Fragmente des Nachdenkens über die Wechselbeziehungen von Kunst und Technik
Impuls zum technosophischen Seminar „Wir und unsere Welt von morgen“ des Rechen- und Kommunikationszentrum der RWTH Aachen, 21.05.2002 – 24.05.2002 in der Malteser Kommende, Ehreshoven
Veranstalter: Univ.-Prof. Dr. Dieter Haupt
Bildimpressionen aus 7 Jahrhunderten:
Diese Impressionen wollen zu Beginn des Vortrages das Auditorium optisch auf eine Perspektive des Themas einstimmen, das der Kunst.
- Nicola Pisano (um 1220 – vor 1284), Sängerkanzel, Polychromer Marmor
- Donatello (um 1386-1466), Heiliger Georg, Marmor
- Michelangelo (1475-1564), Sterbender Sklave, Marmor
- Jean Juste (1485-1549), Grabmal, Marmor
- Edgar Degas (1834-1917), Überraschte Frau, Bronze
- Constantin Brancusi (1876-1957), der erste Schritt, Holz
- Pablo Picasso (1881-1973), Gitarre. Blech/Draht
- Naum Gabo (1890-1977), Säule, Glas, Plastik, Holz, Metall
- Duane Hanson (1925-1996), Die Touristen, Polyersterharz, polychrome Glasfasern
- Johan De Andrea (*1941), Das Paar, Acryl auf Polyester, Haare
- Jeff Koons (*1955), Rabbit, Rostfreier Stahl
Schon diese Bilder machen deutlich, dass Kunstwerke nicht ohne eine bestimmte Technik zu schaffen sind. Egal welches Material der Künstler verwendet, er muss es immer mit einer bestimmten Technik bearbeiten, zusammenfügen oder sonst wie zielorientiert verändern. Neben natürlichen Materialien hat die Technik ihrerseits Materialien entwickelt, z.B. Edelstahl, Polyester, beschichtete Stoffe, Plastik, Plexiglas und Klebstoffe, die über die Funktionen der in der Natur vorfindbaren Materialien hinaus gehen.
Die Technik hat unterschiedliche Materialien entwickelt, derer sich die Künstler und Künstlerinnen bedienen und die so ganz neue Verarbeitungsweisen und Ansichten ermöglichen.
Technik und Kunst
Die Wechselbeziehungen zwischen Technik und Kunst können unter sehr unterschiedliche Aspekten betrachtet werden. Jedes Kunstwerk (z.B. Skulpturen, Gemälde, Installationen, Glasfenster, Fassaden) braucht, um überhaupt zu existieren, eine Technik des gegenständlichen Entstehens. Wer nicht mit irgendeiner Technik etwas werden lässt, hat nichts realisiert und produziert. Facto (machen/ verrichten) ist die Vorraussetzung für die Technik, sowie die Kunst. Der Tänzer, der sich keiner Bewegung bedient, steht einfach nur da. Die Sängerin, die ihr Stimmvolumen nicht in eine wie auch immer geartete Tonfolge zu Gehör bringt, singt nicht. Der Techniker oder Ingeneure, der ein Objekt nicht plant und entwirft, um es dann zur funktionsfähigen Ausführung zu bringen, produziert nicht usw.
Künstlerinnen und Künstler, egal welcher Profession bedürfen einer gewissen Technik um ihrem Talent Ausdruck zu verleihen. Die Technik, im Sinne des Objektes, wird selbst in sehr unterschiedlichen Verwendungen zum Gegenstand (Teilgegenstand) der Kunst gemacht Menschen, die eine ausgefeilte und hochmoderne Technik beherrschen, werden wiederum Künstler genannt. Eine Brückenkonstruktion z.B. kann neben ihrer Funktionalität zum Kunstwerk avancieren.
Formulierungen wie Kunst am Bau, Technikkunst, Klavierkonzert für Flügel und zwei Tonbänder oder Rauminstallationen stellen eine Beziehung von Kunst und Technik her. Darüber hinaus kann ich beispielsweise auch den Aspekten von Kunst und Technik in der mittelalterlichen Architektur unter Berücksichtigung religiöser Zahlenmystik betrachten oder in der Malerei der Frage nachgehen, in wieweit technische Gegenstände Motive der Maler und Malerinnen gewesen sind.
Grundsätzlich ist aber festzustellen, dass in der Vorstellung des „modernen“ Menschen die Bedeutungen der Begriffe Kunst und Technik längst nicht mehr so eindeutig sind, wie es noch im 20Jhd. schien. Heute haben wir, zumindest mit Blick auf den Begriff Kunst, in einem breiten „Kunstspektrum“ unterschiedliche Vorstellungen von dem, was wir für Kunst halten.
Versuchen wir uns zuerst, auch mit Blick in seine Geschichte, den Begriffen Technik und Technikbestimmung zu nähern.
Technik
Das griechische Wort Techne wird von den Anfängen philosophischer Reflexion bis Platon meist synonym mit Wissen (Episteme) verwendet u. meint: Sich auf etwas verstehen, mit einer Sache vertraut sein u. umgehen können. Aristoteles verändert und präzisiert den Begriff durch die Unterscheidung von Techne u. Phronesis (Klugheit), zweier Wissensformen, die es im Gegensatz zu Episteme (Wissen) mit Veränderbarem zu tun haben (Nicomach. E, Buch VI, 4 u. 5). So in den Zusammenhang einer neu konstituierten praktischen Philosophie gestellt, bedeutet T. ein auf generalisierter Erfahrung beruhendes u. nach lehrbaren Regeln vorgehendes Können im Herstellen von Gegenständen dinglicher (Werkzeuge, Gebrauchsgüter, Kunstwerke) oder geistiger Art (etwa sprachliche Gebilde), im Hervorbringen von Zuständen (der Gesundheit durch den Arzt) oder im Betreiben von Geschäften (die Techne des Handelns). T. ist die Fähigkeit, Vorgegebenes mit natürlichen oder selbst verfertigten Mitteln nach bestimmten Regeln auf einen gegebenen Zweck hin umzugestalten.
Dieser antike u. auch mittelalterliche Begriff von T. als menschlicher Kunstfertigkeit im weitesten Sinne, gewinnt eine neue, primär vom Resultat bestimmte Bedeutung durch die in der Renaissance beginnende Verschmelzung von T. u. Naturwissenschaft: Die praktische Naturbewältigung wird theoretisch durchdrungen, rekonstruiert und vorbereitet, die Naturwissenschaft selbst aufs engste mit künstlichem Gerät verbunden, definiert ihre Begriffe zunehmend „operational“ durch Schemata instrumentellen Handelns.
Die Verfeinerung überkommener und Entwicklung neuer Geräte bis hin zu Maschinen u. Systemen sich selbst regulierender Automation verlagert den Schwerpunkt der Tätigkeit vom Subjekt in eine objektivierte Welt der Mittel u. ersetzt immer mehr Funktionen des Menschen im Umgang mit der Natur u. mit seinesgleichen.
Durch die dem neuzeitlichen naturwissenschaftlich-technischen Denken immanente Tendenz, das Feld möglicher Machbarkeit bis ins letzte auszuschöpfen (T. als Resultat eines tendenziell universalen Herrschaftswillen. Heidegger), werden Potentiale der Natur freigesetzt u. Mittel der Produktion (u. Destruktion), des Verkehrs, der Information, der Organisation etc. geschaffen, die ihrerseits menschliches Leben und Zusammenleben nunmehr unhintergehbar bestimmen. Die Problematik der T. besteht darin, dass sie Natur wie gesellschaftliches Leben mehr und mehr in den Prozess technischer Funktionalität hineinzieht u. zu Momenten ihrer Rationalität macht, ohne die überkommene wie neu entstehenden Fragen handlungsorientierender Zwecksetzung u. Sinninterpretation beantworten zu können. Der immer stärkeren Rückwirkung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf den institutionellen Rahmen von Gesellschaft wie auf das Leben des Einzelnen korrespondiert keineswegs von selbst eine Zunahme praktischer Vernunft (Technikfolgen).(Lexikon der Ethik, Hrg. Otfried Höffe, 2002, Verlag C.H. Beck)
Für unser Thema heißt das: Technik wurde bis Platon als Fähigkeit verstanden, mit einer Sache umgehen zu können. In der Renaissance wird der Begriff Technik, der immer mehr mit den Naturwissenschaften korrespondiert, vom Resultat des instrumentellen Handelns bestimmt. Der Technikbegriff löst sich immer mehr vom Subjekt hin zu einer „eigenen“ Welt der objektivierten Mittel. Technik übernimmt Funktionen des Menschen.
Technikbestimmung in der VDI-Richtlinie 3780
„Technik im Sinne dieser Richtlinie umfasst:
- die Menge der nutzorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte* oder Sachsysteme);
- die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen;
- die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden.“ (VDI 3780, S.2)
*Artefact, das: 1. das durch menschliches Können Geschaffene, Kunsterzeugnis. 2. Werkzeuge aus Vorgeschichtlicher Zeit, das menschliche Bearbeitung erkennen lässt. ( Duden, Fremdwörterbuch, 3. Auflage 1974)
Technikbewertung
Die Entstehungsbedingungen und die Nutzungsfolgen der künstlichen Gebilde gehören also genauso zur Technik wie diese Gebilde selbst. Schon mit der Erfindungsidee nehmen Ingeneure eine bestimmte spätere Nutzungsform vorweg. Indem sie in der Erfindung entscheiden, welche Effekte technisiert werden, nehmen sie bereits Einfluss auf das Handeln derer, die später mit der neuen Technik umgehen werden. Und während die Ingenieure eine Erfindung ausarbeiten, müssen sie fortgesetzt weitere Entscheidungen fällen: Welche Lösungsmerkmale ins Pflichtenheft aufgenommen werden, welche Konstruktionsvariante gewählt wird, welches Fertigungsverfahren einzusetzen ist.
Nun nimmt aber jede Entscheidung – auch wenn das dem Entscheider nicht immer bewusst ist – auf Werte Bezug.
Mit anderen Worten: Technisches Handeln enthält immer auch Bewertungen der Technik. Die Richtlinie VDI 3780 zieht aus dieser Einsicht lediglich weitergehende Konsequenzen. Wenn Entscheidungen über technische Entwicklungen zu treffen sind, müssen alle denkbaren Nutzungsfolgen für Natur, Mensch und Gesellschaft mitbedacht und in den Bewertungen und Entscheidungen berücksichtigt werden. Zu dieser komplexen Bewertungsaufgabe kann der einzelne Ingenieur sein Fachwissen und Fingerspitzengefühl beitragen, aber er kann sie natürlich nicht alleine lösen; dafür ist die Zusammenarbeit in einem inner- und überbetrieblichen Netzwerk von Personen und Institutionen erforderlich. Das ist die Grundidee der Technikbewertung, und diese Idee folgt zwangsläufig aus dem umfassenderen Technikverständnis. (VDI Report 15, Technikbewertung – Begriffe und Grundlagen, Erläuterungen und Hinweise zur VDI-Richtlinie 3780, 1997)
Kunst
Versuchen wir nun uns dem Begriff der Kunst an zu nähern.
Kunst als hervorragendes Können
- Der Begriff „Kunst“ meint zweierlei:
- die bewundernswerten Fertigkeiten eines Menschen, die auf großen Kenntnissen und Übung beruhen, die Kunst des Arztes, des Technikers und Handwerkers, der Artisten, Musiker, Sänger, Tänzer, Bildhauer, Maler, Dichter …
- die so geschaffenen (Kunst-) Werke
- Nach Aristoteles entstehen Kunst wie Wissenschaft aus dem praktischen Zusammenspiel von Erfahrung (Wahrnehmung und Erinnerung) und deren Systematisierung, aus richtiger Planung und Berechnung. Kunst ist eine Nachahmung der Natur, eine Darstellung der exemplarischen kosmischen Ordnung.
Kunst als die Fähigkeit, das Schöne erlebbar zu gestalten
Das Schöne nach dem Vorbild der Natur
- Das ist die Welt der „schönen Künste„. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-62) hat als zu behandelnde Gegenstände der von ihm begründeten Wissenschaft der Ästhetik „Malerei, Musik, Bildhauer- und Baukunst, Kupferstechen, und was man sonst zu denen schönen und freien Künsten rechnet,“ genannt. Er definierte die Erfahrung von Schönheit als das gefühlsmäßige, noch nicht klar oder begrifflich erfasste Erkennen von Vollkommenheit. Die Voraussetzungen zur Erfassung des Schönen bildenGenie, Enthusiasmus, Begabung und natürlich Übung. Ästhetik befasst sich mit der „Wahrheit des Sinnlich-Schönen„.
- Schönheit gilt als höchstes Gut. Sie kann im wahren Kunstwerk erlebt werden, in der vollkommenen Gestaltung, in der geistige und seelische Natur in Einklang sind.
- Im 18. Jh. gilt als Prinzip der Kunst die Nachahmung (nicht einfach der Natur als solcher, sondern) des Naturschönen (Charles Batteux, 1746). Die schönen Künste „erborgen … die Züge der Natur, und stelle sie an solchen Dingen dar, denen sie nicht eigen sind“ (Johann Christoph Gottsched, 1760). Schließlich wird das Schöne nicht nur abgebildet, sondern nach dem „Vorbild der Natur“ neu geschaffen.
- Ausdrücke wie „schöne Wissenschaften„, „schöne/freie Künste“ bringen die repräsentative Funktion der Schönheit zur Geltung.
- Das Hässliche und das Absurde, in sich Widervernünftige, sind von der Kunst strikt ausgeschlossen. Kunst soll „Lust“ auslösen (Kant)
Zwar begreift sich das Genie, welches das Schöne fasst, als freies Subjekt. Aber insgeheim bleibt es der Idee des göttlich-schöpferischen Weltgrundes, des „Ganzen“, des „Allgemeinen“, verhaftet. Die Kunst soll Vermittlerin sein, zwischen der freien Subjektivität und der allgemeinen Objektivität (Hegel): Die Schönheit der Kunst wird zwar aus dem subjektiven Geist geboren und gestaltet, doch in ihr erscheint zugleich die substantielle Wahrheit der objektiven Wirklichkeit.
Das Schöne als autonome menschliche Schöpfung
- Um die Wende zum 19. Jh. wird das „Kunstwerk“ nicht mehr als Nachahmung der Natur konzipiert, sondern parallel zu ihr, als autonome Schöpfung des Schönen.
Schließlich mag die Kunst auch als Überwinderin der Wirklichkeit gesehen werden (Religionsersatz). Nietzsche setzt der Tragik des Lebens „die wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst“ entgegen mit dem Ziel, „das Auge vom Blick des Grauens der Nacht zu erlösen und das Subjekt durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten“ (1872), so können die üblen Erfahrungen in Schönheit umgewandelt werden.
Die Ästhetik des distanziert-anschauenden Weltgefühls
- Das ist die Position des Ästhetizismus. Ihr entsprach auch die Haltung der „Kunst um der Kunst willen„.
„L’art pour l’art“ (Victor Cousin, 1836) ist das Konzept einer sich von allen äußeren – moralischen, ethischen, religiösen, politischen, weltanschaulichen oder sozialen – Zweckmäßigkeiten freisprechenden Kunst.
- Ästhetizismus meinte keineswegs allein die Flucht in pure Schönheit, vielmehr zielte er ab auf ein distanziert-anschauendes Weltgefühl, welches das Leben als „ein bedeutsames Schauspiel“ betrachtet, oder, wie Heine es beschrieb, eine Perspektive, die die Welt zu einem Gemälde transformiert, in dem der Betrachter, selbst darin gefangen, „hie und da von den Figuren desselben angelächelt“ wird.
Kunst als das Erschließen neuer Perspektiven der geistig-sinnlichen Wahrnehmung
- Kunst zielt jetzt nicht mehr nur darauf ab, das Schöne, Vollkommene, herauszustellen, sondern Sichtweisen auf unsere Existenz zu finden, darzustellen oder anzuregen, die bisher nicht selbstverständlich gewesen sind.
- Auch das Hässliche, Elend und Unglück sind nun ebenso Gegenstand der Kunst, wie das Hintergründige des Banalen, Selbstverständlichen, Alltäglichen.
- Zum Gegenstand der Kunst kann jede Frage der Wahrnehmung werden,
- Die Form wird dabei zum notwendigen Instrument der Perspektive, durch sie bekommt die einzigartige Sichtweise ihren Charakter.
- Jeder wirklich künstlerische Akt ist im weiteren Sinne Kunst um der Kunst willen: Er will darstellen, nicht überzeugen!
- zur Nicht-Kunst könnte man in diesem kreativen Sinne zählen:
- bloße Erscheinungen, ohne perspektivischen Darstellungscharakter (Naturschauspiel, absichtsloses Verhalten)
- alles Schon-Dagewesene, nur kopierte oder nachgeahmte Darbietungen, ohne jede neue Perspektive
- propagandistische Pseudoperspektiven, die nicht eine neue Sichtweise innerer oder äußerer Welten bieten, sondern Heil oder Unheil predigen und in erster Linie darauf abzielen das Verhalten ihrer Konsumenten zu steuern
- bloßes Ausleben von Gefühlen und persönlichen Befindlichkeiten ohne Darstellungscharakter neuer Sichtweisen
- reine Effekthascherei aller Art (wozu auch die Kitsch-Definition gehören würde)
- Auch das bloße Spiel mit Formen ist meistens Kunsthandwerk, keine künstlerische Schöpfung – jedenfalls eine Gratwanderung zwischen Fingerübung, Ornamentik, Effekthascherei und tatsächlicher Erschließung neuer Sichtweisen.
Kunst als Gestaltung von Leidenschaft aus dem Stoff der Welt
- Postulat: Das Schöne, Vollkommene als Gegenstand der Kunst wird durch die Leidenschaft ersetzt.
- Die Kunst ist nicht mehr bloß Überwinderin der Wirklichkeit, sondern ihre Schöpferin
- Die Wirklichkeit ist sinn-neutral, selbst die kulturellen und kollektiven Sinnangebote (die gesellschaftlich wirksame Wertewelt) werden erst lebendig, wenn sie von den Einzelnen schöpferisch ergriffen und zur eigenen Welt neu gestaltet werden.
- Auch Naturwissenschaft und Technik sind schöpferisch, gestalten eine neue Welt, schaffen neue Wirklichkeiten. Auch in der Genauigkeit und Fähigkeit, die Welt abzubilden, die Natur nachzuahmen, wurden von ihnen die traditionellen Künste und Philosophien weit übertroffen. Aber der Einsatz all dieser Mittel wird erst dann künstlerisch, wenn sie dazu dienen, aus der unbewusst-bewussten Inspiration des Künstlers Leidenschaft zu gestalten.
- Leidenschaft ist gelebtes, erlebtes Leben in subjektiver Wertung. (vgl.:Kunst: Ars, arte, art. www.lyrik.ch/begriffe/kunst.htm)
Dieser kurze Aufriss der Veränderung des Kunstbegriffes macht deutlich, wie schwer heute Kunst zu definieren ist. War die Kunst bei Aristoteles kurz gesagt eine Nachahmung der Natur – und auf diesem Weg etablierte sich später das Kriterium für die Kunst, die Schönheit nach dem Vorbild der Natur – so kann heute Kunst nicht mehr eindeutig begriffen werden. Kunst zielt nicht mehr nur darauf ab, das Schöne, Vollkommene, herauszustellen, sondern Sichtweisen auf unsere Existenz zu finden, darzustellen oder anzuregen, die bisher nicht selbstverständlich gewesen sind.
Unterstreichungen zu den Begriffen Technik und Kunst
Aus den bisherigen Ausführungen möchte ich für unser Thema besonders bedeutsame Aussagen unterstreichen mit dem Ziel, sie am Ende dieses Vortrages einander gegenüber zu stellen.
Unterstreichungen zum heutigen Technikverständnis
Die Verfeinerung überkommener und Entwicklung neuer Geräte bis hin zu Maschinen u. Systemen sich selbst regulierender Automation verlagert den Schwerpunkt der Tätigkeit vom Subjekt in eine objektivierte Welt der Mittel u. ersetzt immer mehr Funktionen des Menschen im Umgang mit der Natur u. mit seinesgleichen. (Lexikon der Ethik)
Technik umfasst:
- die Menge der nutzorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte oder Sachsysteme);
- die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen;
- die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden. (VDI 3780, S.2)
Unterstreichungen zu heutigem Kunstverständnis
- Kunst zielt nicht mehr nur darauf ab, das Schöne, Vollkommene, herauszustellen, sondern Sichtweisen auf unsere Existenz zu finden, darzustellen oder anzuregen, die bisher nicht selbstverständlich gewesen sind.
- Auch Naturwissenschaft und Technik sind schöpferisch, gestalten eine neue Welt, schaffen neue Wirklichkeiten.
- Auch das bloße Spiel mit Formen ist meistens Kunsthandwerk, keine künstlerische Schöpfung – jedenfalls eine Gratwanderung zwischen Fingerübung, Ornamentik, Effekthascherei und tatsächlicher Erschließung neuer Sichtweisen.
- Zum Gegenstand der Kunst kann jede Frage der Wahrnehmung werden.
Kunst und Technik – Komplexe, entstanden als Unterscheidung
Ich möchte nun dem Schaffen von Technik- und Kunst- „Komplexen“ nachgehen, auf dem Hintergrund der Möglichkeit unterscheiden zu können. Folgender Gedankengang ist bei dem amerikanischen Sprachphilosophen Benjamin Lee Whorf zu finden:
Frage: „Wie würde eine Welt aussehen, in der alles, also restlos alles, blau wäre?“
Antwort: „Man würde die Farbe Blau gar nicht zur Kenntnis nehmen und somit gar nicht wissen können, dass die Welt tatsächlich blau ist“.
Begründung: Weil es in so einer Welt nur eine einzige Farbe gäbe, ist somit eine Unterscheidung von Farben nicht möglich. Es gäbe keine Unterscheidung von Farben.
Mehr noch, man würde nicht einmal mit der Bezeichnung „Farbe“ etwas anfangen können. Denn in diesem Fall gäbe es, wenn überhaupt das Wort blau, dem aber keine Unterscheidung zu einer anderen Farbe implizit wäre, da es ja z.B. die Farbe Gelb nicht gäbe. Welchen Sinn würde da der Terminus Farbe machen?
Um also, wie in diesem Fall blau, beschreiben zu können, bedarf es des Wissens um die Existenz einer anderen Farbe. Nicht im Sinne eines Gegensatzes, sondern im Sinne eines Unterscheidens. Wer ein Bild malen will, braucht eine Palette unterschiedlicher Farben. Selbst derjenige, der eine Fläche nur mit blauer Farbe präpariert, kann sein Handeln Gestalten nennen, wenn es mehr als nur das Phänomen Blau gibt.
Gäbe es nur Schrauben in dieser Welt, dann wäre die Unterscheidung zum Nagel nicht existent. Könnte der Mensch nur „ham“ denken und sprechen, würde er nicht „tam“ sagen können.
Letztendlich gründet jede Form der Kommunikation in der Möglichkeit, etwas voneinander unterscheiden zu können. Unterschiedlichkeit ist aber die Bedingung von Komplexen. Das Sprechen von Komplexen ist nur dann möglich, wenn das Unterscheidbare auch als Unterschiedenes benannt werden kann.
Angezielter Komplex: „Gemalter Baum“
Ich beginne zu handeln und entscheide, welche unterschiedlichen miteinander kompatiblen (z.B. Farbe muss auf dem Trägermaterial halten) Materialien ich nehme (finde) bzw. schaffe (erfinde), um sie dann mit der erforderlichen (material- und zielorientierten) Handhabung (Technik/Fertigkeit) zielorientiert zu dem Komplex „gemalter Baum“ zusammen zu fügen. Die hier nötigen Entscheidungen können auch im Verlauf des Erstellungsprozesses dieses Komplexes prozessorientiert verändert werden. In diesem Erstellungsprozess kann auch das Ziel neu definiert werden. Bleibe ich aber bei meinem angezielten Komplex, dann existiert, wenn ich entscheide, mein Ziel erreicht zu haben, der Komplex „Gemalter Baum“ (Bild).
Wie lange und von welcher anhaltenden Qualität das Bild ist, ob überhaupt von einem anderen Menschen gesehen und wenn ja wie eingeordnet und bewertet, ist hier nicht von Bedeutung, da das primäre Ziel erreicht ist. Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, welchen Sinn das Bild, über die Tatsache hinaus, existent zu, sein haben soll. Wenn ich nun im oben genannten Sinn die „Kunst als das Erschließen neuer Perspektiven der geistig-sinnlichen Wahrnehmung“ verstehe, kann dieser Komplex „gemalter Baum“ Kunst sein, da die Kunst in einem sich verändernden Sinn nun nicht mehr nur darauf abzielt, das Schöne, Vollkommene, herauszustellen, sondern Sichtweisen auf unsere Existenz findet, darstellt oder anregt, die bisher nicht selbstverständlich gewesen sind. Fügen wir nun noch einige Zitate namhafter Künstler und Philosophen unterschiedlicher Epochen auf, dann steht der Tatsache, dass dieser Komplex „gemalter Baum“ Kunst sein könnte, nichts mehr im Weg.
„Sie erwarten von mir, dass ich ihnen sage, dass ich ihnen definiere, was Kunst ist? Wenn ich es wüsste, würde ich es für mich behalten“. (P. Picasso 1926)
„Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung.“ (J. Beuys 1985)
„Ich kenne noch keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst, dass ist der Mensch!“ (V. van Gogh 1879)
„Die Kunst ist die herrlichste Mission des Menschen, da sie die Ausübung des Denkens ist, das versucht die Welt zu ergreifen und sie uns begreifbar zu machen.“ (A. Rodin)
„Der Künstler sollte, als Schöpfer, das ausdrücken, was ihm persönlich ist, als Mensch seiner Zeit, was seiner Epoche eigen ist und als Diener der Kunst, was generell der Kunst eigen ist“ (W. Kandinsky)
„Die Kunst ist eine Vereinigung von Form und Inhalt, von tiefer Bedeutung und sensibler Äußerlichkeit.“ (Friedrich Hegel)
Angezielter Komplex: „Eine Scheibe Brot so zu erwärmen, dass sie von beiden Seiten zeitgleich knusprig ist.“ (Toaster)
Ich beginne zu handeln und entscheide, welche unterschiedlichen miteinander kompatiblen (z.B. Verbindung von Plastik und Metall) Materialien ich nehme (finde) bzw. schaffe (erfinde), um sie dann mit der erforderlichen (material- und zielorientierten) Handhabung (Technik/Fertigkeit) zielorientiert zu dem Komplex “ Toaster “ zusammen zu fügen. Die hier nötigen Entscheidungen können auch im Verlauf des Erstellungsprozessen dieses Komplexes prozessorientiert verändert werden. In diesem Erstellungsprozess kann auch das Ziel neu definiert werden.
Bleibe ich aber bei meinem angezielten Komplex, dann existiert, wenn ich entscheide, mein Ziel erreicht zu haben, der Komplex „eine Scheibe Brot so zu erwärmen, dass sie von beiden Seiten zeitgleich knusprig ist“ (Toaster).
Ob ich mein Ziel nun wirklich erreicht habe, hängt nicht davon ab, ob nun das Objekt „Toaster“ existiert, sondern davon ab, ob der angezielte Komplex (Toaster), der eine Scheibe Brot so zu erwärmen in der Lage ist, so dass sie von beiden Seiten zeitgleich knusprig sind, auch funktioniert. Entscheidend ist für den angezielten Komplex ist die angestrebte Funktionsfähigkeit.
Kunst und Technik – Komplexe mit verschiedenen Intentionen
Der angezielte Komplex: „Gemalter Baum“ ist erreicht, wenn dieses Bild vorhanden ist. Seine Funktion lautet „Da sein“.
Der angezielte Komplex: Eine Scheibe Brot so zu erwärmen, dass sie von beiden Seiten zeitgleich knusprig ist (Toaster), ist aber erst dann erreicht, wenn er auch genau das zu gewährleisten, in der Lage ist.
Beide angezielten Komplexe haben eine grundsätzlich vergleichbare Abfolge von Schritten. Die Anzahl der unterschiedlich ausdifferenzierten Schritte beider Komplexe und deren Qualität und Bewältigbarkeit können sehr unterschiedlich sein. Unberücksichtigt bleibt hier auch die mögliche Folgenabschätzung der Komplexe.
Wie ist es allerdings einzuschätzen, wenn der Toaster von Anfang an nicht funktioniert, obwohl alle Zugangsvoraussetzungen (z.B. Stromzufuhr) stimmen. Der angezielte Komplex ist dann nicht defekt, sondern er entspricht seiner angestrebten Funktion nicht (fehlende Mittelrationalität). Ist er so aber nicht (funktionslos) ein Kunstwerk?
Festzuhalten ist, dass technisches Handeln wesentlich mittelrational bestimmt und stets einem ‚fremden‘ Zweck dienlich sein muss. Künstlerisches Handeln und die so entstandenen Komplexe sind aber wesentlich selbstzweckbestimmt und dienen als Kunstwerk sich selbst.
Die Tatsache, dass mancher Künstler mit seinem Werk bei dem Betrachter etwas „auslösen“ will, ist für das rein geschaffene „Da sein“ eines Kunstwerkes nicht wesentlich.
Technik muss anwendbar sein, Kunst nicht.
Technik und Kunst – Kunst und Technik
Technik als Zweckgerichtetheit und Kunst als nicht Zweckgerichtetheit sind reale Komplexe. Die Kunst atmet den Freiraum, nicht zweckgerichtet zu sein, deren Konturen sich schärfen, an der Grenze der Technik immer zweckgerichtet sein zu müssen. Der Freiraum der Kunst schärft die Zweckgerichtetheit der Technik.
Technik kann ohne Kunst existieren, aber kann die Technik auch ohne die Kunst überleben? Die Technik fordert genau genommen die Kunst heraus (ohne das diese Herausforderung für die Technik wesentlich ist):
So heißt es in den Unterstreichungen: „Zum Gegenstand der Kunst kann jede Frage der Wahrnehmung werden“. (Unterstreichung Kunst)
Der Freiraum der Kunst ist in der Lage, die Technik vor Fragen zu stellen, auf die sie aus sich heraus nicht kommen kann, aber der, der die Komplexe von Technik entscheidet. Kunst kann so eine kritische Auseinandersetzung mit der Technik und deren Folgen sein. Kunst kann im Gegenüber zur Technik das Bewusstsein derer wecken, die Technik entwickeln und oder sie anwenden. Kunst kann so verstanden werden, der Versuch eines Korrektiv zur Technik zu sein.
So ist in den Unterstreichungen hervorgehoben:
„Wenn Entscheidungen über technische Entwicklungen zu treffen sind, müssen alle denkbaren Nutzungsfolgen für Natur, Mensch und Gesellschaft mitbedacht und in den Bewertungen und Entscheidungen berücksichtigt werden. Zu dieser komplexen Bewertungsaufgabe kann der einzelne Ingenieur sein Fachwissen und Fingerspitzengefühl beitragen, aber er kann sie natürlich nicht alleine lösen; dafür ist die Zusammenarbeit in einem inner- und überbetrieblichen Netzwerk von Personen und Institutionen erforderlich“. (Unterstreichung Technik)
Kunst ist eine solche Institution die sich der Bewertungsfrage der Technik annehmen kann denn:
„Kunst zielt nicht nur darauf ab, das Schöne, Vollkommene, herauszustellen, sondern Sichtweisen auf unsere Existenz zu finden, darzustellen oder anzuregen, die bisher nicht selbstverständlich gewesen sind“. (Unterstreichung Kunst)
Die Technik beeinflusst das Leben der Menschen wesentlich nachhaltiger als die Kunst. Der Mensch kann in seiner Wohnung, ohne ein Kunstwerk zu besitzen oder ein solches im Museum anzuschauen, leben. Sich heute allerdings einen Wohnraum ohne Technik vorzustellen, ist eher schwierig.
Jedes Produkt, das wir täglich in die Hand nehmen, ist mehr oder weniger entstanden in technischen Komplexen. So ist die Folgerung nachzuvollziehen:
„Durch die dem neuzeitlichen naturwissenschaftlich-technischen Denken immanente Tendenz, das Feld möglicher Machbarkeit bis ins letzte auszuschöpfen (T. als Resultat eines tendenziell universalen Herrschaftswillen. Heidegger), werden Potentiale der Natur freigesetzt u. Mittel der Produktion (u. Destruktion), des Verkehrs, der Information, der Organisation etc. geschaffen, die ihrerseits menschliches Leben und Zusammenleben nunmehr unhintergehbar bestimmen….“. (Unterstreichung Technik)
Technik, die unser Leben unhintergehbar bestimmt, kann nicht nur von der Kunst kritisch angefragt werden, sonder dieselbe kann selbst als Kunst verstanden werden, denn:
„Auch Naturwissenschaft und Technik sind schöpferisch, gestalten eine neue Welt, schaffen neue Wirklichkeiten“. (Unerstreichung Kunst)
Aber gerade diese auch der Technik zugestandene Kreativität kann nicht grenzenlos verstanden und nur auf eine Zweck- Mittel-Rationalität bezogen werden. Weil Technik „menschliches Leben und Zusammenleben nunmehr unhintergehbar bestimmen“ (Lexikon der Ethik), hat sie aus sich heraus eine Verantwortung. Die Technik wirkt heute, wie oben angesprochen, unterschiedlich auf die Kunst. Kunst und Technik haben auch ein vergleichbares Procedere mit Blick auf die Bedingungen und das Werden von Komplexen. kann dieser Komplex „gemalter Baum“ Kunst sein. Aber ob der Machbarkeitswille des Menschen in Sachen Technik von der Kunst des Menschen sich beeinflussen lässt, ist eher fragwürdig. Kunst hat keine „wirkliche“ Beziehung zur Technik, wenn sie nur die Büroetagen der Konzerne schmückt, die auf eine profitable Technik angewiesen sind.
Technik kann schöpferisch sein wie die Kunst, aber sie ist im Gegensatz zu ihr kein Selbstzweck. Darin besteht ihr Segen und auch ihr Fluch, es sei denn sie funktioniert nicht. Dann ist der oben genannte nichtfunktionierende Toaster doch ein Kunstwerk. Aber, wer wäre damit schon zufrieden, wenn er eine Scheibe Brot so erwärmen möchte, dass sie von beiden Seiten zeitgleich knusprig ist?