Aachener Ordensfrau war eine unkonventionelle Sozialkämpferin in der Industrialisierung. Freundinnen waren Pauline von Mallinckrodt und Franziska Schervier.
Von Christoph Stender und Michael Lejeune
Aachen. Berlin, Alexanderplatz, eine Schwester in Ordenskleid mit Schleier fährt auf einer Rolltreppe. Oben angekommen spürt sie eine Person neben sich. In dem Augenblick, in dem sie sich zur Seite dreht, kommentiert die nun neben ihr stehende junge Frau mit Piercings im Gesicht, Tattoos am Hals und knallgrünen Haaren: „Wir beide sind schon schräg drauf, nicht wahr!“
Wie passt das zu Clara Fey? Irgendwie war auch sie zu ihrer Zeit „schräg drauf“. Am 11. April vor 200 Jahre erblickte Clara (1815- 1894) in Aachen das Licht der Welt. Clara wurde hineingeboren
in eine betuchte Familie, die in der „besseren“ Gesellschaft Aachens wohlangesehen war. Clara war gerade fünf Jahre alt, als ihr Vater, der Tuchfabrikant Peter Louis Joseph Fey starb. Ihre Mutter Katharina Fey geborene Schweling sorgte für eine sehr behütete Erziehung, die geprägt war vom katholischen Bekenntnis. Aus ihrer eigenen Feder wissen wir aus dieser Zeit fast nichts, also auch nichts darüber, wie sie den Verlust des Vaters verarbeitet hat. Claras Mutter versteckte sie und ihre Geschwister nicht vor den Realitäten der Aachner Gesellschaft. So begleitete Clara ihre Mutter auch in die verwahrlosten Straßen der Stadt, in denen die Verlierer der Industrialisierung lebten, unter ihnen besonders viele Kinder.
Clara erlebte in der Begleitung ihrer Mutter eine – man könnte sagen – „Sehschule“, in der ihr die soziale Situation betreffend kaum etwas verborgen blieb. So begriff Clara in jungen Jahren, dass nicht alle Kinder in Aachen in bürgerlicher Geborgenheit lebten. Sie erfuhr von den sozialen Abgründen, in denen auch Kinder ihres Alters vegetierten. Diese Einsichten und ihr Gottvertrauen ließen Claras ganz eigenen Weg reifen.
„Schräge“ junge Persönlichkeiten
Zum Freundeskreis von Clara Fey gehörten die aus Minden gebürtige Pauline von Mallinckrodt (1817 – 1881), aufgewachsen in Aachen, und die Aachenerin Franziska Schervier (1819 – 1876).
Diese drei jungen Frauen verband auch etwas Ungewöhnliches. Sie sollten in „gesetzterem“ Alter alle drei Ordensgründerinnen werden. Diese Zukunft sah man den drei jungen Frauen allerdings noch nicht an, waren sie doch recht „schräg drauf“, da alle drei nicht nur für das je eigene Elternhaus, sondern auch für ihr gesellschaftliches Umfeld ungewohnt ihren Lebensstil ab einem bestimmten Punkt eigenständig radikal veränderten.
Pauline von Mallinckrodt
Am 3. Juni 1817 wurde Pauline in Minden geboren. Es war der Wunsch der tiefreligiösen Mutter, Pauline katholisch taufen zu lassen. Für den evangelischen Vater Detmar von Mallinckrodt war das, auf seine berufliche Karriere bezogen, eine Risikoentscheidung, da preußische Beamten verpflichtet waren, ihre Kinder protestantisch zu erziehen.
1824 wurde ihr Vater Vize-Regierungspräsident in Aachen. Pauline besuchte hier die private katholische höhere Töchterschule St. Leonhard (heute das Städtische Gymnasium St. Leonhard).
Pauline war gerade 17 Jahre alt, als unerwartet ihre sozial engagierte Mutter Bernhardine an Cholera starb. Mit 18 Jahren sollte sie sich dem Willen des Vaters folgend mit Fritz von Coffrane verloben, Pauline aber lehnte dankend ab, sie hatte anderes vor.
Franziska Schervier
Franziska wurde am 3. Januar 1819 als Tochter des Nadelfabrikanten Johann Heinrich Schervier und dessen Ehefrau Marie Louise Victoire Migeon in Aachen geboren. Kurz vor ihrer Niederkunft ist Kaiser Franz I. von Österreich Gast im Hause Schervier, um deren moderne Stecknadelfabrik zu besichtigen. Die hochschwangere Mutter Marie Louise Schervier bat den Kaiser, die Patenschaft für ihr erwartetes sechstes Kind zu übernehmen. Der Kaiser willigte ein und wurde auch Namensgeber für den Täufling. In der gehobenen Aachener Gesellschaft galten die Scherviers eher als „neureiche“ Emporkömmlinge. Franziskas Mutter litt lange an Tuberkulose und starb 1832. Nun musste Franziska besondere Verantwortung in der Haushaltsführung übernehmen. Dass diese Art von „Haushaltung“ allerdings nicht ihr Ding war, sollte sich bald zeigen.
Den drei Frauen war gemeinsam der frühe Verlust eines Elternteils, die im Elternhaus oder auch an ihm vorbei erworbene soziale Kompetenz sowie die Sehnsucht, Glauben konkret zu leben. Hinzu kommt die Begegnung der drei mit der Dichterin und Lehrerin Luise Hensel, einer Persönlichkeit, die Orientierung gab und dafür eintrat, dass jede ihren je eigenen Lebensweg selber entdecken konnte.
Als Lehrerin vermittelte Luise Hensel, gestützt auf ihren Glauben – auch in der Unterrichtung von Kunst und Literatur – die Grundlagen einer eigenverantworteten Bildung. Sie führte so im damaligen Schulsystem fort, was auch in Claras Elternhaus schon begründet wurde: Bildung bedeutet, die Realitäten in den Blick zu nehmen, um Eigenverantwortung entwickeln zu können. Sich so bilden zu können, bedeutet aber auch, einen entsprechend kritischen Bildungsraum zu eröffnen. Luise Hensel wurde auch aufgrund ihrer klaren Art, soziale Missstände vor der eigenen Haustüre zu benennen, von Teilen der Elternschaft nicht gerne gesehen, da sie angeblich die jungen Frauen so gefährdete.
Dabei machte sie nur darauf aufmerksam, dass der fortschreitende Einsatz von Maschinen Arbeitskraft überflüssig werden ließ, somit Arbeitskräfte, besonders Kinderarbeit, immer billiger zu haben war und damit Verelendung einherging, die besonders für die Kinder in Ausbeutung, Krankheit und Armut mündete. Luise Hensel spiegelte diese Entwicklung auf die gesellschaftlichen Kräfte Aachens zurück und forderte von ihnen getragene umfassende Bildung besonders für die Schwächsten, die Kinder, ein. Frau Hensel musste schließlich gehen.
Clara konkret
In Claras Gedanken und Herz begann unaufhaltsam eine Idee „laufen zu lernen”, die ihr Leben tatsächlich radikal veränderte. Clara wollte mit diesen Kindern, die die Industrialisierung entwurzelt und verelendet hat, nicht mehr nur im Vorübergehen zu tun haben, sondern sich biografisch an jedes dieser Kinder binden. Die Faszination, die von der Entwicklung einer Persönlichkeit, wie der von Clara ausgehen kann, liegt nicht nur in deren historischer Betrachtung. Faszination für solche Menschen liegt auch darin, dass unsere Gesellschaft solche Entschiedenheit (unabhängig davon, in welche Lebensform eingebettet) braucht, um in ihrem Kern „des Aufeinander – achtens“ zu überleben.
Faszination üben Menschen aus, die versuchen, unsere Gesellschaft davon abzuhalten, in ihren tiefsten Abgrund zu stürzen – den der Vergessenheit des Anderen. Gesellschaft kann konstitutiv nur existieren, wenn sie wertschätzend und wertschöpfend auch die Schwachen in den Blick nimmt, und das sind auch heute noch besonders die Kinder.
Keine der drei Frauen hätte ihre konkrete Sorge um die verwahrlosten Kinder, die blinden Kinder oder die an Seuchen Erkrankten in einer der vorhandenen Ordensgemeinschaft unterbringen können. Sie mussten schräg drauf sein, also aus den vorhandenen Normen herausfallen, um ihren markanten Weg zu entdecken und konsequent zu gehen. Eventuell sogar in einem gemeinsam neugegründeten Orden hätten die drei Herzensanliegen der Frauen auch nicht gemeinsam Platz, da ihre klare Art, die sozialen Nöte in den Blick zu nehmen auch deutlich machte, wie differenziert die Behebung bzw. Linderung dieser unterschiedlichen Nöte angelegt sein musste.
Schräg drauf ist immer gut
Die Art, wie die drei Frauen in ihrer Zeit nach dem eigenen Weg gesucht haben, tut auch unserer Zeit gut. Denn die Jugendlichen, die heute nach ihrem Weg suchen, müssen auch „schräg drauf“ sein, wenn sie nicht nur Standardwege anderer (Generationen) kopieren wollen, beziehungsweise willenlos den Wegen hinterherhecheln, die ihnen eine wie auch immer geartete Wirtschaftlichkeit vorgaukelt.
Damals wie heute brauchen junge Menschen zur Orientierung die Möglichkeit, sich mit Religion auseinanderzusetzen, ihr soziales Umfeld kompetent wahrzunehmen und Kompetenzen zu erlangen, fördernden Persönlichkeiten zu begegnen, ungewohnte Lebensentwürfe kennenzulernen, Erprobungsfelder für ihr (soziales) Engagement zu haben und den Raum bei all dieser Orientierung auch noch ungezwungen durchatmen zu können.
Weitere Infos im Netz unter: www.svakj.de (Deutsche Region) und www.manete-in-me.org (Generalat)
Weitere Informationen zu den Orden und zur Lehrerin Luise Hensel
Die Errichtungsurkunde der Kongregation der Schwestern vom armen Kinde Jesus (Clara Fey) wurde am 28. Januar 1848 durch Erzbischof Johannes von Geissel verkündet. Ihr besonderes Anliegen war, den verwahrlosten und hungernden Kindern ihrer Zeit eine Heimat zu geben.
Gründung der Kongregation der Schwestern der christlichen Liebe (Pauline von Mallinckrodt) am 21. August 1849 in Paderborn. Pauline und ihre Gefährtinnen nahmen sich besonders in verantworteter Sorge der blinden Kinder ihrer Zeit an.
1851 wurde Franziska Scherviers Vereinigung durch Kardinal Johannes von Geissel aus Köln unter dem Namen Armen-Schwestern vom Heiligen Franziskus zu einer klösterlichen Gemeinschaft erhoben. Ihr Dienst galt den Armen der Stadt, besonders der Pflege von Cholera- und Pockenkranken.
Luise Hensel: Von 1827 bis 1833 unterrichtete sie am St. Leonhard-Stift in Aachen. aus ihrer Feder stammt das bekannte Gedicht: „Müde bin ich, geh‘ zur Ruh‘, schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein!“ (1. Strophe)
Informationen zu den beiden Autoren dieser Seite
Christoph Stender war früher Hochschulpfarrer in Aachen und ist heute im Mentorat für Studierende der katholischen Religion, also in der Ausbildung künftiger Religionslehrer und -lehrerinnen, tätig.
Der Aachener Fotograf Michael Lejeune (auf dem Foto links) ist auch Gastronom und Studierender der
Wirtschaftsinformatik. Er ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Ordensgemeinschaft. Gemeinsam
mit Christoph Stender kümmert er sich um das kulturelle Erbe der Clara Fey.