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Schuldentilgung, eine Provokation

Sind sie Schuldner? Also schulden Sie einer Institution oder Person Geld? Zu befürchten ist, dass viele, meist auch jüngere Christen, Schulden haben, vielleicht hoch verschuldet und sogar überschuldet sind. Allerdings ist ein überwiegender Teil der Leserschaft kirchlicher Printmedien eher älteren Datums, so dass man annehmen könnte, diese Jahrgänge haben ihre Schulden, wie Sie vielleicht selbst auch, schon abbezahlt. Trotzdem oder gerade deswegen lesen Sie weiter. Was ist eigentlich ein Schuldner? Einer, der seine Träume von anderen finanzieren lassen muss oder will und dafür teuer bezahlt. Anders formuliert: einer, der im Vergleich mit anderen meint, nicht Stand halten zu können und (irrig) annimmt, sich durch „Haben“ aufwerten zu können. Ganz nebenbei: Bis zur Schmerzgrenze Schulden machen zu sollen ist ein Grundpfeiler der kapitalistischen Marktwirtschaft.

„Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon“ (Lk16,13b) – diese Aussage Jesu, mit der uns das Sonntagsevangelium konfrontiert, dürfen wir auch in diesem Kontext nicht übergehen, sondern sollten sie für bare Münze nehmen. Der Begriff Mammon, aus der lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, hergeleitet aus „mam[m] ona“, wurde im 16. Jahrhundert zur  Personifikation des Reichtums, der den Menschen Geiz und Habgier schmackhaft macht. Den fetten Bauch verdankt diese Personifikation ihrem Lieblingsgewerbe, Schulden mit Zins und Zinseszins einzutreiben, koste es, was es wolle.

Aber was wäre der christliche Gegenentwurf, dem Mammon nicht zu dienen? Unser Denken als jene, die sich auf Christus berufen, darf verrückt sein, und so Überkommenes „ver-rücken“. Also denken wir quer: Haben Sie etwas zu vererben? Vielleicht freut sich ihre Familie nach ihrem Ableben ja über einen kleinen oder größeren  Geldschauer.

Auch ich selber stehe vor der Frage, wem ich das Meine vererbe. Für einen Geldschauer reicht es zwar nicht, eher für ein Tröpfeln, da ich keine familiären Bindungen habe. Aber auch wenn ich diese hätte, wäre folgendes „Verrücktes“ denkbar: Sie vererben nicht, sondern Sie verleihen zu Lebzeiten an jene Menschen, die Ihnen am Herzen liegen. Sie lassen Schulden zu, Schulden, die diese Menschen bei Ihnen machen, allerdings zu anderen Konditionen. Das Geld, das Sie nicht selbst zum Leben und rentenorientiert nicht zum Überleben brauchen, verleihen Sie zu der Kondition, dass dem „Schuldner“ jeden Monat fünf Prozent der Schulden erlassen werden, bis er alle Schuld bei Ihnen abgebüßt hat ist und Ihr Guthabenzins inklusive Guthaben bei null liegt. Moderates Vererben zu Lebzeiten ist das, in kleinen und gesetzlich möglichen Portionen. Zugegeben: Es ist quer gedacht, vielleicht halten Sie mich für einen Spinner. Aber sei‘s drum.

Erschienen in: Katholische SonntagsZeitung für Deutschland, 17./18. September 2016
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Nachfolge als Abenteuer?

„Ich will dir folgen, wohin du auch gehst“ (Lk 9,57). Hielte Jesus dieses bedingungslos klingende Angebot für wirklich überzeugend, dann wäre seine Antwort nicht so: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lk 9,58). „Netter“ reagiert er bei einem weiteren Interessierten auch nicht: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt (…)“ (Lk 9,62).

Warum zögert Jesus? Nimmt er an, diese Interessierten suchen nur das schnelle Abenteuer, weil er, Jesus, spannender tickt als die meisten frommen Männer seiner Zeit? Aber wäre es denn grundsätzlich daneben, die Nachfolge Jesu als ein Abenteuer zu verstehen?

Wer in seinem Leben ein Abenteuer eingehen will, also die vertrauten Wege zu verlassen bereit ist, der muss alles  Bisherige hinterfragt haben: Sicherheiten, Gewohntes, Liebgewonnenes, soziale Netzwerke, das ganze persönliche Umfeld also. Denn ein lebensrelevantes Abenteuer, das keine  Lagerfeuerromantik sein will, ist kein Spaziergang mit Gänsehaut, sondern eine risikoreiche Unternehmung und fernab des Gewohnten eine Expedition ins Ungewisse. „Die Heimat des Abenteuers ist die Fremde“, schrieb der deutsche Dramatiker Emil Gött.

Damals wie heute gilt: Wer „an und für sich“ festhält, das Gewohnte unbeirrt weiter pflegt, an einmal getroffenem Urteil festhält, und Jesus verwenden mag als neues „Dressing“ für den Alltag, dem hat Jesus nichts zu bieten. Nachfolge ist Abenteuer: Abenteuer für den, der das Unbekannte nicht scheut, der sich in der Fremde mit sich selbst konfrontiert, der in dem gestern noch Fernen eine Bereicherung entdeckt. Wer in der Fremde die neue Begegnung mit Gott erahnt, der könnte in die Spur Jesu passen.

Wo ist die Fremde konkret? Dort, wo wir erst einmal Klarheit haben, nichts geben zu müssen, sondern wo wir neue Horizonte erfahren dürfen: Also sich wenden zu den Lebensumständen derer, die so anders sind als die eigenen; zu der Denkart derer, die uns bisher kalt ließen; zu den Lebensorten jener, die anders leben müssen, wollen oder sollen als man selbst. Der Weg in die Fremde: Nachfragen, sich ein-mischen, hin-hören, von sich ab-sehen, sich ein-lassen, zu-wenden. Das hat Jesus auch so gemacht, als er über unsere Erde ging, die „Fremde“ Gottes.

Klingt das nach Überforderung, aus dem Glauben heraus vielleicht sogar noch im Alter ein neues Abenteuer zu wagen? Ist das wirklich so, oder nennen wir es einfach nur Überforderung, um die Botschaft Jesu (weiter) „an und für sich“ als Beruhigungspille einzunehmen und nicht als Aufputschmittel? Sorry, aber anders geht es nicht. Wir müssen uns das fragen lassen.

Erschienen in: Katholische SonntagsZeitung für Deutschland, 25./26. Juni 2016
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Aachener Priester berät katholische Laien

Von: Claudia Schweda

Ab Januar der theologische Berater der katholischen Laienorganisation ZdK: Christoph Stender aus Aachen, langjähriger Hochschulpfarrer und zuletzt Mentor der angehenden Religionslehrer. Foto: Andreas Herrmann

Ab Januar der theologische Berater der katholischen Laienorganisation ZdK: Christoph Stender aus Aachen, langjähriger Hochschulpfarrer und zuletzt Mentor der angehenden Religionslehrer. Foto: Andreas Herrmann

Aachen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Zdk) hat sich als geistlichen Berater einen wortgewandten Aachener an seine Seite geholt: Christoph Stender (59), Theologe, Philosoph, Religionspädagoge, Schriftsteller, Blogger, früher einmal Kaplan in Schleiden, später 16 Jahre lang Hochschulpfarrer in Aachen, zuletzt Mentor der angehenden Religionslehrer an der RWTH Aachen ist gestern in Bonn zum Geistlichen Rektor des ZdK berufen worden.

Er wird sein Amt im Januar antreten. Das ZdK ist die Laienorganisation der katholischen Kirche, die die Kirchentage organisiert. In die Kirche hinein berät es die Deutsche Bischofskonferenz in Fragen des gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Lebens. Nach außen formuliert das ZdK gesellschaftspolitische Forderungen.

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Über das Erzählen

„Über das Erzählen“ predigt Christoph Stender beim Zeitfenster-Gottesdienst am 14. Oktober 2016. Hier können Sie die Predigt nachhören und anschauen:

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Unausgesprochen verkümmert Glaube vor aller Öffentlichkeit

Wege zur Sprachbefähigung des Glaubens

Erschrocken

Der christliche Glaube kommt im deutschsprachigen Raum primär nicht nur deswegen abhanden, wie Karl Rahner SJ im ausgehenden 20.Jh. noch prognostizierte, weil der Gläubige kein Mystiker[1] geworden ist, sondern weil die Fähigkeit, vernünftig und emotional vom Glauben zu sprechen besonders jungen Christen mangels entsprechender Lernorte nicht (mehr) möglich ist und somit immer weniger vom Glauben erzählt wird. In Folge wird es für zukünftige Generationen kaum noch was vom Glauben zu hören geben! Die Weitergabe des Glaubens und so der Glaube selbst verkümmern hinter der Wort- und Sprachlosigkeit.

Nachdenken

In diesem Artikel möchte ich in die Zukunft blickend über existentielle Wesenszüge des christlichen Glaubens und derer nachdenken, die zukünftig Glaubensgemeinschaft (Erzählgemeinschaft/Kirche) sein könnten. Deswegen wird hier kein Trauergesang angestimmt über das, was früher einmal alles besser gewesen sein mag, wie zum Beispiel übersichtlichere Gemeinden, mehr Priesterweihen, besser besuchte Gottesdienste, lebendigeres Gemeindeleben usw. Hier geht es darum, den immer schon existentiellen Wesenszug der Glaubensgemeinschaft der Christen, wie er weltweit von Gültigkeit ist, im deutschsprachigen Raum zukunftsfähig zu machen: die Weitergabe des Glaubens im Wort.

Fakt ist: Der christliche (ausgesprochene) Glaube kommt unserer westlichen Gesellschaft immer mehr abhanden. Das lässt sich u.a. festmachen an äußeren Faktoren wie Kirchenbesuch und Gemeindezugehörigkeit, an emotionalen Faktoren wie Patchwork-Mentalität in Sachen Glaubensgut sowie an kognitiven Faktoren wie dem abnehmenden Wissen über Religion und deren Vollzug. Dies belegen Studien[2], die in ihren Detailerkenntnissen verschieden sind, in ihrer Richtung aber eindeutig: zunehmende Distanz zu kirchlichen Institutionen und eine Abnahme persönlicher Bindungen an (herkömmlichen) Ausdrucksformen des Glaubens. Klar, das ist nichts Neues.

Fakt ist aber auch: Etwa die Hälfte der Deutschen glauben[3] an einen Gott, ohne dass damit automatisch eine kirchliche Bindung einhergeht. Lauteten noch bis in die 2010er Jahre die Gründe, Distanz zur Kirche zu halten, z.B. ihre Weltfremdheit, die Missbrauchsskandale, steigende Unglaubwürdigkeit, das Limburger Bischofshaus und verkrustete Hierarchien, so muss in den letzten Jahren zunehmend zur Kenntnis genommen werden: „Nicht-Gläubigkeit als solche ist bekenntnisfähig geworden.“[4]

Feststellen

Wir können unterschiedlicher Auffassung sein wie der christliche Glaube gedeutet, ausgelegt oder interpretiert werden kann. Wir können darüber streiten, welche Passagen der Heiligen Schrift besonders wichtig sind und welche nicht. Wir können unversöhnlich geteilter Meinung darüber bleiben, ob viel oder weniger Theorie, Liturgie, Praxis und Gefühl zum Glauben dazugehören. Eine Tatsache aber bleibt unbestreitbar, eine, die wir gemeinsam haben, über die man eben nicht streiten kann: Unser Glaube kommt „vom Hören“.[5] Allen Christinnen und Christen ist gemeinsam, dass ihrem Glauben vorrausgegangen ist (und vorrausgeht), von ihm gehört zu haben, etwas erzählt bzw. ihn vermittelt bekommen zu haben.[6]

Die Wurzeln des Christentums, eingebettet in den Mutterboden des Judentums, wurden von Anfang an genährt von einer Erzählkultur: einander mitteilen, miteinander sprechen und miteinander streiten (disputieren). Jesus war ein Erzähler, von dem erzählt wurde.

Ein vertrautes und „aktuelles“ Beispiel: „Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte (…)“. Die ganze Story (Lk 24,13-19) erzähle ich nun nicht, denn sie haben bestimmt gehört wie es weitergeht, oder?

Geschichte

Die ersten Christen begründeten eine Gemeinschaft, die primär als Erzählgemeinschaft zu charakterisieren ist, kraftvoll überliefert u.a. in der neutestamentlichen Erzählung „vom Weg nach Emmaus“. Die Kraft der christlichen Botschaft konnte sich nur in dem Erzählten, dem mit-geteilten Wort entfalten. Würde die christliche Botschaft nicht eingekleidet in das Wort, sie bliebe ungehört, und das wäre unerhört.

Die Kraft der christlichen Botschaft hat sich in vielen Kommunikationsformen entfaltet, so auch im Streit, oder besser gesagt in der Disputation, dem öffentlichen Wortkampf. Für eine Streitkultur in der Geschichte des Christentums sei exemplarisch das Apostelkonzil von Jerusalem (44-49 n. Ch.) genannt, in dem auch um die Zugehörigkeit zu Christus auf dem Fundament der jüdischen Überlieferung (Tradition) gerungen wurde (Gal. 2,1-10; Apg 15).

Die Disputation ist eine wichtige Kommunikationsfigur der Erzählgemeinschaft, wenn es darum geht den Glauben weiter zu geben der besagt: „zu Jesus Christus gehören und von seinem Heiligen Geist erfüllt sein (vgl. Hebr 3,14 und 6,4), und sich so in „Gottes Liebe geborgen zu wissen“, so dass „man nicht mehr aus der Angst um sich selbst leben muss“.[7]

Von diesem Glauben spricht das Neue Testament als von einem, der weitergegeben werden will (vgl. Mt 28,19; Apg 4,20; Röm 10,10). „Deshalb gehört zum Glauben die Bereitschaft, über ihn Rechenschaft zu geben (vgl. 1 Petr 3,15). Wenn es aber überhaupt möglich ist, den christlichen Glauben zu verantworten, dann muss dies daraufhin auch in wissenschaftlicher Weise geschehen können.“[8]

Vernünftig

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Glauben leisten die Fachdisziplinen der Theologie, und zwar historisch wie systematisch. Allerdings ist sie nicht isoliert zu verstehen, sondern im Kontext anderer Wissenschaften. Zur Wissenschaftlichkeit der Theologie gehört „dass sie sich den Anfragen und Einwänden anderer Wissenschaften auf deren eigenem Feld stellt.“[9]

Dazu muss die Theologie sich die Fachsprachen anderer Disziplinen aneignen, um auf die Fachsprache anderer Wissenschaften bezogen überhaupt reagieren und agieren zu können. Diese Notwendigkeit hat aber auch zur Folge, dass die theologische Wissenschaftssprache sich bis zur Unverständlichkeit entfernt hat von der Alltagssprache derer, denen es täglich in den Straßen „aufs Maul“ zu schauen gilt. Diese sprachliche Verschiedenheit muss dahingehend überbrückt werden, dass hohe Theologie in Alltagssprache „zurückübersetzt“ und in ihr interpretiert werden muss von Übersetzern, die beider Sprachniveaus mächtig sind. Das bedeutet nicht, die Wissenschaftssprache so zu „kastrieren“ dass daraus ein „Theologiechen“ für Dummies gebastelt, sondern ein am alltäglichen Leben reflektiertes und orientiertes Sprechen über den Glauben in der Verantwortung eines jeden Gläubigen ermöglicht wird.

Den Gläubigen soll von den Theologiebetreibenden die eigene Rechenschaftskompetenz ihren Glauben betreffend und deren Vermittlung nicht abgenommen werden, „wohl aber sollen ihnen Umwege und Missverständnisse erspart werden.“[10]

Weitergabe des Glaubens bedeutet neben dem Hören des Wortes auch das Verstehen dessen, was das Wort einkleidet.

Sprachleere

Lehramtsstudierende der katholischen Theologie, das habe ich in meiner Tätigkeit als Mentor[11] erfahren, sind Beleg dafür, dass sie Theologie als Wissenschaft kaum verbinden können mit ihrem persönlichen Glauben. Dies führt dazu, dass sie sich schwer tun, ihren Glauben in aufeinander folgenden Sätzen zum Ausdruck zu bringen, weil ihnen zum einen die entsprechenden „Vokabeln“ ebenso fehlen wie die Übung, über ihren Glauben zu sprechen. Oft fühlen sich diese Studierenden am Ende ihres Studiums mit der Weitergabe des Glaubens überfordert, weil ihnen keine Lernfelder des Sprechens angeboten wurden. Es kann nicht Ziel der Theologie sein, wissende Sprachlosigkeit zu hinterlassen.

Lerne Sprechen

Die Begleiterinnen und Begleiter Jesu, so auch die jungen christlichen Gemeinden, mussten erst lernen, über das zu sprechen, was sie mit Jesus, den sie als Christus bekannten, erlebt haben bzw. später von ihm gehört hatten.

Lernen bedeutet hier nicht (nur), die erzählten Gegebenheiten wortgetreu wie überliefert nachzuerzählen, sondern die erzählten Gegebenheiten (Daten) in ihrem Kontext zu verstehen, das Verstandene und Empfundene an sich selber heranzulassen und das so Erfahrene durch die Reflexion und entsprechend der eigenen Sprachkompetenz weiterzugeben, also ins Wort zu kleiden. Die Herausforderung des Lernens war (und ist), das Gehörte durch das eigene Erleben hindurch in „neuer“ Sprache aus zu drücken.

Für diesen Prozess gilt: „Die Sprache ist das Medium, in dem sich das Lernen überwiegend vollzieht. Denken, Handeln und Verstehen sind von Sprache begleitet und beeinflusst und entwickeln sich (…).“[12]

Mit dem Ereignis Jesus Christus, der erlebbaren Erdung Gottes, galt für die ersten Zeugen auf dem Hintergrund ihrer jüdischen Tradition, aber auch für Menschen der damaligen Zeit mit anderer Traditionen, diese „Weltneuheit Jesus“ zu erschließen, und das ging nur über das Erlernen einer ausdrucksstarken Sprache, denn „die Sprache ist das eigentliche Instrument menschlichen Weltverständnisses und menschlicher Weltbemächtigung.“[13]

Diese Erkenntnis macht deutlich: „Sprachliche Arbeit ist demgemäß unmittelbar gedankliche Arbeit und nicht ein nachgeordnetes Verfahren.“[14] Erschließen und Sprechen, Sprechen und Erschließen sind notwendige Instrumente des Verstehens und so der christlichen Verkündigung.

Erfahrung

Erlauben Sie mir einen ganz persönlichen Einschub. Es ist unbestritten, dass auch ich meinen Glauben vom Hören habe. Mir wurde erzählt und vermittelt von Eltern und Großeltern, in der Schule und im Leben mit der Pfarrgemeinde, natürlich auch später im Studium und bis heute in meiner Berufstätigkeit. Über die Qualität dessen, was ich von Glaube und Kirche im Kindes- und Jugendalter „mit – bekommen – habe“ kann ich heute keine umfassende Rechenschaft mehr ablegen. Allerdings bin ich mir sicher, wenn wir in unserer Familie ausdrücklich über „Religiöses“ gesprochen haben, dann wohl eher über die Kirche und die Pfarrgemeinde vor Ort und die dort Aktiven, aber weniger (bis gar nicht) über unseren persönlichen Glauben an Gott und Jesus Christus.

So wie ich mit meinen Eltern nicht über Gott gesprochen habe, so haben wir auch nicht über die Erlebnisse meines Vaters als Soldat im 2. Weltkrieg gesprochen, und Sexualität war bei uns zu Hause mir gegenüber auch irgendwie kein Thema. Nur dass die Story mit den „Vögelchen auf der Kirchentreppe“ nicht stimmt, das hat mein Opa kurz und schmerzlos in nicht einmal einer Minute beim Warten auf das grüne Signal vor roter Ampel klar gemacht.

Fakt aber ist: Meine Familie, aber auch andere Menschen haben in mich durable Anfänge einer Glaubensfährte gelegt, der ich heute noch nachgehe und mit der ich auch heute noch „weiter“ auf der Fährte bin. Das Entscheidende ist, dass diese Fährte (in mich) überhaupt gelegt worden ist, unabhängig von der inhaltlichen Qualität. Mein Leibgedächtnis lässt mich heute ahnen, dass diese Anfänge einer Fährte sehr stark von Emotionen umgeben waren, in einer „geschaffenen Atmosphäre der positiven Annahmemöglichkeit“ eines Gefühls für Gott und Jesus Christus.

An einem besonderen Ereignis in meiner Jugend kann ich heute noch festmachen wie die eher anfänglich emotional eingefärbte Fährte meinen Kopf in Beschlag nahm. Ich war so 16 Jahre alt und Messdiener in meiner „Heimatgemeinde“ (nach alter Lesart) in Liebfrauen Krefeld, als zwei Dominikanerpatres, Rudolf Stertenbrink und Romuald Rock (*15.2.1926 †10.12.1996), in unserer Pfarrkirche eine Gemeindemission[15] abhielten, deren Schwerpunkte die Predigten waren mit anschließendem Gespräch. Mit einem Jugendfreund teilte ich damals die Begeisterung besonders für Pater Romuald, der es verstand uns den Glauben zu erklären. Seine Sprache, seine Bilder und seine Authentizität fesselten uns, da wir spürten: Wir waren gemeint.

Und als junge Menschen fühlten wir uns selber in der Lage, natürlich mit Anleitung und Unterstützung, über unserem Glauben nachzudenken und nachzusinnen. Unsere Begeisterung mündete in den nicht ganz ernst zu nehmenden Plan, Pater Romuald in einen geräumigen und bunt angestrichenen Käfig mit offener Türe zu „sperren“, damit seine Rede uns immer zur Verfügung stehen würde.

Die Möglichkeit fundierter, mit Emotion und Verstand Theologie zu betreiben bot sich in meinem ersten Studium der Religionspädagogik in Paderborn u.a. mit dem Fundamentaltheologen Prof. Klaus Hollmann. Anschließend, in meinem zweiten Studium der Theologie bei den Jesuiten in St. Georgen und dem hier besonders hervorzuhebenden Pater Peter Knauer. Später trugen dazu persönliche Begegnungen mit meinem damaligen Heimatbischof Prof. Dr. Klaus Hemmerle (*1929 –†1994) bei. Bischof Klaus war für mich die stärkste Ermutigung, über meinen Glauben mit Engagement und Verstand frei zu sprechen, weil er selbst aus sich heraus sprach und mich zur „Nachahmung“ ermutigte.

Entscheidend für mich und meine Tätigkeiten war es zu lernen, vom Glauben zu sprechen und über den Glauben „nach–denkend“ Rechenschaft zu geben. Noch heute entfalte ich mein Sprechen über den Glauben, meine eigene Sprache weiter und verbinde dies dankbar mit den Namen der Menschen, die mir Lehrer waren. Diese Persönlichkeiten waren selbst und mit ihnen verbinde ich über sie hinaus Orte, an/in denen ich den „Frei–raum“ hatte, mit Verstand und Herz zu lernen, über meinen eigenen Glauben im Bezug zur Glaubensgemeinschaft der katholischen Kirche zu sprechen. Sie eröffneten mir Lernräume des Sprechens über den Glauben, ohne die mein Glaube in der Sprachlosigkeit gelandet wäre.

Mit diesen Lernräumen des Sprechens verbinde ich untrennbar auch meine Persönlichkeitsentwicklung und meine Identitätsfindung, da diese Lernräume nicht nur „ein“ Sprechen „über“ den Glauben förderten, sondern „mein Sprechen von und mit ihm“.

Aufhorchen

Die Bedrohung des Christlichen Glaubens ist in ihm selbst grundgelegt, einer Wortreligion, der die aktualisierenden und deutenden Worte ausgehen. Die christliche Botschaft kommt abhanden, weil die Fähigkeit, vernünftig und emotional von ihr zu sprechen, Christen mangels entsprechender Lernorte nicht (mehr) möglich ist. So stirbt nicht Gott, aber zunehmend sterben Gottesbezüge und „Quellen für das Leben“, wie sie uns z.B. in der Bergpredigt erzählt wurden. Kennen Sie ja vom Hören (Mt 5,1-7.29).

Umstände

„Nicht-Gläubigkeit als solche ist bekenntnisfähig geworden.“[16] Diese oben schon erwähnte Tatsache zeigt an, dass in unserer religiös plural ausgerichteten Gesellschaft das Interesse am Christlichen weiter abnimmt. Das Christliche stört viele einfach auch schon gar nicht mehr, man kann es folgenlos übersehen. In den Medien ist Glaube und besonders Kirche ein Thema unter vielen und kommt mal gut, meistens allerdings eher schlecht weg. Gerade wenn junge Menschen heute laut sagen, dass sie mit Kirche etwas am Hut haben, die christlichen Werte schätzen und von Nächstenliebe was halten, laufen sie Gefahr, als weltfremd eingestuft zu werden. Das macht es besonders jungen Menschen nicht leicht, Lust daran zu empfinden ihren Glauben ins Gespräch zu bringen bzw. ihre Sprachkompetenz weiter zu veredeln.

Glaubenszukunft

Die Präsenzfähigkeit des christlichen Glaubens hängt zukünftig wesentlich von der Sprachfähigkeit derer ab, die den Glauben der Christen authentisch als ihren Glauben hörenswert auch für „Außenstehende“ mitteilen.

Gemeint sind hier primär nicht die Verkünder und Verkünderinnen, die in Gottesdiensten verkünden; nicht die Erzähler, die vom Glauben (anderer) erzählen; keine Missionare, die zum Heil führen wollen; und auch nicht die Berichterstatter, die aus neutraler Distanz von Katholikentagen oder Ähnlichem berichten.

Gemeint sind hier, in die Zukunft geschaut, heute primär junge Menschen, die engagiert, mit Verstand und Herz, und in der Sache klar in verstehbarer Sprache ihren Glauben weitererzählen. Das will gelernt sein!

Doch wo können heute junge Menschen lernen, mit Lust über ihren Glauben zu sprechen und sich auch noch weiter fit machen zu lassen in einer an–sprechenden Weitergabe des Glaubens? Darauf gibt es nur eine Antwort: Lernorte schaffen, sie aber von den „Lernbegeisterten“ einrichten zu lassen!

Sprich Kirchenzukunft

Auch die zukunftsfähige „Darreichungsform“ unserer Kirche wird vom Hören geprägt sein müssen. Hören, miteinander auf die Botschaft Jesu und deren jüngste Gemeinde. Hören aber auch aufeinander heute, auf die Erfahrungen, die Menschen mit Glaube und Kirche gemacht haben, und auf die Hoffnungen, die Jesu Botschaft binnenkirchlich wie außerhalb eröffnen. Anders werden wir die grundlegenden Veränderungen, die sich teils schon lange angekündigt haben, nicht gestalten können. Ohne zu hören wird unsere abtretende Kirche die Reste ihrer selbst, uns, vor sich her treiben in die Unaussprechbarkeit. Im Miteinander als Kirche darf Folgendes positiv nicht unterschätzt werden: „Die Sprache kommt vor der Tat“[17]

Konkret: Hören auf die Ereignisse die uns u.a. von Paulus über die jungen Gemeinden erzählt werden. Aufeinander hören: Generationen, Priester und Laien, die unterschiedlichen Hierarchien, Ehrenamt und Hauptamt, das Organisierte und das Unorganisierte in einer Gemeinde, die strukturierte und „unstrukturierte“ Kirche. Hören auf das, was Glaubende mit Verstand und Herz durch die Zeit in Worte gefasst haben. Auf die jüngste christliche Gemeinde bezogen wäre ein kleines Hörerlebnis die Story von „Phöbe“, Dienerin/Diakonin der Gemeinde in Kenchreä heute sehr spannend. Sie haben sicher von ihr schon gehört (Röm 16,1 ff.).

Schaffen

Konkrete Lernorte des Sprechens schaffen für junge Menschen, ihren Lebenssituationen entsprechend, die:

  • das Glück gehabt haben in ihrer bisherigen Biographie Menschen begegnet zu sein, die ihnen vom Glauben erzählt haben, und die so nachvollziehen können, vor dem Hintergrund der eigenen Biographie, wie wichtig es ist, vom Glauben gehört zu haben – die eigene Entwicklung betreffend[18];
  • Lust haben, über ihrem Glauben mehr zu erfahren, wie z.B. von Christologie und Soteriologie, vom Schöpfungsglauben und der christlichen Freiheit, von Sprachbildern und ihrer Deutung aus dem entsprechenden Kontext, von der Intention der Wundererzählungen und Gleichnisse Jesu in Neuen Testament, von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verschiedenen christlichen Bekenntnisse, und von Fachbegriffen wie Theodizee, Heiligkeit, Erbsünde und Sakramente …;
  • gelassen werden können in dem Wissen, nicht das ganze Depositum unseres Glaubens ad hoc „verstehen“ und annehmen (glauben) zu müssen, sondern die sich selber (im Älterwerden) immer weiter dem Glaubensgut des Christentums annähern dürfen (ohne als defizitär bezeichnet zu werden), auch mit allen möglichen Fragen, Zweifeln und Unverständnis;
  • sich als Getaufte und gefirmte Christinnen und Christen auch in ihren kritischen Bemerkungen ernst nehmen (lassen), ihre Sprachkompetenz im Umgang auch mit Gleichaltrigen weiter veredeln und sich nicht beeindrucken lassen von (verletzenden) Allgemeinplätzen der Öffentlichkeit gegen Kirche und Glaube;
  • sich einlassen können auf ein Mentoring, basierend auf dem Prinzip der Weitergabe des Glauben aus der Tradition in die Gegenwart, als Erzählgemeinschaft, in der wechselseitig Erzählende zu Hörenden und Hörende zu Erzählenden werden.

Befähigen

  • Gemeinden könnten Sprachbefähigung aus dem Glauben zum Schwerpunkt machen.
  • Die Vorbereitung auf die Kinderkommunion kann die Grundlage der weitergehenden Sprachbefähigung bilden.
  • Die Firmung mit 18-20 Jahren könnte auch als begeisterte Sendung der/des Sprachbefähigten (nach der „Lehre“) gelten.
  • Gerade die Wortgottesfeiern in Gemeinden verfügen über „Worträume“, die die Versammelten als Erzählgemeinschaft stärken können.
  • Die universitäre wie auch außeruniversitäre (Mentorate) Qualifikation angehender Religionslehrer sollte wesentlich auf diese Sprachbefähigung als persönliche Kompetenz abheben.
  • In der Ausbildung der pastoralen Berufe muss die Sprachbefähigung Auszubildender fachlich verankert werden sowie die Befähigung zukünftig Anvertrauter durch die Auszubildenden.
  • Kirchliche Praktika im Kontext von pastoraler Ausbildung bieten eine besondere Chance, Lernfelder der Sprachbefähigung zu sein.
  • Öffentliche Orte wie große Räume, Museen (besonders Museen in kirchlicher Obhut), Wegekreuze, Kapellen und Bildstöcke, Gedenkstätten, Denkmäler, Sportstadien, Friedhöfe usw. können als unkonventionelle Lernorte zur Sprachbefähigung eingesetzt werden.
  • Hochschul– und Studierendengemeinden sollten als ihre Kernkompetenz die Sprachbefähigung von christlichen Studierenden, gerade auch im Dialog mit anderen Religionen, vorhalten

Schluss

Bei aller dringend notwendigen Sprachbefähigung darf eines nicht unausgesprochen bleiben, was Willi Bruners so auf den Punkt bringt:

Ein – silbig

wenn ich dich
anspreche
werde ich

einsilbig

GOTT
DU
KOMM[
19]

 

Anmerkungen:
1 Karl Rahner stellt fest: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann.“ Aus: K. Rahner, Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge, in: Schriften zur Theologie XIV, 1980, S. 161
2 Die neue „Erhebung über Kirchenmitgliedschaft“, durchgeführt von der TNS Emnid 2014, beauftragt von der EKD. Die SINUS-Jugendstudien von
2008, 2012 und die von 2016 mit dem Titel „Wie ticken Jugendliche“. Die 17. Shell Jugendstudie von 2015. Die empirische Untersuchung über „Berufswahlmotive bei Theologiestudierenden mit dem Studienziel Religionslehrer/Religionslehrerin“, durchgeführt vom IQ, Institut für Qualitative
Bildungsforschung Bonn 2013, im Auftrag der Schulabteilungen der Erzdiözese Köln und der Diözese Aachen.
3 https://www.domradio.de/themen/glaube/2016-03-23/jeder-zweite-glaubt-gott
4 Die Welt (online), http://www.welt.de/politik/deutschland/article125486308/Deutsche-verlieren-ihren-Glauben-an-Gott.html
5 Röm 10,17; vgl. 1 Thess 2,13; Gal 3,2; Hebr 4,2; Joh 5,24; 12,38
6 Glaube ist immer auch mit aus ihm resultierenden Taten zu verbinden, die als Zeugnis des Glaubens glaubensferne Menschen ansprechen können und zum Weiterdenken anregen können. Allerdings geht auch der christlich motivierten Tat das gehörte Wort der Verkündigung voraus.
7 Knauer, Peter, Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische Fundamentaltheologie. Freiburg 1991, S.15.
8 A. a. O., S.15.
9 A. a. O., S.15.
10 Amtsblatt des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Teil 1 Nr. 9/99. S. 15.
11 Mentorate sind Einrichtungen, die hier für angehende Religionslehrer/Religionslehrerinnen vom Bischof eingerichtet den Studierenden der Theologie helfen sollen, die Lehre mit dem persönlichen Glauben so zu verbinden, das daraus auch eine authentische Sprachfähigkeit erwächst.
12 A. a. O., S. 6.
13 A. a. O., S.13.
14 A. a. O., S. 9.
15 Gemeindemission ist ein offenes Angebot, verortet und verantwortet in einer Gemeinde, oft durchgeführt von Ordensmännern oder Ordensfrauen, die als Gäste in Predigt und Gespräch den Glauben zu Wort kommen lassen. Ihr Ziel ist es, dem persönlichen Glauben des einzelnen und dem Glaubensleben der Gemeinden Wachstumsimpulse zu geben.
16Die Welt (online), http://www.welt.de/politik/deutschland/article125486308/Deutsche-verlieren-ihren-Glauben-an-Gott.html
17 http://www.faz.net/fluechtlingspolitik-die-sprache-kommt-haeufig-vor-der-tat-14233223.html (15.06.2016).
18 An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass eine biografi sch orientierte, vernünftige und emotional nicht unmusikalische Weitergabe des Glaubens und die Auseinandersetzung mit ihm wichtig sein kann für die Persönlichkeitsbildung eines jungen Menschen und identitätsstiftend.
19 Bruners, Wilhelm, Ein – silbig, in: R. Seitz und E. Schuster, Festgenagelt, Ein Kreuzweg. Ostfi ldern 1994, S. 8.

Erschienen in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück. J.P. Bachem Verlag GmbH. September 9/2016
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Der heilige Christophorus: Ein Antiheld

Dieser Beitrag wurde von Michael Lejeune verfasst und im Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück vom Juli 2015 veröffentlicht.

 

MLejeuneChristopherus

© Michael Lejeune

„Im ,grossen Christoph‘, wie das Volk ihn nennt, ist das Volk selbst personificirt, die rohe, aber gutartige Masse, die für Bekehrung empfänglich ist, und der dann auch eine grosse Gewalt inwohnt zum Schutz der einmal von ihr anerkannten Kirche.“ So schreibt Wolfgang Menzel in seinem ersten Band der Christlichen Symbolik im Jahre 1854. Dieser direkte Bezug zum Volk ist heute noch aufzufinden, denn kaum ein eingesessener Autofahrer wird diesem Christophorus, sei es in Form einer Plakette oder eines Bildnisses, nicht schon einmal begegnet sein – obwohl 1925 Franziska von Rom als Patronin der Autofahrer diese Vormachtstellung brechen sollte. 1962 wurde der Heilige Christophorus sogar aus der Liste der kanonischen Heiligen gestrichen, aber 2001 wieder ins Martyrologium Romanum aufgenommen. Im deutschen Diözesankalender ist sein Gedenktag am 25. Juli allerdings durchgängig enthalten. Die in West- und Ostkirche bezeugte Ikonographie zeigt, wie sehr der Heilige als Christusträger immer noch zum kollektiven Bewusstsein gehört.

Christusträger Reprobus

Die Christusträgerlegende ist der bekanntere Abschnitt der Biografie des Christophorus, der nach seiner Taufe als Prediger durchs Land zog und schließlich den Märtyrertod erlitt. Als literarische Grundlage der Christusträgerlegende gilt die „Legenda aurea“ des Dominikaners und späteren Bischofs von Genua, Jacobus de Voragine (1229-1298). Dieses Legendar, in Latein verfasst, war Grundlage für volkssprachliche Sammlungen von Heiligengeschichten, wie dem „Passional“ oder dem Prosalegendar „Der Heiligen Leben“, deren weite Verbreitung dazu beitrug, dass die nicht in Latein unterrichtete Bevölkerung direkten Zugang zu den populären, meist kurzen, illustren Lebensbeschreibungen erhielt. So dienten diese Legendensammlungen, in lebhafter Sprache mit  volkstümlichen Elementen versehen, als eine Art christlichen Wegweisers für den Alltag. Die „Legenda aurea“ erzählt im ersten Teil der Lebensbeschreibung, wie sich die Wandlung eines Riesen namens Reprobus zum heiligen Christophorus vollzogen hat. Eine Unvoreingenommenheit macht der Name Reprobus (lat.: ausgeschlossen, verworfen) von vornerein unmöglich. Dieser 12 Ellen große Riesen „furchtbaren“ Anblicks hat es als Soldat vor nicht wenige weltliche Herrscher gebracht. Als er so einst vor seinem König, dem König der Chananaeer stand, kam ihm in den Sinn, den größten Herrscher in dieser Welt zu suchen und bei diesem zu bleiben. So beginnt seine Suche.

I.  DIE LEGENDE

1. Der König

Reprobus findet alsbald einen König, der solch einen Ruf genießt. Dieser nimmt ihn mit Freuden auf und lässt ihn bei sich wohnen. Die Geschichte deutet nicht an, wie Reprobus die Zeit beim König verbringt, sondern springt direkt zum Bruch: das Lied eines Spielmanns, der mehrmals den Namen des Teufels ausspricht; der König, der, als Christ, sich daraufhin mit dem Kreuz bezeichnet; und die Reaktion des Reprobus, der so verwundert über dieses Zeichen ist, dass er, als der König ihm die Erklärung verweigert, droht, diesen zu verlassen, sollte er die Bedeutung des Zeichen nicht erfahren. Erst nach dieser Drohung vertraut ihm der König seine Furcht vor dem Teufel veran und erklärt, dass er durch das Zeichen des Kreuzes den Teufel von sich abhalten wolle. Nun argumentiert Reprobus: Wenn der König sich so heftig fürchte, dass der Teufel ihm schaden könne, müsse dieser Teufel folglich größer und mächtiger sein. So sei schließlich er, Reprobus, in seiner Hoffnung, den größten und mächtigsten Herrscher gefunden zu haben, betrogen worden. Er wünsche dem König Lebewohl, da er selbst sich auf den Weg mache, den Teufel zu suchen und diesem, als seinem Herrn zu dienen. Bereits hier zeigt sich Reprobus als uneinschätzbares, reagierendes Element, das hin- und hergetrieben wird auf einer Suche, deren wahres Ziel verdeckt liegt. Er gibt vor, den größten Herrscher zu suchen und erkennt ihm doch die eigenangs anerkannte Macht im Moment der Furcht ab. Ihn wundert ein Zeichen sosehr, dass er gewillt ist, seine Suche neu aufzunehmen. Er legitimiert sich und bricht doch Wort, um wieder auf der Suche zu sein, wurde sein Glaube, dem größten zu dienen, ja enttäuscht.

2. Der Teufel

Reprobus macht sich also auf, den Teufel zu suchen. In einer Einöde trifft er auf eine Schar Soldaten, deren einer – gleich seiner eigenen Beschreibung – von furchtbarem Anblick ist. Dieser nähert sich dem Suchenden und erkundigt sich nach dessen Ziel. „Ich suche nach dem Herrn Teufel, den ich als meinen Meister wählen will.“ Worauf dieser antwortet: „Ich bin‘s, den du suchst.“ [„Ego sum ille, quem quaeris.“] Hier hebt die Art der Formulierung die Personifizierung des Teufels wieder auf, könnte doch jeder der Soldaten vorgeben, der Gesuchte zu sein. In Bezug gesetzt zum jesuanischen Ausspruch „Ich bin‘s, der ich von mir selbst zeuge“ (Joh 8,18) zeigt sich hier die ganze Flexibilität des nicht für sich zeugenden Bösen, das nur gefunden zu werden braucht und überall zu finden ist.

Reprobus freut sich sein Ziel erreicht zu haben, gelobt seinen Dienst für ewige Zeiten und nimmt den Teufel als seinen Meister. Auch die Zeit beim Teufel wird nicht näher beschrieben, denn erst als der Teufel ein Wegekreuz erblickt und dieses durch Umwege in die Wüste vermeidet, reagiert Reprobus. Dieser wundert sich sehr darüber, dass der Teufel nicht dem geraden Pfad der Straße gefolgt ist, und stellt ihn zur Rede. Der Teufel verweigert ihm die Antwort. So greift Reprobus abermals zum Äußersten und droht, dass sich ihre Wege trennen. „Es gab einen Menschen, Christus genannt, den man ans Kreuz geschlagen hat, so dass ich, wenn ich dieses Kreuz erblicke, es fürchte und flüchten muss.“ Der Ehrlichkeit des Teufels begegnet er mit einer prompten Absage; erneut erläutert Reprobus, dass ja dieser Christus größer und mächtiger sein müsse, wenn der Teufel sein Zeichen so sehr fürchte. Und abermals muss er seinen Glauben aufgeben, den größten Herrscher dieser Welt gefunden zu haben. Er teilt dem Teufel mit, dass er ihn nun verlassen werde, um Christus zu suchen, und wünscht auch ihm ein Lebewohl. „Iam nunc valeas, quia te volo deserere et ipsum Christum inquirere.“ Auch die zweite Etappe ist gezeichnet von Elementen, die vordergründig schwer einzuordnen sind: das Gesuchte in der Form des zu Findenden; das Kreuz, das nicht wiedererkannt wird; Reprobus als Ratio in der Nachfolge des geraden Weges, dessen Irratio die von ihm nicht erwähnten Bedingungen seines ewigen Dienstes abermals zerstört und ihn in die Suche zwingt.

3. Der Einsiedler

Reprobus sucht lange Zeit – nicht wie zuerst angekündigt – Jesus in persona, sondern einen, der ihm Kunde geben kann. Er gelangt an einen Einsiedler, der ihm mit Fleiß im Glauben von Jesus berichtet und die Bedingungen für den von Reprobus ersuchten Dienst benennt: Dieser König veranlange nämlich von denen, die ihm dienen wollen, viel zu fasten und viel zu beten. Beides verweigert Reprobus jedoch: Das Fasten sei ihm keinesfalls möglich, so solle der König doch etwas anderes von ihm fordern; das Beten sei ihm nicht bekannt, und so könne er auch in diesem nicht folgen. Daraufhin fragt der Einsiedler ihn, ob er jenen Fluss kennen würde, dessen Überquerung so viele Menschen das Leben gekostet habe. Reprobus bejaht dies mit „Ich weiß“ [„Novi“]. Dieser, die Wahrheit dem anderen Abverlangende, spricht nicht aus, was er will, sondern was er weiß. Wissen über einen Fluss, der das Leid der Kriegswirren im Bild der Gruppe von Soldaten, in der Form des Todbringers, der die Flüchtlinge in der Überquerung heimsucht, versinnbildlicht. Der Einsiedler weist also Reprobus an, da er groß und stark sei, sich an den Fluss zu setzen und die Menschen hinüber zu tragen. Weiterhin sei dies Christus, dem König, genehm, und so hoffe er, dass sich dieser dem Reprobus offenbaren werde. Reprobus bestätigt, dass er dies zu tun vermag und unterwirft sich dem Dienste Jesu. Er geht zum Fluss, baut sich einen Unterschlupf und setzt fortan die Menschen mit einem großen Stab in der Hand sicher über das Ufer.

4. Die Offenbarung

Es verstreicht die Zeit ins Land, bis Reprobus, ruhend in seinem Unterschlupf, eine Kinderstimme vernimmt: „Christophore, veni foras et me ipsum traducas.“ Hier sei angemerkt, dass die Person des Reprobus durchgängig Christophorus genannt wird; doch ist die anachronistische direkte Anrede des noch nicht Getauften Hinweis auf die Selbsterfüllung eben jener Anrede: Der „Christusträger“ wird gerufen, den Christus zu tragen. Reprobus fühlt sich angesprochen, geht nach draußen, doch findet niemanden vor; so wiederholt sich der Ruf ein zweites Mal, und wieder hört Reprobus, ohne zu sehen. Erst beim dritten Ruf erblickt er ein Kind, das ihn bittet, es an das andere Ufer zu tragen. Er nimmt das Kind auf seine Schultern, greift seinen Stock und schreitet ins Wasser; doch je näher er dem anderen Ufer kommt, desto höher steigen die Fluten und desto schwerer wird das Kind auf seinen Schultern. Die Last des Kindes wird so schwer, das Wasser reicht ihm so hoch, dass er sich in großer Gefahr sieht und sogar fürchtet zu ertrinken. Nur mit äußerster Kraft am anderen Ufer angelangt, setzt er das Kind ab und spricht: „Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.“ Woraufhin das Jesuskind sich offenbart: „Wundere dich nicht, Christophorus, du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Ich bin nämlich dein König Christus, dem du in deinem Handeln zu dienen suchst.“ Und als notwendig erscheinenden Beweis – [„ut me verum dicere comprobes“] – gibt es ihm die Aufgabe, seinen Stock in die Erde zu stoßen, dass er des Morgens erblühe und Früchte trage. Daraufhin verschwindet das Kind vor seinen Augen, er aber kehrt zum Ufer zurück, folgt der Anweisung, und am nächsten Morgen blüht neben seiner Unterkunft ein Palmenbaum.

Hier endet die Geschichte vom Christusträger: aus Reprobus ist Christophorus geworden. Die Metamorphose hat sich vollzogen, nicht etwa durch die Taufe, sondern durch die Überführung des Kindes, dass ihn somit zum Christusträger – Christophorus – gewandelt hat.

II. SYNOPSIS

1. Wille zur Macht

Die Geschichte des Christträgers, der arm im Geiste, aber fest im Glauben seiner Bestimmung gerecht wird; der die größte Macht sucht und sie schließlich im König Christus findet, ist also auch die Geschichte des Reprobus, der auf der Suche ist und sich doch immer losreißt, der nicht die Zeichen, sondern nur die Furcht erkennt, der mit dem Beten nichts anzufangen weiß inmitten einer Handlung, die erst im letzten Moment die Transzendenz andeutet und ihn dann doch als auf die Palme als Zeichen angewiesenen „Gläubigen“ zurücklässt. Eine Vereinbarkeit beider Deutungen ist nur durch Betrachtung der Person des Reprobus möglich, und so gilt zuerst zu klären, was er sich durch seine Suche zu finden erhofft und welcher Wille hinter dieser Suche steht. Dieser Wille äußert sich in der ersten Etappe als Form des Wunsches, einen Herren zu finden, der der Größte in der Welt sei. Bei diesem will er dann verweilen. Es ist nicht der „Wille zur Macht“, sondern der Wille, der Macht nahe zu sein; der weltlichen Macht als ebenbürtiges Element der körperlichen Macht Gesellschaft zu leisten. Nach der ersten Enttäuschung sucht er nicht nur den „größten“ [„maiorem“], sondern auch den „mächtigsten“ [„potentiorem“] Herrscher (als erster Hinweis auf die Verletzbarkeit des Großen) und gelangt so zum Teufel: der Macht des Bösen. Dieser will er nun dienen, ihr nicht mehr nur ebenbürtig sein. Doch auch der Teufel enttäuscht seine Hoffnung, und so verpflichtet er sich schließlich dem Konzept der Macht; dem einen König, der, nicht ansprechbar und gefeit vor jeglicher Delegitimation seitens Reprobus, Hoffnung auf Offenbarung gewährt.

2. Reprobus als Reagierender

Aber wie bildet sich sein Wille? Welcher Art ist diese Macht, die er sucht? Als Soldat mit Macht vertraut, der ihm in vorigem Leben befehlenden als auch der eigenen in Form der Kraft, scheint er doch unfähig, diese Macht zu erkennen. Aber es ist nicht der einfache Geist, der sich abzeichnet: seinen Argumentationen folgt der Wortbruch, seiner Freude die bewusst provozierte Enttäuschung. Verwundert am Anfang, dass eine Legitimation der Macht nur durch Kunde von außen erfolgt, deutet die Schnelle der Delegitimation auf ein bereits länger vorhandenes  Bewusstsein dieses Zustandes hin. Scheinbar fehlt ihm grade hier die Fähigkeit, das Erfahrene einzuordnen; der Einfluss von Teufel auf König, von König auf Kreuz, von Kreuz auf Teufel führen nicht zum Umkehrschluss und der Einsicht des möglichen Fehlverhaltens, Wir wissen mehr von dem, was er nicht kann (fasten) und nicht weiß (beten), als von dem, was ihm bekannt ist, dem einen Fluss, der den Menschen ihr Leben nimmt. Er teilt wenig mit und ist doch als mal rationales, mal irrationales Wesen präsent, dass die Situation zu eskalieren sucht, um sein Gegenüber in eben der vorgeworfenen Machtlosigkeit zurückzulassen. Ihren Ursprung haben muss diese Energie, mit der er sich aus jeder Verpflichtung auf ein Neues befreit, folglich nicht in der Kraft der Überlegung, sondern in den Gefühlen, denen dieser Reprobus nur eine rationale Manifestation erlaubt; eine Energie, die durch Aussprache des Unfassbaren, des „Furchtbaren“ erst zutage kommt, reagiert und zerstört, was ihn halten soll. Eine Furcht, erst vor dem Namen, dann dem Zeichen. Eine Furcht, die selbst jener erfährt, der gleich Reprobus von „furchtbarem“ Anblick ist, sich also nicht im Äußeren offenbart und doch präsent ist. Die eigene Furcht entdeckt er erst im Moment des drohenden Todes, scheint aber vorher bereits der Furcht seiner Gefährten in seiner Sensibilität hilflos ausgeliefert. „Gelebt“ ist diese Emotion das absolute Ausschlusskriterium jeglicher Immanenz von Macht, sie führt zur Aberkennung des von ihm Anerkannten – obwohl der Prozess des Zuspruchs absoluter Macht weder dem Anerkannten offensichtlich oder bekannt ist, noch auf einer rationalen oder zumindest empirisch überprüften Grundlage beruht. Die Macht als Gegenpol zur Furcht. Mächtig nur, wer sich nicht fürchtet. Die Art der Manifestation – die offensichtliche Macht des Königs, die versteckte Macht des Teufels, die sagenhafte Macht Jesu Christi – unterscheidet er nicht. Es zählt, dass der Herrscher als mächtigster benannt wurde; parallel dazu ist es auch erst der Name eines anderen, der Reaktion und Aberkennung bewirkt. Als jedoch nicht ein Name, sondern ein Zeichen diese Furcht auszulösen scheint, obwohl es das Zeichen eines längst Verstorbenen ist, ignoriert er diesen Umstand und projiziert den Mächtigen in die Gegenwart; will sich sogar auf die Suche nach diesem begeben. Dabei geht Reprobus von der Grundannahme aus, dass nur der Mensch der wahre Ursprung jedweder Furcht ist.

3. Reprobus als Suchender

In dieser Personifizierung gleichgestellter Personen deutet sich nun langsam das wahre Ziel seiner Suche an, die eben deshalb auch die transzendente Ebene nicht benötigt: Die Suche nach dem Mensch. Als dieser schon vom Namen her ausgeschlossen, fernab von Heimat und Vergangenheit, sucht er nicht die Macht, sondern denjenigen, der ihm änlich sein könne; wählt ein Kriterium für dessen Eignung in direkter Korrelation zu seiner „Größe“, findet diesen einen Menschen und hinterfragt dessen Legitimation in dieser instabilen Position gerade deshalb nicht, um eben nicht zu verlieren. Er ist angekommen um zu bleiben. Doch der auserwählte Mensch fürchtet sich – und er selbst, der größte Krieger, kann ihm kein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Reprobus sieht sich selbst mit dem nicht Fassbaren konfrontiert. So erklärt sich auch die irrationale Eskalation der Situation seitens Reprobus, der sich eben nicht nur in seiner „Größe“, sondern in seiner ganzen Existenz hinterfragen muss; ist er doch nicht in der Lage, seine einzige Fähigkeit der Kraft dem anderen zum Schutze in Dienst zu stellen. Es ist eben diese Angst vor dem Irrationalen, die ihn den Mächtigeren suchen lässt, ihn gleichsam aus der Verantwortung nehmen und in Dienste stellen will. Doch auch den Teufel kann er nicht vor der Angst des noch aus dem Tode Wirkenden schützen, muss hilflos zusehen und scheitert auch daran: Er bricht sein Wort, macht sich selbst „unglaubwürdig“ und flüchtet vor dieser Enttäuschung in die einseitige Beziehung zur Idee des Mächtigen. Aber hier zeigt sich wieder, dass er sich auf Augenhöhe mit dem Herrscher sehen will: Die Absage der Forderungen dieses Königs als Grundlage einer gleichberechtigten Beziehung.

Diese Suche nach dem Menschen auf Augenhöhe offenbart sich noch stärker in dem Lebewohl, „valeas“, denn sowohl Teufel als auch König sind nicht eine moralische Person – haben sie in ihrem Handeln doch nicht einziges Mal ihr Wort gebrochen, Bedingungen gestellt geschweige denn die Wahrheit verschwiegen; sie dienen letztendlich nur als Platzhalter. Reprobus zieht auf seiner Suche nach dem Menschen nicht im Groll weiter, seine Enttäuschung gilt ihm selbst, denn er weiß um die „Mensch“-lichkeit von König und Teufel; wollen doch beide, dass er seine Drohung nicht wahrmacht und bei ihnen verweilt. Er wünscht beiden, dem „Guten“ und dem „Bösen“, ein aufrichtiges Lebewohl – leidend an seiner Unfähigkeit zur Teilnahme, seinem Wortbruch und an der Enttäuschung seines selbst erschaffenen Glaubens.

4.  Reprobus als sich selbst Erkennender

So scheitert Reprobus mit jedem Versuch, der Sehnsucht nach Mensch-Sein nachzukommen. Diese Menschwerdung ist ihm nicht durch Fasten, noch durch Beten zugänglich. Er muss aus der gewohnten Ordnung ausbrechen, aus dem Bereich der Trinität aus König – Teufel – Priester als weltliche Parallele zur göttlichen, hinein in das aktive Handeln einer Tätigkeit, deren Bedeutung ihm erst zuletzt offenbart wird. Lange Zeit trägt er die Menschen über das Wasser, trägt sie aus einem Leben in Furcht hinein in ein besseres, rettet sie so nicht nur vor den Gewalten des Wassers, sondern auch denen des Landes. Bewegt durch den Willen, dem Mächtigen zu dienen und beschränkt durch alte Verhaltensmuster, braucht er die Erfahrung der eigenen Furcht, die Erfahrung der Gewalten des Wassers und des Landes. Bis zum Extrem getrieben im Moment der Todesangst, lässt sie ihn nicht nur das Kind auf seinen Schultern, sondern vor allem sich selbst erkennen.

5. Menschwerdung

Er wird Mensch durch Erfahrung; wird Mensch durch den Gegenpol der gesuchten Macht, der Macht der Menschlichkeit, die sich gleichsam als Zeichen der Hegemonie in der fragilen Form des Kindes offenbart. Seine eigene Furcht in ihrem flüchtigen, irrationalen Charakter betrachtend, erkennt er durch Christus sich selbst, weiß er doch erst jetzt um die Last, die er auf seinen Schultern trug; die Last, die er unbewusst hunderte Male über den Fluss gesetzt hat. Reprobus kann so die Furcht jedes einzelnen Reisenden spüren, den er getragen hat; spürt die Wirkung im Leben anderer, die er immer nur zu suchen und nie zu finden glaubte und erkennt schließlich, die ganze Welt auf seinen Schultern getragen zu haben. Im Kontext der Liebe erkennt er in dem durch Todesangst bewusstgewordenen Lebenswillen nicht Christus als Macht der Liebe, sondern vielmehr noch den eigenen Akt der Nächstenliebe, den er an jedem Reisenden vollbracht hat; erkennt, dass sich das ihm unmöglich Scheinende im eigenen Handeln offenbart hat. Es ist also doch eine Glaubenserfahrung, die er erst als Christophorus macht. Ein Glaube, der nicht der Palme oder des Wunders bedarf, sondern der Glaube an die Menschlichkeit, der Glaube, dem Menschen Mensch zu sein, und schließlich der Glaube an sein eigenes Mensch-Sein. Die Geschichte des Heiligen Christophorus ist die Geschichte einer Metamorphose: weg vom „christlichen Herakles“, der Personifikation antiker Kardinaltugenden, hin zu dem Handelnden, dessen Suche der göttlichen, „unfassbareren“ Tugenden der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens ihn erst ganz Mensch werden lassen. Es ist auch heute die Geschichte eines Menschen, der sich an der Welt messen will und doch aus dem Raster fällt; eines Menschen, der die Beziehung sucht, sich der Verantwortung aber nicht gewachsen fühlt; der sein Wort bricht, um sich dem Besseren zu verschreiben, sich nicht festlegt und ständig getrieben ist. Es ist die Geschichte eines Menschen, der in seinem Handeln bezeugt, was er selbst nicht mehr glauben kann; der, um Mensch zu werden, die Last anderer auf sich nimmt. So ist Reprobus ein jeder, der sich auf die Suche nach der eigenen Menschlichkeit, dem eigenen Mensch-Sein macht; ein jeder, der den Menschen Mensch sein will und dabei erkennt, dass aus Flüssen von damals die Meere von heute geworden sind …

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Ausgedient?

Gedanken zum Dienstbegriff

Von Michael Lejeune/Christoph Stender

1. Von Opfern, Gutmenschen und Dienern

Schweigend und etwas verstört ging er weiter, der Schüler aus der Mittelstufe einer Gesamtschule, gelegen in einer relativ behüteten Gegend. Den ihm auf dem Schulhof lautstark nachgerufenen Titel „du Opfer“ wollte der Schüler nicht gehört haben. Einfach so tun, als sei man nicht gemeint gewesen – lautete wohl seine Devise. Soweit diese Beobachtung eines Religionslehrers. Allerdings ist das Weghören keine Garantie dafür, so der Religionslehrer später, dass nicht schon in der nächsten Pause derselbe Schüler von Mitschülern unüberhörbar wieder als Opfer tituliert und so öffentlich in ein diffuses Licht gestellt wird.

Dieses Phänomen, das z. B. Schüler auf Schulhöfen von mutmaßlich Gleichgesinnten als „Opfer“ bezeichnet werden, ist nicht die Ausnahme. Diese Bezeichnung Opfer ist auch nicht scherzhaft zu verstehen, sondern ist als ein indirekter verbaler Angriff zu werten. Denn der, dem der „Titel“ Opfer in Jugendkreisen angehängt wird, läuft Gefahr, wie Freiwild allgemein ausgeliefert zu sein, weil er schwach „geredet“ wird.

Der „moderne“ Gebrauch des Begriffes Opfer, wie im oben skizzierten Kontext benutzt, hat eine gravierend andere Bedeutung als seine ursprüngliche Verwendung, die mit dem Begriff Opfer auf jene hinwies, „die Unterstützung, Fürsorge, Hilfe und jede Art von Zuwendung benötigen. Ein Begriff für die, die ohne eigene Schuld durch Kriege und Gewalt, Straßenverkehr oder andere unglückliche Umstände zu Schaden, schlimmstenfalls ums Leben kommen.“[1]

Die „neue“ Intention des Wortes Opfer, der man heute in der Jugendkultur begegnet, hat mit der bisher üblichen Verwendung schlussendlich nichts mehr gemein. Als Opfer werden meist „junge männliche Personen bezeichnet, die sich nicht ausreichend wehren können oder auf andere Weise Schwächen zeigen und allgemein nicht einem Konzept von harter, starker und wehrhafter Männlichkeit entsprechen.“[2] Der Begriff Opfer muss in einer hier nicht genauer umrissenen Sprachkultur für eine Empfindung jener Menschen herhalten, die mutmaßlich jene, die schwächer
sind als sie selbst, „brandmarken“ wollen. Er bezeichnet hier also keine Menschen mehr, die durch widrige Umstände in eine defizitäre Situation geraten sind, sondern sein Bedeutungswandel nötigt die so Bezeichneten in eine defizitäre und negativ konnotierte Situation hinein. Ein weiterer Bedeutungswandel eines anderen Begriffes weist in dieselbe Richtung. Wenn der Begriff „Gutmensch“ auch weniger zum alltäglichen Sprachgebrauch zählt und auch eher keine Selbstbezeichnung ist, so bezeichnete er ursprünglich doch – wenn auch wenig dezidiert- etwas positives, nämlich Menschen, die bemüht waren „gut“ zu sein oder es auch sind, die man also als gute Menschen bezeichnen könnte. Auch dieser Begriff hat in jüngster Zeit eine neue Bedeutung erfahren und ist zum Unwort des Jahres 2015 avanciert, weil mit ihm „insbesondere diejenigen beschimpft werden, die sich ehrenamtlich z. B. in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. Mit dem Vorwurf Gutmensch, Gutbürger oder Gutmenschentum werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.“[3]

Wer demzufolge als Gutmensch bezeichnet wird, ist automatisch reduziert auf einen, der grundlos eher zu den Schwächlichen gezählt wird. Auch dieser, ursprünglich einen positiven Sachverhalt bezeichnende Begriff, bekommt in seiner aktuellen Nutzung eine neue negative Wendung. Stellen wir nun, zugegeben recht unwissenschaftlich und nur phänomenologisch betrachtet, in diese Reihe neben die Begriffe Opfer und Gutmensch den Begriff Diener, so vermittelt dieser auf Anhieb auch keinen positiven Eindruck. Dienen, und somit etwas von einem Diener an sich zu haben, klingt in der Tat im aktuellen Gebrauch auch unter Jugendlichen eher nach Schwäche, Verlieren und Erfolglosigkeit. Dienenden Menschen wird von bestimmten Gruppierungen die Aura von Minderwertigkeit, Fußabtretern oder Dummies angeheftet, die aufgrund ihrer Weltfremdheit nicht nur auf der Verliererseite stehen, sondern deshalb auch ruhig gebrandmarkt werden dürfen.

Zu dienen hat nicht wirklich etwas Anziehendes, auch wenn es noch im aktiven Sprachgebrauch Bezeichnungen gibt wie Staatsdiener, Bedienstete, der Diener der Diener, Messdiener,  Dienstnehmer oder Bedienung.

2. Wir werden vor den Dienst gestellt

Aus biblischer Perspektive kommen wir allerdings an der Besinnung auf die Begriffe Diener und Dienst so ohne weiteres nicht vorbei. So berichtet der Evangelist Matthäus immer wieder aktuell von der Bedeutung des Dienens dem Verständnis Jesu entsprechend:

„Und Jesus zog hinauf nach Jerusalem und nahm die zwölf Jünger beiseite und sprach zu ihnen auf dem Wege: Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird  den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Heiden überantworten, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen; und am dritten Tage wird er auferstehen.

Da trat zu ihm die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und wollte ihn um etwas bitten. Und er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sprach zu ihm: Lass diese meine beiden Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.

Aber Jesus antwortete und sprach: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie antworteten ihm: Ja, das können wir. Er sprach zu ihnen: Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu. Das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist von meinem Vater. Als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder. Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mt 20,17–28).

Die biblische Überlieferung[4] lässt keinen Zweifel daran, dass wir uns mit dem Thema des Dienens auseinander zu setzen haben, ob gelegen oder ungelegen. Denn die Überlieferung formuliert eine Dienstanweisung von oberster Stelle, die schon vor über 2000 Jahre auf den „Dienstweg“ gebracht wurde. Der „Chef“ damals wie heute ist der, auf den wir uns beziehen, wenn wir für uns die „Bezeichnung“ Christinnen und Christen bemühen.

Bei dieser Anweisung, die der „Chef“ jedem in seinem Team in den „Bekenntnisvertrag“ geschrieben hat, handelt es sich nicht etwa um eine Kann-Regel, die in die Beliebigkeit gefühlsbedingter Entscheidungsfreudigkeit gestellt ist, sondern um eine Soll-Regel, die es einzuholen gilt.

„Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20, 28).

3. Dienen im Gebrauch

Der Begriff des Dienens, seine sprachliche Herkunft, sein heutiger Gebrauch in den unterschiedlichen Sprachen, sowie seine Bedeutung und Deutung in der Gesellschaft sind nicht eindeutig. Die im Folgenden angedeutete Spanne allein im antiken Sprachgebrauch eröffnet einen Raum, in dem der Begriff des Dienstes keine einseitige Betrachtung finden muss, und somit sich als ein Begriff
generiert, der „ent–faltet“ werden sollte. Diesem Ziel, zur Ent–faltung“ des Begriffes Dienst und dienen anzuregen und ihn in einen neuen Bezug setzen zu können, dient dieser Artikel.

Neutestamentlich

Das Neue Testament kennt verschiedene Dienstverhältnisse, die ihren sprachlichen Ausdruck in mehreren griechischen Begriffen finden.

„Einer der zentralen griechischen Dienstbegriffe ist das Verb δουλεύω und seine Ableitungen, die das Dienen eines Sklaven bzw. einer Sklavin umschreiben und somit den Hauptakzent auf das abhängige, unfreie Dienen legen und in der Regel einen eher abschätzig-entwürdigenden Klang haben. Im zeremoniell-höfischen Sprachgebrauch des Vorderen Orients konnten jedoch auch hohe Beamte als „Sklaven des Königs“ bezeichnet werden, was in diesem Fall einem Ehrentitel gleichkam.“[5]

Des Weiteren ist anzumerken: „Neuere Forschungen (Collins 1990; Hentschel 2007) zeigen jedoch dass die griechische Wortgruppe mit dem deutschen Begriff ,dienen‘ in der Regel nicht adäquat wiedergegeben ist. Vielmehr geht es um Beauftragungen, wobei der oder die Beauftragte (diakonos) im Namen des Auftraggebers agiert und dabei, je nach Art der Beauftragung, durchaus mit Autorität den Menschen gegenübertreten kann, zu denen sie oder er gesandt ist.“[6]

Was dient jetzt?

Denkt man heute an Leute im Dienst, so kommen einem wahrscheinlich Soldaten, Beamten oder andere Berufsformen in den Sinn, die auch vom Namen her einen Dienst am Staat leisten. Ein markantes und wohl auch bekanntes Beispiel für den „Beruf“ des Dieners sind die Saaldiener im Bundestag, mit dunkelblauer Livree, weißer Fliege, Goldknöpfen und Bundesadler, sorgen sie doch im Hintergrund dafür, dass der Politikbetrieb nicht gestört wird: Es werden Stühle zurechtgerückt, Mikrofone kontrolliert, Eingänge kontrolliert, Wasser gereicht und weitere Aufgaben übernommen, die man gemeinhin als Service beschreiben könnte. Und doch war zur Geburt der Bundesrepublik nur eine grüne Armbinde Erkennungszeichen für den Saaldiener. Darauf geschrieben stand die Abteilung: Hilfsdienst, Hausdienst oder Ordnungsdienst.

In allen anderen Bereichen haben sich die Begriffe gewandelt, eine Dienstleistung nennt sich nun Service; und auch wenn das Wort mit dem Englischen sehr bedeutungsnah ist, ist der Service der modernen Gesellschaft fernab vom Dienst angesiedelt. Es hat sich eine abgeschwächte Form des Dienstes entwickelt.

Service hilft, aber dient nicht

Fast alle Berufe, die früher mit dem Begriff des Dienens in Verbindung standen, sind mittlerweile durch zahlreiche Wortkombinationen ersetzt worden, die sprachlich immer mehr Service bekennen.

Wo unterscheidet sich nun aber der klassische Dienst vom Service?

Subjektiv betrachtet scheint der Service dem Kunden zu dienen, oder zumindest von Nutzen zu sein. Und so finden wir heute beim Service nicht den Dienst, sondern die Hilfeleistung. Hilfe scheint attraktiver, ist sie doch meist zeitlich begrenzt zu verstehen; man bietet seine Hilfe an, um ein Problem zu lösen, eine Situation zu vereinfachen oder eine Unannehmlichkeit aus der Welt zu schaffen. Hilfe ist auch dankenswert: Eine Hand wäscht die andere, der Eine hilft dem Anderen.

Landläufig verstanden basiert der Dienst nicht auf einer „Gleichberechtigung“ beider Akteure, dem, der den Dienst tut (Dienstgeber) und dem, der den Dienst nimmt (Dienstnehmer). Die Dienste werden meistens als selbstverständlich wahr- und hingenommen, selten gedankt und manchmal erst gar nicht bewusst zur Kenntnis genommen. So zu dienen, quasi die zeitlich unbegrenzte Hilfe, beinhaltet auch eine Verpflichtung, sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber dem, der den Dienst empfängt (Dienstherr).

Betätigung

Sein Betätigungsfeld zu finden, in dem man sich dienend sieht, kann angesichts der Not, die in der Welt vorhanden ist, schwieriger und hoffnungsloser sein, als mal eben seinen Mitmenschen unter die Arme zu greifen.

In Fargo, einer US-amerikanischen Serie, ist eines Abends Gus, ein Streifenpolizist, überfordert von dem Übel in der Welt und spricht mit einem Rabbiner, der ihm die folgende Geschichte des Jeremy Hoffstead erzählte, der das Leiden der Welt lindern wollte: Erst spendet er all sein Geld, dann seine Leber, merkt jedoch, dass auch dies das Leiden nicht lindert. Schlussendlich sucht er den Freitod, um all seine Organe spenden zu können. Auf die Frage, ob damit das Leiden gestoppt wurde, antwortet der Rabbiner, dass nur ein Verrückter glauben könne, die Probleme der Welt zu lösen. Daraufhin erwidert der Streifenpolizist Gus: „Ja, aber man muss es doch versuchen, oder?“

Eben jenes Versuchen macht das Dienen so unheimlich viel schwieriger als ein aufgabenbezogenes Helfen. Sich in den Dienst zu stellen und vielleicht während der ganzen verbleibenden Lebenszeit keine Auswirkung des Dienstes selbst zu erfahren bzw. gar rückgemeldet zu bekommen, ist ein Schicksal, das mehr Leute teilen, als es zunächst den Anschein erweckt.

Die Ereignisse der letzten Monate lassen auch einen Blick auf unseren Umgang mit den Flüchtlingen zu, die in unserem Land Schutz suchen. Was ist gemeint und/oder gefordert, wenn von einem Willkommensakt oder gleich einer Willkommenskultur gesprochen wird? Ist die große Bereitschaft von Menschen, sich der Nöte von Flüchtlingen anzunehmen, ein kollektiver Dienst oder eine Ansammlung von Hilfestellungen?

4. Wir dürfen den Diener, die Dienerin nicht gehen lassen!

Den Begriff des Dienstes bzw. des Dienens gilt es neu zu entdecken, um ihn u. a. aus der Ecke des vermeintlich Schwachen heraus zu holen, in den ihn die vermeintlich Starken stellen.

Dies ist lohnenswert, nicht nur weil der Dienst im Gegenüber vom Herrschen eine Forderung Jesu ist, sondern weil das Nachdenken über den Dienst neu Blickwinkel öffnet, mit denen Menschen in unserer Gesellschaft aufeinander schauen können, um zu einer besseren Lebensqualität in unserer Gesellschaft beizutragen.

Wer weiß, ob Dienen Segen bringt?

Die Ungewissheit, mit welchem Erfolg das eigene Handeln gesegnet ist, hat nicht wenige Menschen im Laufe ihres Lebens am Dienst zweifeln lassen. Schon in den Erzählungen über als Heilige
verehrte Menschen ist der Moment der „Abrechnung“, der Moment, in dem das Dienen den Verlierer zum Gewinner macht, von diesen als heilig verehrten Menschen selbst nicht erlebt worden.

Die meisten Menschen im 21. Jahrhundert sind z. B. weit entfernt von denen von der Kanzel predigenden Anweisern (sofern es sie noch gibt), die meinen, die Menschen unter Verweis auf die Heiligen in der richtigen Nachfolge als Dienende unterrichten zu müssen. Trotzdem ist in unserer Gesellschaft die Anforderung präsent, sich selbst eben passend einen Bereich zu suchen, in dem man möglichst effizient „Früchte“ tragen kann.

Ein Mensch, der sich entschließt, „Früchte“ für andere zu tragen, trägt auch Verantwortung. Verantwortung für sein Handeln, die Auswirkungen auf andere; für Versprechen, die man nicht immer einhält; für Tage, an denen der Dienst nicht angetreten werden kann. Verantwortung trägt er aber auch für sich selbst. Wer dienen will, muss sich immer wieder neu hinterfragen, die eigene Motivation ergründen und Wirkungen ausloten.

Die Kraft des Dienens

Die wahre Kraft des Dienens offenbart sich in Situationen, in denen scheinbar keine Hilfe möglich ist. Denn in Situationen, in denen auch um Hilfe nicht mehr gebeten werden kann, ist der Dienende doch Stütze, muss er doch nicht erst instruiert werden oder eine konkrete Anweisung erhalten. Da Dienen ein Prozess ist, ist der Dienende in der Lage, mit der Zeit nicht nur sich selbst durch Zurücknahme besser kennenzulernen, sondern ebenso ein Augenmerk für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu entwickeln. Er ist doch immerzu gezwungen, sein eigenes Handeln zu überdenken und so die Wirkung seines Dienstes zu erfassen. Ebenso ist er aber auch auf die Zeiten vorbereitet, in denen scheinbar keine Besserung geschieht; dennoch ist sein Handeln nicht
sinnlos, sein Dienst nicht vergebens. Gerade in Situationen, in denen Kommunikation nicht weiterzuführen scheint, ist die bloße Präsenz, die dem Dienen innewohnt, sei es vor Ort, sei es in Gedanken, eine Stütze und ein Antrieb.

Ein Mensch, der dient, steht nicht losgelöst von der Gesellschaft, unfähig zu interagieren, sondern ist heute eben genauso Teil dieser Gesellschaft. Er kommt den Menschen näher und nimmt sich selbst zurück. Und so lernt er mit der Zeit auch die anderen stärker wahrzunehmen, lernt nicht nur nebenbei mit Menschen zu leben, sondern ein Mensch, der dient, lernt mitten unter den Menschen zu leben, nimmt sich selbst zurück und löst damit auch potentiell bestehende Klassenunterschiede auf.

Jesu Dienstanweisung

Die Sollregel Jesu, „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20, 28) gründet in dem Liebesgebot Jesu „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39 parr.).

Das Liebesgebot Jesu aber ist kein Regelwerk, also keine Aneinanderreihung von Einzelgeboten, sondern verlangt immer wieder neu auf sich und auf sein Gegenüber zu schauen. Der Dienst entsteht im Geist dieses Liebesgebotes Jesu. Die annehmende Weise, auf den Nächsten zu schauen („liebe deinen Nächsten“), entfaltet die Autonomie des Dienens. Die annehmende Weise, auf sich selbst zu schauen („…wie dich selbst“), begründet die Selbstreflexion des Dienens.

Der Dienst ist dementsprechend nicht identisch mit den Taten der Nächstenliebe, sondern der Dienst impliziert die Nächstenliebe und zählt keinen Erfolg, auch nicht an „guten“ Taten.

Dienst, eine Sollhaltung

Der Dienst ist nicht primär eine Tätigkeit, zu der man sich immer mal wieder aufrafft, oder sie punktuell auch mit Begeisterung tut, sondern eine Haltung. Ich soll dienen, so Jesu Worte! Das bedeutet, die eigene Haltung auf die Person des anderen hin immer wieder neu als dienende zu entfalten und als die eigene, von mir selbst gewollte auch in ihrer jeweiligen Veränderung mit meinem eigenen Leben zu füllen.

Das ist die radikale Erwartung Jesu: das eigene Leben im Dienst für den anderen, als ein sich erfüllendes Leben schon anzunehmen, noch bevor ich es dann selbst im Dienen entfalte. Ich-Sein auf den anderen hin, aber nicht als ein Ausnahmezustand in Nächstenliebe, sondern als kontinuierlicher Dienst.

Selbstverständlich spielt auch das Vermögen des Dienenden eine Rolle, seine Einschätzung der sich wandelnden Situation, die eigenen Kräfte, die Reflexion bisherigen Geschehens sowie Gesundheit und Wohlbefinden. Aber keine Situation, welche auch immer, kann ausreichender Grund dafür sein, das der Dienenden sich selbst vom Dienst entbindet.

Autonomer Dienst

Der autonome Dienst orientiert sich primär an dem Dasein des Anderen. Dieses Dasein erschließt sich in der Selbstmitteilung dessen, der da ist, also meines Gegenübers, und der Wahrnehmungsfähigkeit, mit der ich meinem Gegenüber begegne. Es geht bei dieser Haltung also nicht um die Entscheidung sich generell verhalten zu wollen, sondern es geht um ein dienendes
Sich-verhalten-sollen, das der Notwendigkeit des Menschen zu atmen gleichkommt. Solch ein Dienst unterliegt keinem Regelwerk, das von außerhalb durch Gesetze, Vorschriften, Wohlwollen oder Erfahrung gesteuert wird.

Autonomer Dienst wurzelt in der Unverfügbarkeit des Gegenübers, dem einfachen Dasein des anderen Menschen. Der autonome Dienst ist unabhängig von dem persönlichen Horizont bisheriger Wahrnehmung und Deutung dessen, der dient, sonst wäre der Dienst ja gebunden an bekannte und gewöhnliche Muster eigenen Verhaltens und somit nicht mehr autonom. Nochmals: Die Autonomie des Dienens wurzelt in der Gegenwart meines Gegenübers, ohne Abstriche.

Konkret geht es hier um die Erkenntnis dessen, was der anderen Person (kontinuierlich) dient, nicht was ihm punktuell helfen mag. Der Dienst erfüllt sich hier also nicht in einer Hilfestellung, da der Dienst kein Vorher und Nachher kennt, sondern beständig vorhanden ist. Allerdings ist sein Vorhandensein nicht zu verwechseln mit einem Rund-um-die-Uhr-Service.

Dienst ist immer ohne eigene Vorteilsnahme zu verstehen, selbst ohne die, ein guter Mensch zu sein.

In der Autonomie des Dienstes liegt auch seine Kontinuität, seine zeitliche Unabhängigkeit, da sie sich orientiert am prozesshaften Werden, also am andauernden Werden und sich so auch Verändern der anderen Person. Der autonome Dienst hat „alles und nichts“ mit der Person des Dienenden zu tun. Ich bin der, der handelt, kann aber nicht mehr bieten als mich selbst. Autonomie
des Dienstes bezieht sich aber auf die Uneingeschränktheit des Anderen, und ist deshalb unabhängig vom Dienenden selbst.

Autonomer Dienst ist zu unterscheiden. Der Unterschied zum „normalen“ Dienst liegt darin, dass der Dienende schon entschieden ist, und sich nicht wahlweise immer mal wieder entscheiden wird. Die Schwierigkeit des Dienens entfaltet sich in voller Größe, wenn der Dienende selbst über Umfeld und Umfang des Dienens entscheiden muss, wenn also der Dienst an der Grenze zur Hilfe steht.

Wer dient ist unter Menschen, nicht bei, nicht mit, sondern mitten unter ihnen. Dieser Haltung zum Dienst bedeutet existentiell die Größe zu haben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Abstand von einem so verstandenen Dienen ist nur in der Einsamkeit zu erlangen, der Abwesenheit eines menschlichen Gegenübers. In dieser Abwesenheit eines Gegenübers ist ein ganz bei Gott Sein möglich.

„Man muss es doch versuchen, oder?“

Wie sich der zum Dienst entschiedene Mensch in dem Prozess des Dienens selbstbestimmt und eigenverantwortlich und somit sich immer wieder neu erfinden muss, so ist vielleicht nun auch die Zeit, in der der Begriff des Dienens von einer kommenden Generation wieder verändert werden kann, um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein.

Der oben erwähnte Streifenpolizist Gus aus Fargo ist überfordert von dem Übel in der Welt und spricht mit einem Rabbiner. Ihr Gespräch endet so: dass nur ein Verrückter glauben könne, die Probleme der Welt zu lösen. Daraufhin erwidert der Streifenpolizist Gus: „Ja, aber man muss es doch versuchen, oder?“

Dazu Papst Franziskus in seiner Ansprache auf dem Petersplatz am Palmsonntag 2016:

„Die Art und Weise des göttlichen Handelns mag uns so fern vorkommen, während wir uns schwer tun, wenigstens ein bisschen von uns selbst aufzugeben. Er hat für uns auf sich verzichtet; was kostet es uns dagegen, für ihn und für die anderen auf etwas zu verzichten! Aber wenn wir dem Meister folgen wollen, genügt es nicht nur sich zu freuen, weil er kommt, um uns zu erlösen, sondern wir sind auch aufgerufen, seinen Weg zu wählen: den Weg des Dienstes, der Hingabe (…).“[7]

Anmerkungen:
1 http://www.rp-online.de/nrw/staedte/neuss/jugendsprache-ey-du-opfer-aid-1.2780504. Stand 09.03.2016.
2 Stefan Voß: Du Opfer… (PDF; 92 kB). Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 12. 2003.
3 Sprachkritik: „Gutmensch“ ist Unwort des Jahres. In: Spiegel Online. Stand vom 12. 01.2016.
4 Vergleichbare Stellen gibt es bei: Mt 23,11; Mk 9,35; 10,43; Lk 22,26.
5 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/dasbibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/dienen-diener-nt/ch/5556d3320a2fca418333d134ea730ac3/ (Stand 2016-03-02).
6 Siehe: https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/dienen-diener-nt/ch/5556d3320a2fca-418333d134ea730ac3/ (Stand 2016-02-18).
7  http://de.radiovaticana.va/news/2016/03/20/die_palmsonntagspredigt_des_papstes_im_wortlaut/1216759 (Stand 20.03.2016, 13h).

Erschienen in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück. J.P. Bachem Verlag GmbH. Mai 05/2016

 

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Alltag, Mutterboden aller Feste

Um was es in der Geschichte eines „Ausnahmezustandes“ geht, die besser den Titel „vom barmherzigen Vater“ trüge als den „vom verlorenen Sohn“ ist klar: Es geht um Barmherzigkeit als Basis für einen Neustart. Die Akteure sind auch bekannt: der Vater und seine zwei ungleichen Söhne. Gefühle werden benannt wie: Heimat haben und in der Fremde sein, vernachlässigt und beschenkt, wütend und glücklich sein sowie Treue und Scheitern. Die allegorische Bedeutung ist auch klar: Es geht bei der Barmherzigkeit des Familienvaters letztlich um jene Gottes. Aber damit ist der Erzählwert dieser Begebenheit noch längst nicht ausgereizt, betrachten wir deren Standardsituationen genauer: das Fest und den Alltag. Beide finden gleichzeitig statt. Der treue Sohn ist auf dem Feld und tut was er immer tut: Alltag. Gleichzeitig kommt unerwartet sein Bruder, der verlorengegangen war, zurück, und der gemeinsame Vater macht für ihn den Alltag zum Fest.

Dieses Fest, wie jedes andere auch, ist nicht unendlich: Es mündet nach wenigen Stunden wieder in den Alltag. Das Fest wird aber nicht zum Alltag, sondern der Alltag bleibt einfach, was er auch während des Festes ist: Alltag, aber mit „Ausnahmen“. Das Fest betrachtet der eine Bruder als Bevorzugung. Neidvoll wendet er sich klagend an den Vater: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet.“ (Lk 15,29f )

Doch was geschah nach dem Fest? Es ist anzunehmen, dass die beiden alltäglich das Vieh gehütet und so dem Vater gedient haben. Nur der eine mit dem Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, und der andere mit dem Gefühl, beschenkt worden zu sein. Trotzdem, der ganz normale Alltag ist derselbe wie vor dem Fest, nur um die unterschiedliche Erinnerung an das Fest „reicher“. Was ist Ihnen lieber, der Alltag oder seine Auszeichnung, das Fest? Das Fest ist nicht der Gegensatz zum Alltag, sondern der „Adel“ des Alltäglichen, da einem etwas Besonderes wiederfährt, geschenkt oder eröffnet wird. Der Alltag ist die Erfahrungsebene des Besonderen, das den Alltag zum Fest werden lässt.

Das Fest ist nicht der Urlaub vom Alltag, sondern dessen Krone. Das Fest ist der Anker des Alltäglichen. In unserem Gleichnis war dem einen ein Geschenk im Alltag das Fest, dem Anderen war das Fest die Missachtung des Alltags. Wir klagen über das sich immer Wiederholende, die Routine… Aber sie ist doch der Mutterboden aller Feste, die dient, den Alltag zu bewältigen.

Erschienen  in: Katholische SonntagsZeitung für Deutschland, 5./6. März 2016
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Ein Dank an Theophilus

Lieber Theophilus, dir gilt, nicht nur von mir, ein ganz besonderer Dank für all das, was du weitergegeben hast von dem, was Lukas dir über Jesus erzählt hat. Lukas ist stark und überzeugend, so wie du, Theophilus, auch. Denn das, was Lukas akribisch und mit Herzblut recherchiert, nachgefragt, gesammelt und dir mitgegeben hat, das hast du überzeugend in deiner Art weitergegeben.

Lukas hat dich angesteckt mit seiner engagierten Art, mit der er von Jesus berichtet hat. Auch bei dir, Theophilus, spürt man die Authentizität und das Engagement, mit der du von den ersten Anhängern Jesus sprichst, von ihrer Begeisterung als Wegbegleiter des Herrn, aber auch von der plötzlichen Enttäuschung, der Traurigkeit und dann dem Aufbruch, von dieser vor Kraft nur so strotzenden Begeisterung der Jünger.

Von Lukas hast du ja auch erfahren, wie Jesus von Maria und Josef umgeben als Kind in einen Futtertrog lag, allerdings dort kaum Ruhe fand, da er schon als Kind von den Mächtigen seiner Zeit gefürchtet wurde und deshalb sein Leben bedroht war. Lukas hat dir dann ja auch von Stephanus erzählt, der selbst während seiner Steinigung einfach nicht schweigen wollte von dem, was Jesus in ihm bewegt hatte.

Theophilus, dies alles und noch viel mehr konntest und wolltest du nicht für dich behalten – sondern es drängte dich, diese Botschaften von und über Jesus mit Herzblut an deine Freunde, Familienangehörigen und Kollegen weiterzugeben. Deine freundliche, manchmal auch holprige Art, von Jesus, dem Christus, zu erzählen, hat die Menschen begeistert und bewegt.

So wird es dich, lieber Theophilus, hoffentlich freuen, das die Botschaft, die du von Jesus erzählt hast, bis heute immer weiter erzählt wird: Christen erzählen Heiden, frisch Getaufte ihren Familien, Eltern ihren Kindern, Großeltern ihren Enkeln, Lehrern ihren Schülern, Einheimische den Neuankömmlingen und Profis erzählen Neugierigen. Dieses Weitererzählen umspannt heute die ganze Welt. Auch ich habe über dich von Jesus Christus erfahren, denn ich bin in eine Gemeinde hineingeboren, die eine christliche Erzählgemeinschaft ist. Du wirst es kaum glauben, aber es stimmt: 2000 Jahre nach dir wird noch weitergegeben, was du von Lukas gehört hast. Ihr wart damals eine übersichtliche Erzählgemeinschaft, die – auch unter Einsatz ihres Lebens – von Jesus Christus Zeugnis ablegte. Noch heute werden Menschen verfolgt, die sich zu Christus bekennen. Bei uns in Deutschland braucht sich aber niemand zu fürchten.

Lieber Theophilus, in den vergangenen 2000 Jahren hat sich fast alles verändert. Nur eines ist damals wie heute gleich geblieben: Der Glaube kommt vom Hören. So brauchen wir auch heute Erzähler und Erzählerinnen, Verkünder, Zeugen: Christen eben, die einfach den Mund nicht halten können, wie du damals!

Erschienen  in: Katholische SonntagsZeitung für Deutschland, 23./24. Januar 2016
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Barmherzigkeit

Gottes Wirklichkeit und des Menschen herzliche Erkenntnis

Von Christoph Stender zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit 2015 / 2016

Gottes Wirklichkeit

1. Das Ankündigungsdokument des „MISERICORDIAE VULTUS“ durch Papst Franziskus

Am 08.12.2015 eröffnet Papst Franziskus das „MISERICORDIAE VULTUS“, das Heilige Jahr der Barmherzigkeit. Papst Franziskus erläutert in seinem Ankündigungsschreiben des Heiligen Jahres, warum er diesen Termin gewählt hat: „(…) weil er eine große Bedeutung in der jüngsten Kirchengeschichte hat. Ich werde nämlich die Heilige Pforte genau fünfzig Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils öffnen.“[1 ]

  • Das Thema Barmherzigkeit lag schon in der Intention des II. Vatikanischen Konzil, und kam in der Eröffnungsansprache am Konzilsbeginn von Papst Johannes XXIII. zum Ausdruck: “Die katholische Kirche, während sie durch dieses ökumenische Konzil die Leuchte der katholischen Glaubenswahrheit hoch hält, will sich damit als eine sehr liebevolle, gütige und geduldige Mutter aller erweisen, voller Erbarmung und mit Wohlwollen für ihre Kinder, die von ihr getrennt sind.“[2 ] Das II. Vatikanische Konzil schließt mit den Worten von Papst Paul VI., der wiederum die Diktion des Konzils auf die Zukunft hin ausrichtet: „Wir wollen vielmehr unterstreichen, dass die Religion dieses Konzils die Nächstenliebe ist (…). Die uralte Erzählung vom barmherzigen Samariter wurde zum Paradigma für die Spiritualität dieses Konzils. (…) Eine Woge der Zuneigung und der Wertschätzung für die moderne Welt ging von diesem Konzil aus.“[3]So knüpft Papst Franziskus mit dem Thema der Barmherzigkeit deutlich an eine zentrale Diktion des II. Vatikanischen Konzils an, die in der Rezeption des Konzils kirchlicherseits eher zu kurz gekommen ist.
  • Das Thema Barmherzigkeit ist für Jorge Mario Bergoglio SJ ein Querschnittthema, das er in seinem bisherigen Wirken immer wieder von sich, der Kirche und den Menschen eingefordert hat. In seinem ersten (längeren) Interview als Papst mit der Zeitschrift „Civiltà Cattolica“ (deutsche Ausgabe „Stimmen der Zeit“) äußert Franziskus sich kurz in unterschiedlichen Kontexten zur Barmherzigkeit, hier im Bezug auf die Kirche: „Die Kirche hat sich manchmal in kleine Dinge einschließen lassen, in kleine Vorschriften. Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: ›Jesus Christus hat dich gerettet.‹ Die Diener der Kirche müssen vor allem Diener der Barmherzigkeit sein[4 ].
  • Papst Franziskus beschreibt am Beginn seiner Ankündigung des Hl. Jahres die theologische Einbettung der Barmherzigkeit: „Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. In Jesus von Nazareth ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden und hat ihren Höhepunkt gefunden. Der Vater, der ʽvoll des Erbarmensʼ ist (Eph2,4), der sich Mose als ʽbarmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treueʼ (Ex 34,6) offenbart hatte, hat nie aufgehört auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte seine göttliche Natur mitzuteilen. Als aber die „Zeit erfüllt war“ (Gal l4,4), sandte Er, seinem Heilsplan entsprechend, seinen Sohn, geboren von der Jungfrau Maria, um uns auf endgültige Weise seine Liebe zu offenbaren. Wer Ihn sieht, sieht den Vater (vgl.Joh14,9). Jesus von Nazareth ist es, der durch seine Worte und Werke und durch sein ganzes Dasein die Barmherzigkeit Gottes offenbart.“[5]
  • Doch Barmherzigkeit darf nicht als Mechanismus verstanden werden, der sich Quasi „von selbst einstell“ wenn der Mensch das Bedürfnis verspürt Barmherzigkeit zu benötigen. Im Umfeld der Bekanntgabe des Heiligen Jahres klärt Kardinal Piacenza in einem Interview dem Worten des Heiligen Thomas folgend, warum Barmherzigkeit kein selber zu lösender Freifahrtsschein ist.

Kardinal Piacenza[6] stellt fest, ausgehend vom Hl. Thomas von Aquin, der die Meinung vertritt, das Barmherzigkeit weder blinde Toleranz noch Rechtfertigung der Sünde sei, und schon gar nicht ein Recht. Piacenza führt aus: „Die Barmherzigkeit ist nicht ʽToleranzʼ, weil sie sich nicht darauf beschränkt, den Sünder zu ʽertragenʼ um ihn weiter sündigen zu lassen, sondern die Sünde offen verurteilt, und genau auf diese Weise den Sünder liebt: Sie erkennt, dass er nicht aus seiner Sünde besteht, sondern mehr (…) ist. Die Barmherzigkeit rechtfertigt zudem nicht die Sünde unter Verweis auf welche soziokulturellen, wirtschaftspolitischen oder persönlichen Umstände auch immer. Sie schätzt den Menschen vielmehr so sehr, dass sie von ihm Rechenschaft für jede seiner Handlungen verlangt und ihn so als »verantwortlich« vor Gott anerkennt. Und schließlich ist die Barmherzigkeit kein Recht, es gibt keinen Anspruch darauf, nur weil man existiert. (…) Die Barmherzigkeit hingegen kann nicht eingefordert werden, weder gegenüber Gott noch gegenüber der Kirche, der Dienerin der göttlichen Barmherzigkeit.“[7]

Die nicht Abrufbarkeit der Barmherzigkeit Gottes unterstreicht der Papst in seiner Ankündigung mit den Worten des Aquinaten: „Barmherzigkeit walten zu lassen, ist ein Wesensmerkmal Gottes. Gerade darin zeigt sich seine Allmacht.“[8] Dies verdeutlicht, das Barmherzigkeit kein schwächeln Gottes ist, oder gar eine Anbiederung Gottes an den Menschen. Barmherzigkeit ist eine „Qualität“ Gottes, die seinen Urgrund in der Allmacht Gottes hat.
Und der Heilige Vater unterstreicht diese Aussage noch mit einem der ältesten Tagesgebete unserer Liturgie: „Großer Gott, du offenbarst deine Macht vor allem im Erbarmen und im Verschonen.“[9]
Barmherzigkeit ist ein freier Akt Gottes auf den Menschen hin. Gleichzeitig bedarf das Erleben dieses freien Aktes Gottes auch einer Vermittlung. Mit Blick auf die Gleichnisse des Neuen Testamentes, in dem Jesus erlebbar Barmherzigkeit zu seiner Handlungsmitte macht, nimmt er auch jene Kinder in die Pflicht, die sich auf ihn als Christen berufen, und stellt ein für alle male fest, dass: „Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft des Handelns Gottes ist. Sie wird vielmehr auch zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde.“[10]

  • Der Aufruf zur Barmherzigkeit im Heiligen Jahr bekommt aber auch durch den organisatorischen Ablauf, der Öffnungen der Heiligen Pforten in Rom und Weltweit einen gewissen prosesshaften Charakter.
    Am Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens (08.12.2015) wird der Papst die Heilige Pforte im Petersdom öffnen. Am 3. Advent wird die Heilige Pforte in der Bischofskirche von Rom, der Basilika Sankt Johannes im Lateran, geöffnet. Nach und nach folgen die anderen Papstbasiliken in Rom. Sukzessive sollen dann in allen Teilkirchen, in Bischofskirchen und in anderen Kirchen mit herausragender Bedeutung für die Dauer des Heiligen Jahres ebenfalls eine Pforte der Barmherzigkeit geöffnet werde.
    Es ist geplant, das Papst Franziskus selbst auch eine Pforte der Barmherzigkeit in einer Obdachlosenunterkunft der Caritas beim römischen Hauptbahnhof, der Stazione Termini, eröffnen wird.
    Während seines Besuches in Bangui, in der Zentralafrikanischen Republik, hat Franziskus quasi vorweg eine „Heilige Pforte“ in der dortigen Kathedrale geöffnet. „Möge Bangui die spirituelle Hauptstadt der Welt werden“[11], wünschte Franziskus. Das Heilige Jahr beginne vorzeitig in einem Land, das unter Bürgerkrieg, Hass und dem Mangel an Verständigung leide, sagte der Papst am Sonntagabend. Im Geiste seien in Bangui alle Länder anwesend, die das Kreuz des Krieges erlebten: „Wir alle bitten um Frieden, Barmherzigkeit, Versöhnung, Verzeihung, Liebe! Für Bangui, die ganze Zentralafrikanische Republik und die ganze Welt; für alle Länder, die unter Krieg leiden, erbitten wir Frieden.“[12] Am Ende des Jubiläums empfängt Papst Franziskus im Vatikan Häftlinge, die aus diesem Anlass das Gefängnis verlassen dürfen.

2. Pforten der Barmherzigkeit

Die Pforte als vergegenwärtigendes Symbol
Die menschliche Kommunikation bedarf nicht nur der Sprache, sie bedient sich auch der Gesten, Gebärden und Haltungen. Ebenfalls bedient sich die menschliche Kommunikation besonderer Symbole, die zum Ausdruck bringen sollen, dass über das Symbol selbst hinausreicht.
Das deutsche Wort Symbol geht auf den lateinischen Begriff „Symbolum“ zurück und dieser wiederum auf das griechische Wort σύμβολον, das zu übersetzen ist mit Erkennungszeichen oder Merkmal. Das griechische Wort ist zusammengesetzt aus συμ (zusammen)und βάλλo (werfen), also zusammen – werfen.
Das Symbol verdichtet, wirft zusammen, mal eine Intention, eine Bedeutung, oder eine Aussage, und steht für diese als „Erkennungszeichen“.
So steht die „Heilige Pforte“ für die (wechselnde) Intention eines Heiligen Jahres, in diesem heiligen Jahr nun für Barmherzigkeit.
Erstmals rief Papst Bonifatius VIII. im Jahre 1300 ein geordnetes heiliges Jahr aus, als Würdigung der 1300 Wiederkehr des Geburtsjahres unsres Herrn Jesus Christus.
Anfänglich wiederholten sich ein Heiliges Jahr alle 100 Jahre, ab 1475 verringerte sich dann der Abstand auf alle 25 Jahre. Daneben gab es auch immer wieder Heilige Jahre außerhalb der Reihe, die außerordentlichen Heiligen Jahre. Solch ein außerordentliches Heilige Jahr ist auch das kommende.
„Das kirchliche Jubeljahr knüpfte indirekt an das biblische Erlassjahr an: einen alle 50 Jahre gebotenen Schuldenerlass und Besitzausgleich für alle Israeliten (Lev 25,8-55). Die Bezeichnung ʽJubeljahrʼ oder ʽJobeljahrʼ stammt vom hebräischen Wort jobel (‏יובל‎), das ursprünglich ʽWidderʼ bedeutete. Aus Widderhörnern wurde das Blasinstrument Schofar gebaut, das zur Eröffnung eines Erlassjahrs geblasen werden sollte. Daher wurde der Ausdruck jobel auf das Instrument und das damit eröffnete Erlassjahr übertragen.“[13]

Wer im kommenden Heiligen Jahr also durch eine Heilige Pforte geht, dem will das Symbol des Tores vergegenwärtigt, das er als christlicher Pilger der Barmherzigkeit Gottes bedarf. In gleicher Weise erinnert die Pforte gleichzeitig daran, dass es ein „Markenzeichen“ christlichen Handels ist, Barmherzigkeit zu üben.

  • An dieser Stelle möchte ich einen vielleicht überraschenden Gedanken ankündigen, den ich in meinen Ausführungen heute Mittag genauer besprechen werde.  Könnte es nicht ein wichtiges Zeichen der gemeinsamen Zukunftsgestaltung Ihres gemeinsamen Lebens in diesem Kloster sein, auch hier eine Heilige Pforte zu eröffnen, ein Tor der Barmherzigkeit?

3. Barmherzigkeit als Solidarität oder Identität? Eine Frage an Clara Fey[14], der Gründerin der Schwestern vom armen Kinde Jesus!

Walter Kardinal Kasper[15] bemerkt in seinem Buch[16] zur Barmherzigkeit, im Kontext der jesuanischen Seligpreisungen (Mt 5,7): „Er hat sich mit den Armen nicht nur solidarisiert, er hat sich mit ihnen identifiziert.“[17]

Die Solidarität mit den Armen, insbesondere mit den armen Kindern hat Clara Fey als ihre Berufung entdeckt. Mit dieser Anmerkung von Kasper stellt sich für mich auch die Frage, um Mutter Clare weiter zu entdecken, in wieweit sie sich auch mit den armen Kindern ihrer Zeit identifizieren konnte, oder ob sie mit ihnen „nur“ solidarisch war. War die reale Armut der Kinder die Identität von Mutter Clara? Das ist für mich eine Frage, der es lohnt nachzugehen, da es mit deren Beantwortung auch um die Frage nach der Spiritualität Claras und der Gemeinschaft geht, sowie um die Motive zum Apostolat.

Dieser Nachgang kann eine Motivation sein, neu Reflextiert von Clara in Zukunft hinein zu sprechen. Eine Möglichkeit, eine Antwort auf diese Frage in der Biographie Claras und der der entstehenden Genossenschaft der Schwestern vom Armen Kinde Jesus zu finden, wäre die neue Analyse des Übergang von der „stundenweise“ Sorge um die armen Kinder, hin zum gemeinschaftlichen mit den armen Kindern als Schwesterngemeinschaft leben.

4. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Wer über die Barmherzigkeit nachdenkt, der kommt nicht ganz am Begriff der Gerechtigkeit vorbei, da ja die Barmherzigkeit weiter „greift“ als es die Gerechtigkeit kann, die Gerechtigkeit somit aber in keiner Weise relativiert wird.
„Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen“[18]
Doch was ist Gerechtigkeit? Was bedeutet es, jedem das Seine zu geben (suum cuique)? Walter Kardinal Kasper bemerkte zu der Frage in seiner Festrede zum Thema “Barmherzigkeit im Kirchenrecht“, die er am 29. Oktober 2015 im Krönungssaal des Aachener Rathaus vortragen ließ[19], anlässlich des 75. Geburtstag von Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff:
„Schwierig wird es freilich, wenn es darum geht, konkret zu sagen, was das Seine ist, was das Meine und was das Deine, was ist das Unsrige und was das der anderen ist. Was ist gerechter Lohn, was gerechter Preis? Was ist ein nicht nur rechtsverbindliches sondern auch gerechtes Gesetz? Was ist soziale Gerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Gerechtigkeit zwischen armen und wohlhabenden Ländern? Gib es im Konfliktfall gar einen gerechten Krieg?“[20]

Nach weiteren Ausführungen kommt der Kardinal zu dem Schluss: „Nicht nur vollkommene Gerechtigkeit, sondern auch volle Übereinstimmung über das, was vollkommene Gerechtigkeit ist, lässt sich innerweltlich bestenfalls annäherungsweise erreichen und wird immer wieder neu umstritten sein.“[21]
Die Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit sieht Kasper in „einer kosmischen göttlichen Ordnung begründet, die uns Menschen vorgegeben und zugleich zur Verwirklichung aufgegeben ist.“[22] Der Gerechte ist also der, der sich an die göttliche Weisung hält, also die Gebote Gottes gottesfürchtig beachtet.
Da, wo die Gebote vom Menschen missachtet[23] werden, er sich also von Gottes Weisung abwendet, da fällt er in Ungnade, es steht ein Graben zwischen Gott und dem Menschen. Wenn es nun in der langen religiösen Tradition des Menschen nur ein Mittel gibt, um den Graben zwischen Gott und dem Menschen zu überwinden, nämlich das Opfer des Menschen das Gott gefallen möge, dann, so der Kardinal, setzt mit der anderen Ansicht Gottes eine „prophetische Revolution ein, die das ganze altorientalische auch altisraelische Weltbild bis in seine letzten Fundamente erschüttert.“[24] Diese andere Ansicht Gottes wird bereits sichtbar nach dem Bundesschluss zwischen Gott und Mose, bzw. nach dem Bundesbruch mit Gott, den das Volk begeht, in dem es um das goldene Kalb tanzt: Gott zeigt sich nicht als der, der wütend dreinschlägt, sondern als ein „barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Barmherzigkeit Gottes, dessen Langmut, Huld und Treue sich nicht in der Vorstellungskraft des Menschen erschöpft, bzw. aufgeht im bisherigen Erleben der Menschheitsgeschichte das Handeln Gottes betreffend.

5. Barmherzigkeit und Kirche

Da die Kirche, die Ecclesia, die Sammlung des pilgernden Volkes Gottes ist (Lumen Gentium), kann sie nicht anders, als in dieser Welt zu leuchten, die Gemeinschaft wie der Einzelne, als ein sichtbares Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, der Welt erschienen im Licht für die Welt, Jesus von Nazareth, den wir als Christus bekennen.
Immer da, wo Kirche als Gemeinschaft oder auch einzelne ihrer Glieder Barmherzigkeit vermissen lassen, da verdunkeln sie das Licht ihrer Gemeinschaft, die Kirche.
So schreibt Franziskus in seiner Ankündigung des Heiligen Jahres: „Der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt, ist die Barmherzigkeit. Ihr gesamtes pastorales Handeln sollte umgeben sein von der Zärtlichkeit, mit der sie sich an die Gläubigen wendet; ihre Verkündigung und ihr Zeugnis gegenüber der Welt können nicht ohne Barmherzigkeit geschehen. Die Glaubwürdigkeit der Kirche führt über den Weg der barmherzigen und mitleidenden Liebe.“[25]
Papst Franziskus verbindet unsere Kirche existentiell mir der Barmherzigkeit. Mit der Barmherzigkeit geht allerdings auch die Vergebung einher. Damit relativiert er nicht den Sinn und Zweck von Geboten des Glaubens und Anforderungen der Kirche. Allerdings trägt die Präsenz der Anforderung von Barmherzigkeit dazu bei, das auch der Mensch der nicht 100% einer Anforderung in der Kirche entspricht, oder ein Mensch der gescheitert ist, nicht einzig aus der Perspektive dessen gesehen werden kann und darf, nur einer zu sein, der eine Anforderung nicht erreicht hat, bzw. irgendwie gescheitert ist.
Barmherzigkeit misst den Menschen nicht an seinem Scheitern! Kardinal Kasper führt dazu in seiner Festansprach für Bischof Mussinghoff aus:
„Die Barmherzigkeit hebt nichts auf, sie macht Gerechtigkeit, wo sie zerbrochen ist, neu möglich. Sie rechtfertigt nicht die Sünde, sondern den Sünder, so dass er neu gerecht handeln kann. Sie ist Gottes Option gegen den Tod und die Mächte des Todes und für das Leben. Denn Gott will nicht den Tod des Sünders, den er verdient, er will dass er lebt (Ez 33,11). Gott ist ein Freund des Lebens (Weish 11,26).“[26]

Gott ist barmherzig, so der Tenor des Kardinals in seiner Festansprache, in der er weiter ausführt: „Er (Gott) hat ein Herz für den Menschen, der in Not ist. Misericordia, ein Herz (cor) haben für die miseri, die im Elend Lebenden. So offenbart er sich bereits am brennenden Dornbusch. Er sieht das Elend und hört das Klagegeschrei (Ex 3,7). Die Barmherzigkeit ist jedoch mehr als Mitleid; sie ist aktiver Widerstand gegen das Böse. Er führt sein Volk heraus aus dem Sklavenhaus Ägypten. Er setzt nicht auf einen gerechten Ausgleich, nicht auf die Restitution der alten Ordnung wie in der altorientalischen Vorstellung. Er schafft eine neue Ordnung; er. schenkt einen neuen Anfang.“[27]

  • Die intellektuelle Hinwendung zur Bedeutung der Barmherzigkeit und so eine Auseinandersetzung mit ihr, ist ein Zugang zur Barmherzigkeit. Ein mindestens ebenso wichtiger Zugang ist die eigene biographische Reflexion, anhand der Frage: Wo habe ich in meinem Leben Barmherzigkeit Gottes, aber auch Barmherzigkeit durch Menschen, wie Mitschwestern und Mitbrüdern erfahren?

6. Barmherzigkeit, eine „Verhaltensoption“

Die Linie der Barmherzigkeit zieht der Heilige Vater weiter mit Blick auf den Menschen, der in der Barmherzigkeit Gottes existieren. „Dieses Geheimnis der Barmherzigkeit gilt es stets neu zu betrachten. Es ist Quelle der Freude, der Gelassenheit und des Friedens. Es ist Bedingung unseres Heils.
Barmherzigkeit, in diesem Wort offenbart sich das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Barmherzigkeit ist der letzte und endgültige Akt, mit dem Gott uns entgegentritt. Barmherzigkeit ist das grundlegende Gesetz, das im Herzen eines jeden Menschen ruht und den Blick bestimmt, wenn er aufrichtig auf den Bruder und die Schwester schaut, die ihm auf dem Weg des Lebens begegnen. Barmherzigkeit ist der Weg, der Gott und Mensch vereinigt, denn sie öffnet das Herz für die Hoffnung, dass wir, trotz unserer Begrenztheit aufgrund unserer Schuld, für immer geliebt sind.“[28]

7. Klärung korrespondierender Begriffe

Um sich der Bedeutung des Wortes Barmherzig weiter anzunähern ist es auch hilfreich, sich einige korrespondierende Begriffe anzuschauen. Sie machen ergänzend deutlich, was Barmherzigkeit primär nicht ist.

  • Demut (D), eine Definition
    Verhaltensweise des Menschen, der im Bewusstsein seines radikalen Abstandes von Gott, dem vollkommenen Sein, die Selbstentäußerung Gottes in seinem Sohn (Phil 2,2 – 8) u. die darin geoffenbarte Umkehrung (Erhebung) des kleinen und schwachen dieser Welt zum Großen im Königtum Gottes (Mt 18,4 mit Parallelen) dankbar und mutig entgegen genommen hat. Diese demütige Selbstannahme drückt sich vor allem in Akzeptierung (Vergebung, Ertragung) der Schwäche des Mitmenschen, Dienstbereitschaft diesem u. Gott gegenüber aus.[29]
  • Gnade (G), eine Definition
    „(althochdeutsch ganada = Wohlwollen, Gunst, griech. chariss, lat. Gratia) ist in der Theologie die sich herabneigende personale, absolut ungeschuldete Huld Gottes gegenüber dem Menschen; G. bezeichnet aber auch die Wirkung dieser Huld, in der Gott sich selbst dem Menschen mitteilt.“[30]
  • Gerechtigkeit (G), eine Definition
    „Gerechtigkeit ist ʽdie Haltung, kraft deren einer standhaften u. beständigen Willens einem jeden sein Recht zuerkenntʼ (Thomas v. Aquin), nach der klassischen Lehre von den Tugenden die zweite Kardinal Tugend (…).
    Ist die G. auch dem Rang nach die höchste sittliche Tugend, so ist sie in ihrer christlichen Verwirklichung doch untrennbar von der Liebe, da vom Christen mehr verlangt ist als Unparteilichkeit, die jedem das gleiche Recht zuerkennt, oder als die Respektierung unabdingbarer Sachrechte.
    Der Christ kann da er nicht akzeptieren, daß der ökonomische Bereich nur von eigenen Gesetzen beherrscht wird (Schuldner in der Liebe bleibt man immer: Röm 13,8).
    Der biblische Gerechtigkeitsbegriff ist vom Gesetz her bestimmt; es wird im AT und im NT unbefangen angenommen, dass es Gerechte gibt, die in Gottesfurcht u. Nächstenliebe den heiligen Willen Gottes erfüllen (…).“[31]
  • Barmherzigkeit / Erbarmen (B), eine Definition
    „(…) Die Barmherzigkeit Gottes spricht das AT vor allem mit den bezeichnenden Verben “ mütterlich sein“ u. “sich herabneigen“ aus. (…) Für die christliche Theologie geht die B. Gottes zwar schon aus seiner Unendlichkeit in jeder Vollkommenheit (DS 3001; NR 315) hervor, sie ist aber von dem, der sachlich das Gericht verdient hat, nicht zu berechnen u. einzukalkulieren, sondern nur als heilsgeschichtliche Erfahrung dankbar entgegenzunehmen. Sie hebt die Gerechtigkeit Gottes nicht auf, weil sie selbst den Sünder gerecht vor Gott macht, so das Gottes in einen seiner B. u. Gerechtigkeit gerecht wird.“[32]
  • Verdichtung der oben ausgeführten korrespondierenden Begriffe:

→ Was meint Demut?
Demut ist die aus der Erkenntnis gewonnene Verneigung vor dem absolut Anderen, dem Schöpfergott, aus der heraus die Demut vor dem resultiert, was der Schöpfer Geschaffen hat, besonders dem Menschen, aber auch der Natur.
Demut in der Geste: Verneigung.

→ Was meint Gnade?
Gnade ist eine nicht zu berechnende Zuwendung Gotte, ein freier Akt, der dem Menschen etwas zugesteht auf das er aus sich selbst heraus keinerlei Anspruch hat.
Gnade in der Geste: gereichte Hand.

→ Was meint Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit ist die kontinuierliche Haltung, einem jeden Menschen Recht zuzuerkennen, auf der Basis eines gleichen und unparteilichen Rechtsverständnisses.
Gerechtigkeit in der Geste: Zeigefinger     

→ Was meint Liebe?
Liebe ist ein Wort, das lebendig eingeholt werden muss in der uneingeschränkten Annahme eines Menschen, so wie er (von Gott) gegeben ist, von einem Gegenüber, das wehrlos und dies gewollt als Selbststand in dieser Annahme aufgeht.
Liebe in der Geste: geöffneten Arme

8. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger
„Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König, der beschloss, von seinen Dienern Rechenschaft zu verlangen.
Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm, der ihm zehntausend Talente schuldig war.
Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen.
26 Da fiel der Diener vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen.
27 Der Herr hatte Mitleid mit dem Diener, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.
28 Als nun der Diener hinausging, traf er einen anderen Diener seines Herrn, der ihm hundert Denare schuldig war. Er packte ihn, würgte ihn und rief: Bezahl, was du mir schuldig bist!

Da fiel der andere vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen.
Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.
Als die übrigen Diener das sahen, waren sie sehr betrübt; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war.
Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast.
Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?
Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe.
Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt. [33] (Mt 18, 23-35)

9. Annäherung an das Gleichnis
Ein Blick auf den Beginn dieser Begebenheit bei Matthäus:
Der Verschuldete bat um Aufschub, als der Darlehensgeber sein Recht auf Rückzahlung einforderte. Allerdings gewährte er den erbetenen Aufschub des Darlehensnehmers nicht. Der Darlehensgeber besann sich nämlich eines anderen, und schenkte dem Schuldner das, was er ihm schuldig war. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Spekulationen:
War es Berechnung, so nach dem Motto ich könnte ja auch mal in eine solche dumme Situation kommen. Oder war es Angst vor höheren Mächten, die ihn, den Reichen, der Gier bezichtigen könnten, da er doch mehr besaß als er zum Leben brauchte? Hatte er vielleicht ein schlechtes Gewissen wegen der Folgen für die Familie des Schuldners? Stand er etwa unter Druck, weil eine gewisse Öffentlichkeit auf ihn schaute? Was hat ihn also bewogen „unnormal“ zu handeln?

Andeutungen

Schauen wir etwas genauer auf die Verse 26 und 27, wie sie vom Original her ins Deutsche übersetzt werden, dann wird ein „Prozess“ deutlich:
26 (Nieder) gefallen nun der Knecht bat unterwürfig ihn, sagend: Sei großmütig mit mir, und alles werde ich zurückzahlen dir.
27 Sich erbarmt habend aber der Herr jenes Knechtes, gab los ihn, und das Darlehen erließ er ihm.[34]

Hier ist ein kleiner Zusatz (fett) im 27. Vers, dessen Sinn in der Einheitsübersetzung etwas verloren gegangen ist: „(…) erbarmt habend (….) gab los ihn (…) erließ (…) ihm.“[2]

Hier sind drei „innere Schritte“ zur Barmherzigkeit zu erkennen!
→ Erstens:
Erbarmen haben: Ihn mit dem Herzen sehen, die Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit, das nicht mehr können…
→ Zweitens:
Gab los ihn: befreite ihn wieder zu sich selbst, gab ihm den Selbststand zurück. Gab ihn in seinem eigenen Innern frei, ließ ihn los. Nahm Abstand von seiner Haltung des Überlegeneren, des im Recht Seienden. Verzichtete auf Besserwisserei, kluge Belehrung und Untertöne.
→ Drittens:
Erließ ihm: Dann erst schenkt er dem Schuldner die materielle Schuld.

10. „Gab los ihn“, aktuell

Diese inneren drei Schritte ermöglichen Barmherzigkeit aus der Perspektive des Menschen auf Menschen hin.
Aber auch einzeln sind diese Schritte, der erste und der zweite von Bedeutung, z.B. wenn es nicht darum geht materielle Schulden zu erlassen, sondern Bürden.
Bürden, die auf anderen Menschen lasten, entweder weil sie die sich selbst auf die Schultern gelegt haben, oder weil sie die von anderen Menschen auf die Schultern gelegt bekommen haben.
Unter Bürden die Menschen tragen (müssen) verstehe ich: Bisherige (fremd) Annahmen (Vorurteile), gemachte Erfahrungen, erfahrenes Unrecht, Kränkungen, oder Fehleinschätzungen. Subjektiv empfundene Vernachlässigung, Benachteiligung, oder Bevormundung.
Bürden sind nicht nur all das, was das Leben schwer sein lässt, sondern auch das, was an einen ehrlichen und offenen Umgang auf Augenhöhe mit anderen Menschen hindert. So gemeint auch in Gemeinschaften (Orden, Genossenschaften, Teams…) von Menschen unterschiedlichster Art.

Besonders dann diese zwei Schritte zu wagen, auch als Gemeinschaft, wenn alles Vertraut ist aber auch dann, wenn Veränderungen anstehen (müssen), ist eine Herausforderung.

Konkret:
1. Erbarmen haben: Die Mitmenschen mit dem Herzen sehen, die Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit, das nicht mehr, oder auch nicht mehr anders können. Auch das Selbstverschuldete mit dem Herzen sehen, die Enge, die Angst, die Zerbrechlichkeit, die Unsicherheit, eben alles was wir an Bürden beim anderen sehen und erleben.
2. “Gab los ihn“: Befreite ihn zu sich selbst wieder. Absehen von den Bürden des anderen, auf die man bisher immer wieder gestarrt hat. Das Gegenüber in seinem eigenen Innern frei geben, ihn loslassen aus meinen bisherigen Vorstellungen (vielleicht auch unerfüllten Wünschen). Abstand nehmen von der eignen Haltung des Überlegeneren, des im Recht Seienden. Verzichteten auf Besserwisserei, kluge Belehrung, Vorverurteilungen und Untertöne.

11. Gedankensplitter zum weiterdenken:

  • Ein Herz für die haben, die mit oder vor dem eigenen Herzen gescheitert sind.
  • Ein Herz habe bedeutet das Leben des Anderen anzukurbeln, damit dessen Herz besser pulsiert.
  • Ist Barmherzigkeit in einer Schwesterngemeinschaft normal oder was besonderes?
  • Nicht nur Einzelpersonen bedürfen der Barmherzigkeit, sondern auch Gruppen und Gemeinschaften.
  • Barmherzigkeit ist keine Missionierungsstrategie, auch nicht das weichklopfen andere für die eigenen Vorstellungen.
  • Barmherzigkeit bedeutet, den andren Menschen eben nicht in eine Schublade stecken.
  • Barmherzigkeit sich selbst gegenüber kann bedeuten, sich selbst zurück zu nehmen, von sich selbst auch mal absehen zu können.

     

12.  Pforte der Barmherzigkeit im Kloster Michaelsbergstrasse

Offiziell sind Heilige Pforten in Klöstern nicht (unbedingt) vorgesehen.
Aber wenn sie verstanden werden wie ein Symbol, als Wiedererkennungszeichen, dann täte es doch einem alltäglichen Ablauf in einem Kloster auch mal gut durch eine „Pforte“ zu schreiten, die an Barmherzigkeit erinnert, und das auch noch im Kontext der ganzen Kirche. Das braucht ja keine eigene Türe zu sein. Das kann doch auch eine Türe des Alltags sein, die ein wenig geschmückt ist, durch die ganz viele Schwestern gehen, und die so erinnert an eine Grundoption christlicher Gemeinschaft. Barmherzigkeit als Herausforderung, über die man täglich in einer eigenen kleinen Heiligen Pforte auch mal „stolpern“ kann.

13.  Die Ironie Gottes

“Etwas über die Kirche heute zu sagen ist einerseits beglückend und andererseits schwer. Schwer deswegen, weil die Kirche nicht nur von den anderen draußen, sondern auch von uns selbst immer wieder so schwer zu verstehen ist.

Ich erinnere mich gut an eine Erfahrung, die mir das besonders deutlich machte. Es war während einer Session des II. Vatikanischen Konzils, als mein Bischof die katholischen Geistlichen unserer Stadt zu einem gemeinsamen Gottesdienst mit ihm in den Dom einlud. Wir mussten mit Chorrock feierlich und würdig im Altarraum Platz nehmen, und unsere Blicke trafen sich, denn die Bänke stehen gegeneinander (Ergänzung durch die Redaktion: Die Gottesdienstteilnehmer schauten sich in die Augen.). Normalerweise ist man ja davor verschont, einander sehen zu müssen, aber hier waren wir einmal einander konfrontiert.
Ich muss gestehen, als ich diese sehr unterschiedlichen Leute sah, da überkam mich ein leises Grauen, und ich sagte zu mir: ʼUm Himmels willen, aus dieser Portion Menschheit, diesem sonderbar zusammengewürfelten Gefüge, soll Gott etwas fertig bringen können?

Wenn ich da an irgendjemand denke, der auf der Straße draußen läuft und dem es nicht einfällt, in solch einem Gottesdienst zu kommen, dann habe ich es leichter, mich mit dem zu verstehen, als hier mit diesen sonderbaren Confratres neben mir. Wie sollen wir unter einen Hut kommen, wie sollen wir die Stelle des Wirkens Gottes in der Welt sein?ʽ
Gerade bei dieser Schwierigkeit überfiel mich zugleich ein anderes: Genau das ist es, was Gott mit seiner Kirche zeigen will. Genau das ist es, dass er aus Menschen, die so unterschiedlich, die ʽJuden und Griechenʽ sind – um es in der Sprache des Neuen Testamentes zu sagen -, etwas machen kann.

Nicht weil wir prima, nicht weil wir die besten Menschen sind, nicht weil man sich auf uns verlassen kann, sondern allein aus dem einen Grund: weil Gott gnädig, weil er barmherzig ist. Weil er der Menschheit zeigen will, dass er aus solchen ʼFigurenʽ etwas machen kann, daß sie die Zeugen seiner Gnade, seines Erbarmen, seines Daseins mitten in der Welt sein dürfen.
Und wie ich jetzt zu diesen Menschen Ja sage, daran bewährt es sich, wie echt, wie ehrlich, wie radikal ich ja gesagt habe zu Gott, zu seiner Tat in Jesus Christus, zu dem, was sein Wirken, was Kirche ist – nicht nur als ein äußerer Verband, sondern als sein Wirken für die Menschheit und in der Menschheit.
Wenn man mich fragen würde, was ich am meisten in der Welt liebe, was mir das Kostbarste in der Welt ist, könnte ich wirklich nichts anderes sagen als: die Kirche! Allerdings, wenn man mich fragen würde, was das vergänglich in der Welt ist was am meisten anders werden muss, müsste ich wiederum sagen: die Kirche![36]

→ Liebe Schwestern.
Tauschen Sie doch ganz einfach nur zwei Worte aus, Kirche gegen Ordensgemeinschaft und Confratres gegen Mitschwester. So entsteht eine ganz aktuelle Begebenheit in Ihren „heiligen Hallen“.

14. Und weiter geht es

Schlissen möchte ich mit den Worten, mit denen Papst Franziskus auch seine Schrift zur Ankündigung des Heiligen Jahres beendet hat:
„In diesem Jubiläumsjahr finde in der Kirche das Wort Gottes Echo, das stark und überzeugend erklingt als ein Wort und eine Geste der Vergebung, der Unterstützung, der Hilfe und der Liebe. Die Kirche werde nie müde, Barmherzigkeit anzubieten, und sie sei stets geduldig im Trösten und Vergeben. Sie mache sich zur Stimme eines jeden Mannes und einer jeden Frau und wiederhole voll Vertrauen und ohne Unterlass: » Denk an dein Erbarmen, Herr, und an die Taten deiner Huld; denn sie bestehen seit Ewigkeit « (Ps 25,6).“[37]

Anmerkungen:

[1 ] http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2015/2015-04-11_Verkuendigungsbulle-Heiliges-Jahr.pdf. S.1
[2 ] Ansprache zur Eröffnung des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils Gaudet Mater Ecclesia, 11. Oktober 1962, 2-3.
[3 ] Ansprache bei der letzten öffentlichen Sitzung des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils, 7. Dezember 1965.
[4] Aus dem ersten längeren Interview, das er, nach einer am 14. Juni 2013 für die Redaktionsmitglieder der „Civiltà Cattolica“ gewährten Audienz, gegeben hat. Aus: http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412
[5 ] http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2015/2015-04-11_Verkuendigungsbulle-Heiliges-Jahr.pdf. S1
[6 ] Papst Franziskus ernannte Kardinal Piacenza zum Großpönitentiar. Unter Papst Benedikt XVI. bekleidete er das Amt des Präfekten der Kleruskongregation
[7 ] http://www.katholisches.info/2015/10/28/barmherzigkeit-ist-weder-blinde-toleranz-noch-rechtfertigung-der-suende-noch-ein-recht-kardinal-piacenza-zum-jahr-der-barmherzigkeit/ (15.11.2015)
[8 ] Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 30, a. 4.
[9 ] Tagesgebet vom 26. Sonntag im Jahreskreis. Dieses Gebet ist bereits im 8. Jahrhundert in den euchologischen Texten des Sacramentarium Gelasianum belegt.
[10 ] http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2015/2015-04-11_Verkuendigungsbulle-Heiliges-Jahr.pdf (15.11.2015) S.6
[11 ] http://kirchensite.de/aktuelles/kirche-heute/kirche-heute-news/datum/2015/11/30/papst-oeffnet-vorzeitig-heilige-pforte-im-buergerkriegsland/
[12 ] A.a.O.
[13 ] https://de.wikipedia.org/wiki/Jubeljahr (20.11.2015)
[14 ] Weitere Informationen zu Clara Fey und der von ihr gegründeten Genossenschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesus finden Sie auf dieser Homepage www.christoph-stender.de, oder auf der der Schwestern http://svakj.de/.
[15 ] Walter Kardinal Kasper, geb. 1933, 1964-1989 Professor für Dogmatik in Münster und Tübingen,1989-1999 Bischof der Diözese Rottenburg – Stuttgart; 1999 nach Rom berufen, 2001 Kardinal; bis 2010 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen als erstem überreicht im Jahre 2006.
[16 ] Die spanische Übersetzung hat Kardinal Jorge Mario Bergoglio SJ während des Konklave zur Wahl des Nachfolgers des emeritierten Papst Benedikt XVI im Jahr 2013 gelesen.
[17 ] Walter Kardinal Kasper, Barmherzigkeit / Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Herder, 2012, S. 148
[18 ] Ulpian, Corpus Iuris Civilis (Gesetzeswerk aus der Zeit von 528 bis 534 n. Chr.)
[19 ] Aus gesundheitlichen Gründen konnte der Kardinal am Festakt nicht teilnehmen. Er ließ seine Rede vortragen von Prälat Dr. Klaus Krämer, u.a. Präsident von Misso Aachen.
[20 ] iba – Pressedienst, Informationen Bistum Aachen, Donnerstag, 29. Oktober 2015, S. 1
[21 ] a. a. O. S. 3
[22 ] iba – Pressedienst, Informationen Bistum Aachen, Donnerstag, 29. Oktober 2015, S. 3
[23 ] Die Gebote Gottes missachten, sich von Gott abwenden ist Sünde. Sünde ist grundsätzlich zu verstehen als die Aufkündigung der Kommunikation mit Gott. Aufkündigung bedeutet sich weigern aus der Perspektive Gottes auf den Menschen und die Welt zu schauen. Das wiederum ist eine Missachtung Gottes, die wiederum Sünde gegen Gott wäre.
[24 ] iba – Pressedienst, Informationen Bistum Aachen, Donnerstag, 29. Oktober 2015, S. 4
[25 ] http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2015/2015-04-11_Verkuendigungsbulle-Heiliges-Jahr.pdf.
[26 ] iba – Pressedienst, Informationen Bistum Aachen, Donnerstag, 29. Oktober 2015, S. 6f
[27 ] iba – Pressedienst, Informationen Bistum Aachen, Donnerstag, 29. Oktober 2015, S. 5
[28 ] https://w2.vatican.va/content/francesco/de/bulls/documents/papa francesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html
[29 ] Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch, Herder Verlag, 1980, S.79
[30 ] a. a. O. S. 156
[31 ] a. a. O. S. 141
[32 ] a. a. O. S.49f
[33 ] Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.
[34 ] Das Neue Testament, Interlineare Übersetzung Griechisch Deutsch, Hänssler Verlag, 1986. S. 80
[35 ] a.a.O.
[36 ] Klaus Hemmerle, Ausgewählte Schriften Band 5, Gemeinschaft als Bild Gottes, Beiträge zur Ekklesiologie, Herder, 1996, S. 18
[37 ] https://w2.vatican.va/content/francesco/de/bulls/documents/papa francesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html

Grundlage: Vortrag 25. November 2015, Kloster der Schwestern vom armen Kinde Jesus, Aachen
(Die kursiv gesetzten Passage sind konkret auf eine Ordensgemeinschaft bezogen und können überlesen werden.)
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