Von Wertungen, Stoffen, Sehnsucht und nackter Haut
Um ein Phänomen besser verstehen zu können, ein Ereignis konkreter einzuordnen oder eine Situation schärfer zu analysieren ist der Blick auf das „Da-vor“, auf den Werdegang, auf die entsprechende Geschichte hilfreich, mit unter sogar evident. Zu versuchen aus der Rückschau „anwesende Dinge“ zu verstehen ist auch dann angemessen, wenn man sich so genannten Reliquien oder Heiligtümern annähern möchte.
Dieser Sache angemessen ist dies ein unumgänglicher Schritt, denn nur aus der Vergangenheit heraus ist zu erklären, besser zu vergegenwärtigen warum Knochen und Stoffresten Wertigkeit zuerkannt wurde.
Wertungen
Die Rückschau ermöglicht nicht nur die Deutung solcher Gegenstände, sondern sie eröffnet auch den Einblick in die Entwicklung ihrer Bedeutungsgeschichte und somit die Erkenntnis, warum religiös „behafteten“ Gegenständen z. B. eine wachsende Bedeutung zugeschrieben wurde, und so mit Blick auf Kornelimünster, warum Reliquien und Heiligtümern zu so großem Ruhm (Wert) gelangen konnten.
Denn einen Wert haben Knochen von Verstorbenen (Nimmt man die Totenruhe als Wert an, so sei sie in diesem Kontext ausgenommen.) oder Reste von Kleidungsstücken sowie Tüchern und Lacken nicht aus sich heraus. Sie sind erst einmal nur da, also gegenständlich, was aber keiner Werteimplementierung gleichkommt. Das ihnen Bedeutung zugesprochen wurde und sie so bedeutend waren liegt am Betrachter vergangener Epochen, der, mit welcher Begründung auch immer, diesen Gegenständen einen Wert beigemessen hat.
Ob der Betrachter heute auch diesen Gegenständen einen aktuellen Wert beimisst, bleibt seiner Wertung überlassen.
Ungeachtet einer subjektiven Werteinschätzung heute ist im Rückblick festzuhalten, dass diesen Gegenständen in der Vergangenheit als Reliquien ein hoher Wert beigemessen wurde. Wäre dies nicht der Fall, so ist davon auszugehen, das das, was heute Heiligtümer genannt wird, nicht mehr existieren würde da sie aller Wahrscheinlichkeit nach schon längst in der Wert- und Bedeutungslosigkeit vergangener Kulturmüllhalden untergegangen wären. Die Tatsache allerdings, dass diese Gegenstände nicht nur wertlose Rückstände einer vergangenen Zivilisation darstellen, sondern zu Reliquien und Heiligtümern wertschätzend erhoben wurden, nötigt uns heute zumindest einen gewissen Respekt vor der Tradition und der in ihr sie verehrenden Menschen ab.
Der Blick auf die Verehrung der Heiligtümer in der Vergangenheit muss aber nicht nur ein Rückblick sein, sondern er kann auch ein Ausblick sein und somit in die Frage nach ihrer Verehrungswürdigkeit heute münden.
Diese Frage drängt sich aktuell schon deswegen auf, weil die Stiftskirche von Kornelimünster, der Tradition folgend, alle sieben Jahren die unter Verschluss sich befindenden Heiligtümer und Reliquien (Die Heiligtumsfahrten von Aachen und Mönchengladbach haben den selben Turnus.) anlässlich der Heiligtumsfahrt 2007 aktuell wieder erhebt, und sie so sichtbar in der Gegenwart exponiert ankommen lässt.
Der Besucher, der Pilger, der Tourist kann sie hier nun für 14 Tage in den Blick nehmen, bis sie dann wieder für sieben Jahre, in einen einfachen Holzschrein reponiert, unseren Blicken entzogen sein werden.
Stoffe
Was kann aber nun z.B. ein Pilger in den Blick nehmen, der sich anlässlich der Heiligtumsfahrt auf den Weg nach Kornelimünster macht? Emotionslos und (fast) wertfrei ist festzuhalten, dass hier „Objekte“ [1] ausgestellt werden, denen folgende Titel zugeschrieben wurden und werden:
- Schürztuch, welches von Jesus bei der Fußwaschung in Verbindung mit dem letzten Abendmahl benutzt wurde
- Schweißtuch, welches auf dem Haupt des Leichnams Jesu gelegen hat
- Kopf- und Armreliquiar des heilig genannten Cornelius
- Grabtuch Jesu
Nach solch hoheitlichen Titeln bleibt die Frage nicht zufällig: Und, sind die echt?
Den drei Stoffreliquien (In der weiteren Betrachtung stelle ich die Reliquien des Hl. Cornelius hinten an.) ist es gemeinsam „Leibtücher“ genannt zu werden, also Stoffe zu sein die eine Person berührt haben, aktiv oder passiv, der eine besondere Verehrung zugesprochen wurde (wird). Alle drei Stoffe werden als Herrenreliquien verehrt, weil sie den lebenden und den gekreuzigten Jesus berührt haben (sollen) den das Christentum als den Christus bekennt. Die Stoffe haben den Leib des Sohnes Gottes berührt, so die Verehrung, und deswegen sind sie den Menschen damals unter die Haut gegangen und können auch heute Menschen unter die Haut gehen.
Aber noch einmal konkret nachgefragt: Sind die nun wirklich echt?
Beantworten wir diese Frage der Wertzuschreibung dieser Stoffe der Sicht eines mittelalterlichen Pilgers entsprechend, dann lautet die Antwort: Ja. Sie sind echt.
Beantworten wir diese Frage heute aus wissenschaftlicher Perspektive (also erst einmal nicht wertschätzend) dann lautet die Antwort: Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht echt, wohl aber antike.
Aber nehmen wir einmal an diese Stoffe wären wissenschaftlich gesichert echt und würden also nachweislich aus den Jahren um ca. 10 vor und 35 nach Christus stammen. Was wäre dann mit ihrer „Echtheit“ als solcher, wenn diese Stoffe beispielsweise am Ende des 20.Jh. mehrfach chemisch gereinigt worden wären und so jede DNA der chemischen Keule zum Opfer gefallen wäre? Was wäre, wenn sie wissenschaftlich erwiesen echt wären, aber klinisch rein: kein Schweiß, kein Urin, kein Blut und kein Kot. Was wäre, wenn sie echt wären aber eins zu eins identisch mit Stoffen aus derselben Zeit, jedoch von ganz anderem Ort, weit weg von den damaligen Geschehnissen um Jesus Christus?
Sehnsucht
Was für ein „Mehr“ brächte diese eine „Echtheit“ der Stoffe dem sich der Tradition verbunden wissende Pilger, die über seine gläubige Erkenntnis ihrer „Echtheit“ hinausginge.
Keines, denn gläubiges Empfinden und wissenschaftliche Erkenntnis respektierend: Dieser hölzerne Schrein mit den Stoffreliquien birgt ein Geheimnis, etwas nicht öffentliches, das Mysterium der Sehnsucht des Menschen. Aber dieses Mysterium besteht weder allein nur aus dem, was wir wissenschaftlich aus diesem hölzernen Schrein herausnehmen können (drei Stoffe), noch aus dem, was wir gläubig hineinlegen wollen (Echtheit). Das Mysterium besteht in dem diesem „rauswissen und reinglauben“ Vorausgehenden! Dieses Mysterium ist gewoben aus dem was wir halten und an unser Herz drücken wollen, so aber nicht in der Hand halten können!
Es ist die Antwort auf die Frage: Will das Unendliche, das Ewige, das ständig Wiederkehrende, das unaufhörlich Fließende, das Göttliche, die Energie allen Anfangs und Ursprungs, das Transzendente, eben jenes nicht fassbare mit mir etwas zu tun haben? Oder bleibt mein Schicksal doch nur mit dem Rücken auf einem Brett, handlich in einer Urne oder nie gefunden auf welchem Grund auch immer, nicht mehr zu bleiben, als die Erinnerung derer, die den selben Weg gehen müssen, denn auch sie kann kein Geschichtsbuch retten! Die Antwort auf diese Frage, welche auch immer wir finden mögen, bleibt so vorläufig wie der schlichte Schrein und die nun aus ihm heraus erhobenen „Heiligtümer“! Nicht die Antwort, sondern die Frage selbst ist das Mysterium, das aufgesogen aus diesen „Tüchern“ spricht.
Die Frage selbst, will das Ewige mit mir etwas zu tun haben, ist das Mysterium, das nicht nur hier, aber auch hier auf – gehoben und verehrt wird. Diese Frage überhaupt sehnsüchtig fragen zu können und so auch nach Antworten auszuschauen in der Lage zu sein ist das unaufgebbare Mysterium des Menschen, dessen er sich voller Ehrfurcht immer wieder an „heiligen Orten“ vergewissern muss und will, damit dieses Mysterium nicht zu einem Mysterium ohne Leib verkümmert und so der Mensch, nicht mehr fragend, um seine größte Hoffnung beraubt ist, die er seit Menschengedenken mit den Menschen aller Epochen teilt und die uns so, über reine Geschichtsschreibung hinaus, im Nachhinein verbindet.
Von und mit dieser Frage, hoffend, es möge eine Antwort geben, leben wir. Wenn wir sie aufgeben, vergessen, wegargumentieren, in unserer Beschränktheit doch meinen die letzte alles umfassende Antwort gefunden zu haben oder der Ansicht sind, ihrer als „aufgeklarte“ Menschen nicht mehr zu bedürfen, dann geben wir die Sehnsucht auf mehr als nur ein Augenblick zu sein und so auch die Vision, wir könnten lieben oder wären sogar Geliebte! [2]
Die Herrenreliquien lassen den, der mutig und nachdenklich glaubt, den Grund all dieser Hoffnung berühren und spüren, die einem jeden um den Leib gelegt ist: Christus Jesus.
Nackte Haut
Die drei Stoffheiligtümer lassen uns einen Menschen spüren, seinen Leib, seinen Leichnam, seine nackte Haut und mit ihr sekundär das, was ihn umgibt und so verbirgt, Stoffe.
Mit diesen Reliquien geht es um die Vergegenwärtigung aus der Erinnerung heraus, und so um die Verneigung vor einer verehrenswürdigen Existenz, dessen Leib für uns nicht mehr berührbar ist, der aber, in der Anschauung und in der Berührung dessen erahnbar ist, was sie zu berühren in der Lage wären, die diese Existenz berührenden Stoffe. In Folge geht es mit diesen Reliquien also um (leibliche) Nähe zwischen dem Anbetungswürdigen und dem Betrachter sowie der Betrachterin. Sich seiner eigenen Leiblichkeit stellend, den eigenen Körper auch in seiner Nacktheit wahrzunehmen, ermöglicht respektvoll sich der Haut des Anderen, eines Gegenübers zu nähern. Aus genau diesem Blickwinkel gilt es auf das Schürztuch, das Schweißtuch und das Grabtuch Jesu zu schauen.
Alle Stoffe berühren (nicht berührten) die Nacktheit Jesu so bei der Fußwaschung vor dem Mahl, wie seine Nacktheit im Grab. Diese Stoffreliquien erinnern und vergegenwärtigen das Heil von Gott kommend, das in Jesus Christus greifbar, begreifbar Leib geworden ist, der unsere Leiblichkeit annehmend uns Menschen unter die Haut gegangen ist.
Die drei Herrenreliquien von Kornelimünster sind stumme Zeugen dieser Nacktheit! Diese Nacktheit, von Stoffen nur gestreift, wird zur greifbaren Erinnerung der Berührung des Göttlichen und ihrer Zeugen (Cornelius) mit und in dieser Welt. Das Heil-Werden durch Gott ist in dieser Welt berührbar Mensch geworden, also: Haut!
Diese Haut berührt uns und was uns sie berühren lässt, ist ein auf sie verweisendes Heiligtum, in Kornelimünster aufgehoben und erhoben, in dem wir Gott in Jesus Christus verehren, der einzig unsere „Haut retten“ kann. [3]
„Wenn wir uns darauf einlassen, bringen uns diese Zeichen spirituell in seine Nähe, können wir etwas von ihm sehen, betasten, erspüren.“ [4]
1 Objekte und nicht einfach nur Gegenstände, weil der Rahmen ihrer Präsentation eine wertfreie Betrachtung fast verunmöglicht, da diejenigen, die präsentieren, mit ihrer Art der Präsentation das „anschauen“ dieser Gegenstände inszenieren und sie so als Objekt erscheinen lassen. Damit wird aber eine noch undifferenzierte Wertung bei der Präsentation dem erst einmal nur distanziert Betrachtenden mitgeliefert.
2 Vgl. Christoph Stender. Schatzansichten, Entfesselnde Wortschätze. Eupen 2001. S. 125ff.
3 Vgl. Christoph Stender. In: Heiligtumsfahrt 2007, Kommt und ihr werdet sehen. Katechetisches Institut des Bistums Aachen, Religionspädagogische Arbeitshilfe Nr. 80. 2007. S. 8ff.
4 Heinrich Mussinghoff. Manuskript. Silvesteransprache im Dom zu Aachen. 30. 12. 2006.
Artikel zur Publikation des Katechetischen Instituts Aachen anlässlich der Heiligtumsfahrt 2007 in Kornelimünster
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