge müsste dann aber auch neu definiert werden, was ein Kulturgut sein darf, und was im Gegenteil dazu nur ein verbietbares religiöses Symbol ist. Von den Auflagen des Denkmalschutzes müssten christliche Darstellungen in und an öffentlichen Einrichtungen befreit werden, damit sie vernichtet werden können.

Wer das Kopftuchverbot will, also das Verbot eines religiösen Symbols, der muss konsequent weiterdenken.

Wer aber das Kopftuch (in Unkenntnis des Korans) scheinbar als eine politische Demonstration missdeutet, um es dann verbieten zu können, der sollte seine wirklichen Motive und Ziele offen legen.

Nachtrag: Bleibt für das neue Jahr zu hoffen, dass das Glücksschwein neutralen Ursprungs ist, aber dann können wir es uns auch sparen! Oder wissen Sie was ein neutrales Glück ist?

Quelle: Aachener Zeitung, 31.12.2003
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Kreuz!

Kreuz – überhörte Schreie nach Gerechtigkeit
Kreuz – nackt, bloßgestellt
Kreuz – erschlagene Liebe
Kreuz – Wahrheit zum Schweigen gebracht
Kreuz – gefesseltes Leben
Kreuz – Heilung unterlassen
Kreuz – Aufstand gegen Gott
Kreuz – aus Hass verurteilt
Kreuz – Denkmal des Hochmuts
Kreuz – vergewaltigte Menschen
Kreuz – keine Genehmigung zum Leben
Kreuz – der Wunsch zu leben totgeschwiegen
Kreuz – gefangen in sich selbst
Kreuz – ganz plötzlich und unerwartet
Kreuz – vor unseren Türen!

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Dies ist eine klare Botschaft

Begann nicht so vieles oft nur mit einem Wort? Wie wahr, wird mancher von Ihnen sagen und sich erinnern: Mit einem Wort begann eine große Liebe. Es reichte ein Wort, und Menschen zogen in den Krieg. Ein Wort nur, und Versöhnung wurde möglich. Ein Wort, und ein Schicksal wendete sich. Sag doch, sag doch bitte nur ein Wort, so manch flehende Bitte, die hofft auf nur ein Wort!

Fast jedes Ereignis wird von Worten begleitet. Am Anfang so mancher Entwicklung, ob nun erfreulich oder belastend, steht ein Wort. Inflationär ist das als verlässlich gepriesene Wort von Liebe und Vertrauen. Worte, nichts als Worte, so die Erkenntnis des Enttäuschten, und trotzdem sehnen sich Menschen immer wieder, mit nur einem Wort ganz gemeint zu sein: geliebt, angenommen, geborgen.

Auch der Evangelist Johannes erinnert: „Am Anfang war das Wort…“. Gemeint ist der Anfang der Schöpfung. Alles hat mit einem Wort begonnen, und alles ist auf Grund dieses Wortes auch heute noch im Werden.

Welche Qualität aber hat das Wort, und überhaupt: Wie lautete dieses Wort, das nach Johannes „bei Gott war“, und noch verdichteter, „das Gott selbst war“? Hieß das Wort des Anfangs „Liebe“, weil Gott in der heiligen Schrift als die Liebe bezeichnet wird, „Herrschaft‘, weil Gott über alles herrscht, oder „Bund“, weil Gott immer wieder den neuen Anfang mit dem Menschen wagt?

Der Verlauf der Geschichte Gottes mit dem Menschen entfaltet – das ist aus dem Glauben heraus nachzuzeichnen -, dass das Wort des Anfangs keine objektiv einholbare Aussage darstellt, sie war eine Berührung und ist es noch. Das göttliche Wort des Anfangs kann vom Menschen erst in dem Augenblick seiner Konsequenz, seiner unmittelbaren Auswirkung vernommen werden:

Indem es bereits schon bewirkt hat, was es ist, indem der Wille Gottes als schon erfüllt in der Schöpfung geworden ist. Anders gesagt: Das Wort Gottes ist absolut verlässlich, weil es nur als erfülltes Wort dessen zu haben ist, was es aussagt.

Johannes schildert das Ereignis der heiligen Nacht, die Geburt Jesu Christi mit den Worten „und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Das gleiche Ereignis der Menschwerdung des göttlichen Wortes schildert der Evangelist Lukas mit seiner Erzählung von der Geburt Jesu in einem Stall, mit Maria, Josef, den Engeln, dem Stern und den Hirten.

Beide Erzählweisen, sowohl die abstrakt-theologische des Johannes wie auch die anschauliche Erzählung des Lukas vom Kind in der Krippe, sind in der Qualität dessen, was sie uns mitteilen, nicht zu überbieten. Auch wenn er nicht daran gebunden ist, so ereignet sich der zeitlose Wille Gottes, sein Wort, in dem Moment, wo wir diesen Willen wahrnehmen – also bei der Geburt des Kindes. So berührt das Wort Gottes die Welt in einem Kind, dem Wort Gottes, das er selbst ist.

Wie aber begegnet der mit Glauben beschenkte Mensch dieser göttlichen Offenbarung, die einmalig geschehen ist in der Fleischwerdung des Wortes, die aber immer auch gegenwärtig wird, wenn Menschen sich an dieses Geheimnis feiernd erinnern – wie jetzt an Weihnachten?

Die angemessenste „Reaktion“ kann nur eine kompromisslose sein, ohne Wenn und Aber, ohne „vielleicht“ oder „ich muss mal sehen“. Wenn Gott berührt, dann kann die Antwort nur lauten: „Dich wahren Gott ich finde in meinem Fleisch und Blut, darum ich fest mich binde an dich mein höchstes Gut. Eja, eja, an dich mein höchstes Gut.“ Friederich Spee verdichtete seine Antwort 1637 in diesen uns eher fremd klingenden Worten, die wir aber Weihnachten gerne singen als die vierte Strophe des Liedes „Zu Betlehem geboren …“.

Formulieren wir sie zeitgemäß, aber nicht weniger eindeutig:

Meine Versicherung = Gott,
mein Reichtum = Gott,
meine Motivation = Gott.

Ein klares Wort, eine klare Botschaft!

Erschienen in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 21.12.2003
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Stell dich dem Blick eines Kindes

Zephanja ruft: „Fürchte dich nicht!“ Paulus verkündet: „Freut euch im Herrn alle Zeit.“ Heute sind auch wir diejenigen, die gerufen sind von der Menschwerdung Jesu, dem Grund unserer weihnachtlichen Freude zu erzählen. Ein „Weihnachtsbrief in stiller Nacht“ ist eine Möglichkeit:

Lieber Freund,

bald klingt wieder ein Jahr aus das wir mit vielen Menschen gemeinsam erleben durften, und in dem Fremde zu Vertrauten wurden, so wie auch wir. Welch ein Reichtum. Nun liegt vor uns diese besondere Nacht. Von ihr möchte ich dir heute erzählen.

Von diese Nacht die eingetaucht ist in Licht und Freude, die aber auch die Trauer, die Sehnsucht und das Elend vieler Menschen nicht vergessen macht. Diese Nacht, in der wir ein Kind entdecken, die Radikalität seines Daseins jedoch uns entdeckt!

Diese Nacht der grenzenlosen Liebe weiß auch um dich, um deine Gefühle und Empfindungen, um deine Geschichte. Denn der menschgewordene Gott nimmt dich unwiderruflich ernst. Sein Ja gilt dir. Begegnest du ihm, so wird er deine Hände nehmen, er wird dich anschauen, deine Worte hören – ganz gesammelt -, jedes in seinem Herzen bergend. Dein Gestern und dein Eben, bei ihm kannst du es lassen, dich lassen, dich ihm überlassen, mit all deinen Erinnerungen, mit deiner Freude und deiner Enge, mit deinen Hoffnungen, den wachen und den längst begrabenen.

Dich ihm überlassen, mit deinen dir vertrauten Menschen, deren Gesichter jetzt vor deinen Augen Kontur gewinnen. Dich ihm überlassen, mit deiner Größe, deiner Kleinheit, mit allem was du bei dir trägst, dem Belastenden und dem Befreienden.

Was dich betrifft, bewegt oder zur Ruhe kommen lässt, es gehört in dieser kommenden Nacht zu dir. Mach dich schon heute auf den Weg durch das Dunkel der Nacht zur Mitte dieser Heiligen Nacht. Lege beiseite was deinen Blick verstellt, was dich betrübt, und lege die Früchte deiner Freude in deine Tasche und geh zur Krippe.

Du findest sie nicht im Trubel, nicht dort wo die meisten Menschen stehen, nicht wo’s am Hellsten zu leuchten scheint. Nein, es ist alles sehr unscheinbar, ein Ort, namenlos und alle Namen tragend, ein Stall, eine Ecke, unter irgendeiner Brücke.

Du findest die Krippe! Kleine Lichter spenden ihr Licht, sie scheinen, als wollten sie Sterne sein. Die Stille, die bis zum Überlaufen angefüllt ist mit Freude und Hoffnung, sie wird dich anziehen. Geh weiter, geh mutig weiter! Die Alten und die Kinder, all die unscheinbaren Gestalten sind schon da! Stell dich zu ihnen!

Ihre Blicke und alles was sie zu sagen in der Lage sind, diese Blicke, die je eine Lebensgeschichte bergen, diese Blicke ganz aufgeschlossener Menschen, trauen ihren Augen. Sie haben den Blick des Kindes gekreuzt, sie haben standgehalten, sich durchblicken lassen. Ihre Blicke sind nun gesammelt in den Augen eines Kindes, den Augen Gottes. In all ihrer Schwachheit, Kleinheit und Menschlichkeit, in all ihrer Größe und Einmaligkeit sind sie in den Blick genommen. Stell dich zu ihnen, stell dich dem Blick eines Kindes!

Keiner hat seine Zelte bei der Krippe aufgeschlagen, sie haben sich „anstecken“ lassen, und was sie dann wieder nach Hause trieb, ist stärker als das Licht ihrer kleinen Lampen. Sie tragen ein neues Licht in ihren Herzen, und ihre Augen können und wollen es nicht verbergen. Und wenn du nun, lieber Freund, zurückkehrst zu denen, mit denen du diese Heilige Nacht feiern möchtest, und wenn ihr euch dann gemeinsam an die schönen alten Zeiten erinnert, und wenn diese Menschen dir dann sagen: Wie früher, unverändert, du seiest ganz der Alte! Dann frage dich, lieber Freund, ob du wirklich an dieser Krippe warst.

Erschienen in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 14.12.2003
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Schätze laden ein

Eine Kooperation zwischen der Katholischen Hochschulgemeinde Aachen (KHG) und der Aachener Domschatzkammer

Sie trauten ihrem Talent, die mittelalterlichen Gold- und Silberschmiede sowie die heute oft namenlosen Maler, Steinmetze und Meister textiler Gestaltung jener Epoche.

Durch den notwendigen Broterwerb getrieben und motiviert von ihrer religiösen Ergriffenheit, die ihr Handwerk – so wie wir es heute betrachten dürfen – zu veredeln in der Lage war, überzeugten diese Handwerker‘ die reichen und mächtigen Persönlichkeiten ihrer Zeit davon, dass sie die wirklich Begnadeten seien, die zum Lobe Gottes und derer, die daran partizipieren wollten, mit Edelmetall, Edelstein, Farbe, Pinselführung, Stein und Faden Unvergängliches zu schaffen in der Lage waren.

Der Besucher im Angesicht des Schatzes

Heute gehören die von ihnen geschaffenen und uns erhaltenen Meisterwerke, aufbewahrt und konserviert im Aachener Dom und seiner Schatzkammer, zum bedeutendsten mittelalterlichen Kirchenschatz nördlich der Alpen, und sie dürfen zum Weltkulturerbe gezählt werden.

Dieses kunsthistorische Erbe gesehen zu haben, ist nicht nur für Fachleute ein Muss.

So betreten jährlich ca. 1 Million Menschen die hohe Domkirche. Etwa 300.000 Besucherinnen und Besucher der Kaiserstadt werfen einen Blick auf den außergewöhnlich präsentierten mittelalterlichen Nachlass in der Schatzkammer des Domes.

Viele dieser Interessierten überlassen sich bewusst sich selbst bei dem Versuch, die historischen Zeugnisse zu erschließen, als freiwillige Autodidakten, und schlendern, von optischen Reizen geleitet, durch die Schatzkammer und den Dom in der Gewissheit, aufgrund irgend einer allen Menschen innewohnenden Eigenkompetenz nichts Wesentliches wirklich verpassen zu können. Andere, oft partiell sachkundigere Zeitgenossen vertrauen sich lieber einem der kunsthistorisch geschulten Führer an, die live und nicht aus der Konserve Wissenswertes über den Schatz und seine Hintergründe in freundlicher Kommunikation vermitteln. So betrachtet unterschiedlich intensiv der Tourist sein Gegenüber, den Aachenschatz. Dem geführten Besucher werden Informationen auf kleinen Schrifttafeln an den Vitrinen präsentiert. So wird das Entstehungsjahr und der Titel des Exponates verraten, dazu noch einige kunsthistorische Daten aus heutiger Sicht sowie Angaben über das damalige gesellschaftliche Umfeld der Ausstellungsstücke angedient. Grundsätzlich aber ist davon auszugehen, dass der Besucher lediglich die Außenansicht der Exponate in den Blick nimmt, im Sinne einer Draufsicht!

Heute ein Schatz, aber gestern ein geschätzter Funktionsgegenstand

Hier darf die Tatsache nicht übersehen werden, dass keines der heute unter musealen Bedingungen ausgestellten Kleinodien mittelalterlichen Handwerks jemals dazu geschaffen wurde, hinter Glas den Blicken heutiger Betrachter dargeboten zu werden.

Was heute, bei konstanter Temperatur aufgehoben, gelangweilt oder begeistert angeschaut werden darf, waren ursprünglich keine Kunstwerke, sondern von besonders begabten Handwerkern gestaltete Gegenstände, die in erster Linie für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren. Ihre außergewöhnliche und aufwändige Gestaltung lag nicht in dem Bestreben der Schaffenden, von ihrer Nachwelt Künstler genannt zu werden, sondern in der Tatsache, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dem gerecht zu werden, der erstes Ziel allen liturgischen Handelns war und ist: Der verehrenswürdige Gott, der von ihnen als ein anwesender und somit für ihre Existenz lebensrelevanter Gott erfahren wurde.

Diese Gegenstände des Kultus hatten hinweisende, erzählende, bergende und dienende Funktionen. Eine Monstranz z.B. diente während einer Prozession dazu, auf das Zentrum des christlichen Eucharistieverständnisses, die Gegenwart Jesu Christi im eucharistischen Brot, hinzuweisen. Die Karlsbüste dient im Sinne der mittelalterlichen Reliquienverehrung der Begegnung mit dem verstorbenen und lokal als Heiligen verehrten Kaiser Karl. Ein Retabel, der Aachenaltar, hatte die Funktion, den Gottesdienstbesuchern der damaligen Zeit im Verlauf einer sprachlich oft nicht nachzuvollziehenden Liturgie das Mysterium des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi im Bild zu vergegenwärtigen.

So dienten diese Gegenstände nicht nur der religiösen Sinnorientierung unserer Vorfahren, sondern sie waren hinweisende Zeichen, vergewissernde Anschauungsobjekte, Schmuck für das nicht Fassbare und Blickfang für das Verehrungswürdige. Diese Gegenstände verwiesen auf den Horizont der Antwortfindung der damaligen Menschen, bezogen auf ihre existenziellen Sinnfragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, die Bedeutung von Leid, Schmerz und Liebe und nicht zuletzt auf die Frage nach der ewigen Wahrheit.

Heute wird der Schatz fast ausschließlich unter kunsthistorischen Aspekten Interessierten erschlossen, aber seine Funktions- und Bedeutungsgeschichte sowie die dahinter liegende religiöse und lebensrelevante Intention bleiben den meisten Besuchern verschlossen.

Darf dieser Schatz mehr bewirken, als ihm anzusehen ist?

Viele der Touristen, so wird angenommen, scheint das, was über den kunsthistorischen Aspekt des Schatzes hinausgeht, nicht zu interessieren.

Aber sollte es nicht das aktuelle Interesse der Hüter dieses Schatzes sein, für die damalige Intention des wertvollen Erbes die heutigen Besucher zu interessieren? Wäre es nicht klug, die Domschatzkammer darüber hinaus auch zu einem Ort zu machen, an dem die existenziellen Fragen der Menschen heute ernst genommen werden, Fragen, z.B. nach dem Sinn und dem Ziel des Lebens, nach Gemeinschaft, Liebe, Leid und Vergänglichkeit im Sinne eines möglichen Horizontes von Antworten gestellt werden dürfen? Denen also, die vordergründig kein Interesse zeigen, weil sie ja auch nicht wissen, woran sie Interesse haben sollen, die Chance anzubieten mehr zu erfahren und zu erspüren, als sie auf den ersten Blick entdecken können?

Sicherlich kann der Schatz aus sich heraus und ohne Zugangshilfe nicht mehr erzählen, als an ihm abzulesen ist. Ebenso normal scheint es zu sein, dass die Betrachter, ohne die Möglichkeit biographischer Anknüpfungspunkte mit ihren Augen nur anschauen, um dann das Gesehene nach Maßgabe eigenen Wissens und Beurteilens entsprechend einzuordnen. Der Erfolg solcher „Begegnung“ macht sich oft in spontanen Aussagen Luft wie „welch ein historischer Genuss“ bis hin zu „wat‘ ne Menge glänzendes Blech“

Grundsätzlich ist hier überhaupt zu fragen, ob es von den Verantwortungsträgern mit Blick auf die Besucher gewollt ist, mehr mit den Exponaten einer Schatzkammer zu bewirken, als dass sie kunsthistorisch eingeordnet werden. Es wird immer Fachleute“ geben, die es für einzig erstrebenswert halten, dass die Betrachter als Unbeteiligte einfach auf das Exponat schauen, im Optimalfall verzückt seine Historie rühmen und das Geschick der längst verblichenen Hände derer, die es geschaffen haben, um dann beruhigt weiter zu gehen in der Gewissheit, wieder aus einer kulturellen Bonbonniere genascht zu haben. Zwar mag so der Kunsthistorie Genüge getan sein, nicht aber der ursprünglichen Intention des betrachteten Objektes und auch nicht seiner Möglichkeit, eine Chance zu sein bezogen auf die Deutung des Lebens der Menschen heute.

Menschen, die in einer sich ständig beschleunigenden Zeit Orientierung suchen, brauchen in einer säkularisierten Gesellschaft Orte, die frei sind von aufdringlichen Ideologien, an denen es möglich ist, sich über ihre wesentlichen Fragen vergewissern zu können, deren zumindest fragmentarische Beantwortung eine Lebensqualität darstellt.

Ein solcher Ort kann eine Domschatzkammer sein. Der Schatz beantwortet zwar die Fragen des Menschen nach Sinn nicht, er kann aber Ausgangspunkt einer Antwortsuche sein. Darüber hinaus brauchen wir dem Aachener Schatz auch nicht zu unterstellen, dass er sich seines religiösen Ursprungs wegen „schämen“ würde. Von daher müssen auch wir uns nicht der eigenen Erkenntnis schämen, dass der christliche Glaube durchaus in der Lage ist, so mancher existentiellen Frage der Menschen heute eine Perspektive zu geben. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich der Meinung bin, eine Domschatzkammer müsse zu einem christlichen Missionsgebiet erklärt werden mit dem Ziel, möglichst viele ihrer Besucher vom christlichen Glauben zu überzeugen um so das Kirchensteueraufkommen ein wenig aufzupäppeln. Dies wäre ein eklatanter Trugschluss.

„Kunsthistorie, die fesselt … Theologie, die berührt …“

Dem oben genannten Anliegen Geltung zu verleihen, war der Grund für eine bis heute andauernde Veranstaltungsreihe, welche die Katholische Hochschulgemeinde Aachen in Kooperation mit der Aachener Domschatzkammer erstmals im Sommersemester 2000 unter dem Obertitel startete: „Theologie im Gespräch“. Diese eher unverfängliche Überschrift spitzten wir mit Blick auf die im Sommer 2000 stattfindende Aachener Heiligtumsfahrt zu mit dem neuen Titel „Glaube provoziert“. Bei der ersten Teilveranstaltung stellten wir das Lotharkreuz und bei der zweiten die Aachener Heiligtümer in den Mittelpunkt der kunsthistorischen, theologischen und lebensrelevanten Auseinandersetzung. Hier sollte es eben nicht um staubtrockene Theologie und keimfreie historische Einordnung gehen, sondern um den Versuch, in der Begegnung mit dem kunsthistorischen Objekt und seiner kritisch-theologischen Deutung die Teilnehmer in ihren eigenen Biographien anzusprechen. So kann es gelingen, aus heutiger Sicht kunsthistorische Zeugen der Vergangenheit davor zu bewahren, nur wertvoll und interessant zu sein, aber nicht lebensrelevant.

Dass das gelingt, zeigte das Gespräch im Anschluss an die Betrachtung des Lotharkreuzes in oben genannter Intention, als ca. 20 Studierende im Quadrum des Domes bei sommerlichen Temperaturen um die Ampel des alten Kapitelfriedhofes versammelt waren und eine Studentin engagiert feststellte: „Dieses Kreuz hat etwas mit dem Tod meines Babys zu tun!“ Solche Betroffenheit sollte kein Einzelfall bleiben.

Dr. Georg Minkenberg, Leiter der Domschatzkammer Aachen, und ich spürten so, auf einem den Kunstwerken und den Betrachtenden entsprechenderen Weg zu sein, und wir widmeten uns in den folgenden Semestern unter anderem nachfolgenden Themen und Exponaten:

  • „Abbilder einer Hoffnung – Einblicke ins Jenseits“, der Proserpina-Sarkophag und die Karls-Büste.
  • „Maria von Magdala – Eine Provokation, die eine Gesellschaft an ihre Grenzen führt“, die Darstellungen der Maria von Magdala auf den Altarretabeln.
  • „Engel mit unterschiedlichen Gesichtern – Projektionen der Gottesbilder ‚ihrer‘ Zeit“, die Engeldarstellungen im Aachener Dom.
  • „Glaube zwischen Wissenschaft und Anbetung“, der Georgs-Altar.
  • „Leben in Gemeinschaft zwischen Vision und Scheitern“, die Architektur der alten Kapitelanlage.
  • „Handschriften, ein Lebensgefühl – Zeugnisse vergangener Lebensart“, die historische Kapitelbibliothek.
  • „Spuren des Islams“, die Zeugnisse dieser Weltreligion im Aachener Weltkulturerbe.

Doch sollte es nicht nur bei dieser Themenreihe bleiben, die schon im Sommersemester 2001 einen neuen Obertitel erhielt, „Kunsthistorie, die fesselt Theologie, die berührt“, um klarer zu signalisieren, dass wir die Besucher immer stärker zu Beteiligten machen wollen.

Aktion „Nacht Schatz“ in der Domschatzkammer

Vom Engagement einiger Domführer mitgetragen – im Regelfall sind das Studierende der Hochschulen Aachens -, setzten wir in dieser bewährten Kooperation einen neuen Akzent, Anlass war ein besonderer Tag für Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen der Heiligtumsfahrt des Jubiläumsjahres 2000. Wir gaben diesem einmaligen Datum, bezogen auf die nächtliche Veranstaltungszeit und den Ort, den Titel „Nacht Schatz“:

Über 600 Besucherinnen und Besucher erlebten in den späten Stunden dieses Tages die Aachener Domschatzkammer nicht nur in einem anderen Licht, sondern die so manchem Aachener altvertrauten Exponate wurden mit Akzentuierungen versehen, die über die kunsthistorische Bedeutung hinaus eine Anregung darstellten, sich als Besucher intensiver mit den Stücken auseinanderzusetzen.

Die „sprechende“ Karlbüste

Als erstes begrüßte die Besucher in dieser Nacht eine „sprechende“ Karlsbüste. Vor der bekannten Karlsbüste stellten wir unübersehbar einen CD-Player auf und programmierten ihn auf Endloswiedergabe. Hier ein Auszug aus der kaiserlichen“ Ansprache:

„… Ganz nebenbei bemerkt, die Krone, die ich heute trage, ist später entstanden als mein Kopf, so um 1349.
Manchmal fragt man mich: Warum gibt es dich eigentlich? Also, das ist gar nicht so leicht zu erklären! Versuchen wir es mal so!
Wenn Sie jetzt alle so ungefähr 2,50 Meter groß wären oder ein kleines Leiterchen zur Hand hätten, dann könnten Sie mir mal auf’s Haupt schauen und würden eine interessante Entdeckung machen!
Da ist nämlich ein runder Deckel und darunter ist die Schädeldecke Karls des Großen zu sehen.
Aber langsam, ich muss etwas weiter vorne anfangen.

Im 12. Jahrhundert wurde das Grab Karls geöffnet und ein Teil seiner Gebeine in den prächtigen Karlsschrein gelegt, der heute im Dom steht. Zugegeben, die Gebeine Karls wurden ganz schön verteilt, eine ganze Menge blieb in Aachen, ein paar Knochen kamen in Kirchenkammern nach Paris und noch an andere Orte.

Der Grund dafür: Karl war auch noch nach seinem Tod ein wichtiger Mann, den man nicht vergessen wollte. Einige verehrten ihn als Heiligen! Das tun auch heute noch viele Menschen hier in Aachen. Dabei ist Karl gar kein richtiger Heiliger, denn an seinem Todestag feiert niemand Namenstag – so wie das bei anderen Heiligen der Fall ist. Aber das wissen Sie ja bestimmt, oder?

Kennen Sie eigentlich ihren Namenspatron, wenn ich das einfach mal so fragen darf? Was halten Sie davon, mal etwas über ihren eigenen Namenspatron nachzulesen, wie er gelebt hat, was er leistete und wie er gestorben ist, das ist oft sehr interessant.

Pardon, ich schweife wieder ab, nehmen Sie es mir bitte nicht übel.
Also, noch mal zurück zu der Frage, warum die Knochen von Karl dem Großen so wichtig für viele Menschen sind! Da ist etwas geschehen, das Sie selbst wohl auch kennen. Es geht Ihnen doch auch manchmal so? Ein ganz, ganz lieber Mensch hat Ihnen eine Rose geschenkt oder einen liebevollen Brief geschrieben. Auch wenn dieser Mensch nicht mehr für Sie zu erreichen ist und gerade dann, heben Sie diesen Brief an einem ganz besonderen Ort auf, und die Rose wird gepresst, bevor sie ganz vergeht, und dann in eine schöne Schachtel gelegt, ins Tagebuch oder an einen für Sie etwas heiligen Ort! Sie kennen das doch auch, oder?

Und so ähnlich ist das mit den Reliquien von Karl! An ganz vielen Orten wollte man ihn ganz nahe spüren. Deswegen war man an seinen sterblichen Überresten sehr interessiert …“

Soviel aus den „Plaudereien“ der Karlsbüste in dieser Nacht, die den Zuhörern unter anderem die Gelegenheit gab, die Bedeutung dieser Büste in Verbindung zu bringen mit dem Umgang mit den eigenen „modernen“ Heiligtümern. Gehen wir aber nun einige Schritte weiter.

Plutos Raub der Liebe aktuell

Schweigsamer war es am Proserpina-Sarkophag, der mutmaßlich ersten Grablege Kaiser Karls. Wir leuchteten nur eine Szene des antiken Bilderzyklus aus, das Gesicht der geraubten Proserpina und das Gesicht des sie stehlenden Pluto. Hinter diese Szene auf seidig schimmerndem Tuch lud folgender Text ein, mehr zu spüren, als zu sehen war:

Hinter uns dieser Augen-Blick zum Tod

Gier
leerte seinen Blick
zerrte mit habsüchtigem Griff schon fliehend
an sich
was Ohnmacht zerbrach in Ergebung
und kein Mund je flüstern wird

Wie kannst du Liebe
stehlen, an dich reißen, gar erzwingen

Nur zu hoffen ist dir geschenkt
ob Liebe träumend dir
sich zuflüstern mag

Diese steinernen Augen sind eben, alt
ihre brutale Armut gleich, alltäglich

Skandal des Lebens in den Tod
Dich einzig
der Liebe Flüstern
wecken kann

So wurden an verschiedenen Orten in der Domschatzkammer unter Zuhilfenahme von Rauminstallationen die mittelalterlichen Exponate in einen aktuellen, lebensrelevanten Kontext gestellt. Der Raum, in dem u.a. der Aachenaltar und die Monstranz des Hans von Reutlingen ausgestellt sind, bereichert in deren Mitte um einen schlicht gedeckten Tisch mit acht Stühlen, lud ein, über das Thema beschenkte Gemeinschaft“ nachzudenken. Im Marienraum setzte ein Fries von über 100 Frauenbildern in unterschiedlichen Lebenssituationen die verschiedenen Darstellungen der Lebenssituationen der Gottesmutter fort. Im Reliquienraum, der unter anderem die kleinen“ Aachener Heiligtümer birgt, konnten durch eine Vitrine hindurch, in die wir ungefasste Knochenreliquien gelegt hatten, stetig wechselnde Bilder pulsierenden Lebens heutiger Menschen betrachtet werden. Der hier angesprochene Impuls bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.

Die Ausstellung „Schatzansichten“

Nicht ganz ein Jahr später lud die Ausstellung „Schatzansichten“ in die Schatzkammer ein. Diese Kooperation zwischen der Domschatzkammer und der KHG sollte die bisher gemachten guten Erfahrungen zu einem neuen Höhepunkt führen. Im Grußwort der die Ausstellung begleitenden Buchveröffentlichung schreiben der Bischof von Aachen, Dr. Heinrich Mussinghoff, und der Aachener Dompropst, Dr. Hans Müllejans:

„Der Dom und sein Schatz haben ihren tiefsten Sinn nicht in der Bewunderung, sondern in der Verkündigung des Wortes Gottes: Gottes Wort in Menschen Wort und Gottes Wort in dieser Kunst. Die Botschaft jener Verkündigung auf eine Kurzformel gebracht heißt: Du, Mensch, darfst Gott an deiner Seite wissen und hast mit Ihm eine Zukunft über all dein Stolpern hinaus, selbst über jenen letzten Sturz, den in den Tod. Der Verkündigung dieser Botschaft dient auch die vorliegende Veröffentlichung des Aachener Hochschulpfarrers Christoph Stender.

Getragen von dem Glauben an die unverdunkelbare Liebe Gottes, das Geschenk des Lebens, so wie jeder Mensch es in sich spürt, und von seiner Sympathie für die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche, gestaltet Pfarrer Stender ins Wort, was diese Schätze, was der Dom selbst nicht nur Christinnen und Christen verkünden will: Die Botschaft Gottes, an unserer Seite zu sein, da er will, dass das Leben eines jeden Menschen gelingen möge …“

Die Autoren dieses Grußwortes schließen: „… So wünschen wir uns, dass diese ‚Schatz Ansichten‘ dazu beitragen, die Betrachterinnen und Betrachter in der Hoffnung zu stärken, dass uns der Gott der Liebe nicht allein lässt, auch wenn wir uns manchmal fragen: Gott mein Gott, warum glaube ich mich so verlassen?“1

Schon dieses Grußwort machte deutlich, dass für die Zeit dieser Ausstellung das Vorzeichen der musealen Konzeption dieser Schatzkammer wesentlich erweitert werden würde. Zu dem historischen Schatz trat nun ein Bekenntnis. Dieses Bekenntnis zum Glauben an Gott und zur Liebe am Leben sollte den historischen Schatz aber nicht in den Schatten stellen. Der Schatz blieb der Vordergrund, das Bekenntnis bildete den Hintergrund. Es ging hier auch nicht darum, die Besucher dieser Ausstellung zu missionieren. Ziel der Ausstellung war es, bei Menschen anzuklopfen mit der Bitte, über den Blick auf den Domschatz hinaus sich selbst in den Blick zu nehmen. Die Brücke, über die der Besucher eingeladen war, vom klassischen Exponat ausgehend, bei sich selber anzukommen, bildeten lyrische Texte. Diese wurden durch moderne Medien und andere ansprechende Präsentationstechniken den Besuchern vor Augen geführt. (Einen optischen Eindruck dieser Ausstellung vermittelt die Homepage www.christoph-stender.de unter der Rubrik Projekte/Schatzansichten.)

Lyrik jenseits von richtig und falsch

Was ist das Maß einer solchen Lyrik, die in dieser Ausstellung präsentiert wurde? Das Maß, mit dem Lyrik zu messen ist, findet sich nicht in den Wertungen richtig oder falsch. Diese Kategorien richtiger und falscher Beschreibung, die im so genannten Bivalenzprinzip beheimatet sind, sind Kriterien der Wissenschaft.

Lyrik aber untersteht nicht diesem Bivalenzprinzip. Lyrik bildet das Allgemeine im Besonderen ab. So kann man von der Lyrik höchstens sagen, sie sei adäquat oder nicht. Lyrik bringt eine subjektive Wahrnehmung zum Ausdruck, die andere Menschen teilen können oder nicht. Ich erhob also nicht den Anspruch, objektive Lyrik zu präsentieren. Lyrik kann ein Gewinn an Erkenntnis sein, die über die Beschreibung eines Gegenstandes hinausgeht.

Meine Intention war, mit diesen lyrischen Texten einfache, bescheidene und zerbrechliche Brücken zu bauen zwischen dem Betrachtenden und den Exponaten. Solch eine Ausstellung zu wagen, machte mich selbst auch verletzlich, denn schließlich gebe ich mit meinen lyrischen Texten auch etwas von mir preis.

Diese Ausstellung und ihre Lyrik sind vergänglich

Das konnte und wollte ich in meinem Statement zur Pressekonferenz am 27. April 2001 auch nicht verbergen:

„Der Funke, der diesem Ausstellungsprojekt zu Grunde liegt, ist über 30 Jahre alt. Zwei Drittel meines Lebens schlummerte er, von keinem geringeren als dem damaligen Domkustos Prälat Dr. h.c. Erich Stephany durch eine Domführung in mir entfacht. Vor über einem Jahr wuchs der kleiner Funke zu dieser Idee einer Ausstellung mit dem Titel „Schatzansichten“.

Oft hat mich in den vergangenen Monaten die Frage bedrängt, ob es eigentlich legitim sei, mit meinen lyrischen Texten und einer modernen Präsentationstechnik diesen ehrwürdigen Schatz, für begrenzte Zeit, in einem anderen Kontext zu zeigen, um so die Sehgewohnheiten der Betrachtenden dahingehend zu verändern, dass sie mehr sehen. Durfte ich diesem Schatz meine Gedanken leihen und sie dann auch noch anderen zugänglich machen? Würde man mir nicht eventuell Zeitgeistmentalität vorwerfen können?

Immer wieder versuchte ich mich mit der Intention dieser Ausstellung zu beruhigen, diesem Schatz meine Worte zu leihen, damit in ihm mehr entdeckt wird als ein Schatz von außerordentlichem Wert und kaum überbietbarer Qualität. Immerhin bin ich berechtigt der Oberzeugung, dieser Schatz erschließe in seinen Ansichten Aussagen, die dem Menschen unserer Zeit Konkretes auf das eigene Leben bezogen sagen können. Auch meine bisher gemachte Erfahrung gab mir Recht. Denn jenen Menschen, denen ich diesen Schatz in seiner religiösen und lebensrelevanten Dimension erschließen durfte, sahen nun diesen Schatz mit anderen Augen, und sie entdeckten mehr als nur ein kunstvolles Kulturerbe. Schließlich aber gab mir der Schatz selbst die beruhigende Antwort auf meine mich verunsichernde Frage. Die Veränderungen, z.B. der Präsentation der Reliquien im Laufe der vergangenen Jahrhunderte, machen deutlich, dass immer wieder die aktuelle Lebenssituation und die daraus erwachsenen Sehgewohnheiten in der Gestaltung der Kunstwerke Berücksichtigung gefunden hatten. Nur aus dieser Tatsache heraus erklärt sich, dass eine Veränderung in der Präsentation der Reliquien auch in Aachen stattgefunden hat, und zwar von der verbergenden Darstellung der verehrten Reliquien hin zur sichtbaren.

In den sich wandelnden Zeiten wurde immer wieder versucht, den betrachtenden und verehrenden Menschen Brücken zu bauen, damit sie einen Zugang zu den Schätzen finden konnten.

In dieser Ausstellung verändern wir allerdings an den Exponaten nichts! Wir bauen einfache, zerbrechliche Brücken, auf denen der betrachtende Mensch eingeladen ist, diesen Kunstwerken zuzuhören, auch wenn die Worte ihnen nur geliehen und subjektiv sind […]. Diese Ausstellung allerdings erhebt nicht den Anspruch, dauerhaft neben und mit dem wohl bedeutendsten Kirchenschatz nördlich der Alpen ihre Zukunft zu verbringen. Diese Ausstellung und ihre Lyrik sind vergänglich und werden auch bald einfach wieder verschwinden […].

Zurück bleibt dieser alte Kirchenschatz in seiner gewohnten Art der Präsentation. Nur die Erinnerung einiger Besucher dieser Ausstellung wird Zeugnis: Da war doch mal was. Dann aber werden andere gerufen sein, diesem Schatz ihre Sprache und Zuneigung zu schenken.“

Reaktionen

Über 40.000 Besucher der Domschatzkammer hatten die Gelegenheit, sich im Rahmen ihres Besuches der Aachener Schätze auch von dieser Sonderausstellung ansprechen zu lassen.

Über diese Menschen nun in Zahlen zu erheben, was in ihnen bei der Betrachtung dieser Ausstellung vorgegangen ist, ist nicht möglich. Von den über 2000 in 50 Sonderführungen begleiteten Gäste aus Hamburg, München, Köln, Berlin, Frankfurt und Trier, um nur einige Orte zu nennen, können wir mehr sagen. Sie wollten sich ganz bewusst der Herausforderung dieser Präsentation stellen und gingen, so die unmittelbaren Rückmeldungen, ergriffen, bereichert, entdeckend, betroffen, erstaunt, dankbar und ermutigt nach Hause und mit ihnen Nachdenklichkeit.

Andere brachten ihrer Begeisterung in Briefen zum Ausdruck, so z.B. mit dem Hinweis: „Ich war nun schon über fünf Mal in Ihrer Ausstellung, immer mit anderen Bekannten, es lohnt sich einfach, schade dass diese Ausstellung zeitlich begrenzt ist.“ Viele Menschen sprachen mich an und wertschätzten im Besonderen die ansprechende Art, durch die diese Ausstellung die eigenen Sehgewohnheiten verändert hat.

Bei dem kleinen Festakt anlässlich der Beendigung der Ausstellung bemerkte der Leiter der Domschatzkammer, Dr. Georg Minkenberg: „Es macht immer etwas traurig, wenn wir eine Sonderausstellung wieder abbauen, aber uns bleibt ja noch das Buch, das zu dieser Ausstellung erschienen ist.“

monstrare

Für mich aber bleibt neben dem Buch „Schatzansichten“ und der Erinnerung an die eben geschilderten Veranstaltungen und Begegnungen die bleibende Provokation, gerade den vielen (Kunst-)Schätzen, die in Domschatzkammern aufgehoben werden, eine Stimme zu leihen, die den behutsamen Versuch darstellt, von diesen Schätzen mehr zu „haben“ als wir ihnen „ansehen“.

Enden möchte ich mit einem Text aus der Ausstellung „Schatzansichten“, den ich für die Monstranz des Hans von Reutlingen geschrieben habe. Diese Monstranz, wie auch jede andere, die in irgendeiner Vitrine in irgendeinem Museum dieser Welt ausgestellt wird, ist so präsentiert zum Symbol der eigenen Nacktheit und Funktionslosigkeit geworden, eben ein Kunstwerk.

monstrare

Edel anzuschauen
von Blicken gestreichelt
die ferne Schönheit zu berühren suchen
bist du doch leer und kalt
weil dir fehlt
was dein Körper
zu umfangen
geschaffen ist.

Schönster Leib
edel anzuschauen
mag dich streicheln
bist doch leer und kalt
wenn du durchschaut
nicht mehr als nur ein
Loch umgibst.

Edel anzuschauen
ist jeder Leib
gestreichelt
mehr zu bergen
als wir sehen:

Welch ein Mensch!

1 Stender, Christoph, Schatzansichten. Entfesselnde Wortschätze (Eupen 2001).

Erschienen in: Himmel auf Erden? Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Vereins für christliche Kunst im Erzbistum Köln und Bistum Aachen e.V., hrsg. von Dominik M. Meiering und Karl Schein, Köln 2003. (S. 210-222)
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