Public Viewing: 2000 Pilger sind viel näher dran
Von: Robert Esser
Aachen. Mehr als doppelt so viele Menschen wie im Dom haben am Freitagabend unter freiem Himmel die Erhebungsfeier der Reliquien zum Auftakt der Heiligtumsfahrt in Aachen über eine große LED-Wand auf dem Katschhof verfolgt.
Es ist das etwas andere Public Viewing. Knapp 1000 Gläubige drängen ins Münster, über 2000 füllen ab 19 Uhr den Platz vor der prächtigen Altarinsel vor der Silhouette des Münsters. „Sie alle sehen mehr als die meisten im Dom; der ist übrigens rappezappelvoll“, erklärt Pfarrer Christoph Stender den Gläubigen. Stender gelingt es als Live-Moderator, die Übertragung aus dem Dom dank fünf hervorragender Kamera-Perspektiven und gestochen scharfer Bilder für die Open-Air-Gäste so zu begleiten, dass alle präzise über den komplexen liturgischen Verlauf informiert werden – und er pausiert mit viel Gespür für berührend andächtige Momente. Auch wenn Domchor, Orchester und Orgel den Ton angeben. Eine Meisterleistung aller Protagonisten. Die am Freitagabend übrigens nicht nur in Mariens Gotteshaus, sondern dank hervorragender Übertragungstechnik auch außerhalb der historischen Kirchengemäuer überwältigend klingt.
Quasi nebenbei gibt‘s spannende Fakten: Hätten Sie etwa gewusst, dass der ursprüngliche Marienschrein aus dem Jahr 1238 gar keine Türöffnung hatte? Dass erst vier Schrauben einer nachträglich quasi als Geheimportal eingebauten Figur gelöst werden, bis der Weg zum Schloss des hölzernen Kernschreins frei liegt? Stender weiß das. Und erläutert alles ruhig und unaufgeregt. Als dann deutlich über 20 Hammerschläge bei der traditionellen Zerschlagung des Schlosses um 19.35 Uhr im perfekten Sound über den Katschhof hallen, kommentiert Stender am Mikro trocken: „Dauert aber lang.“ Gelächter. So ist die Heiligtumsfahrt 2014: andächtig, fröhlich, besinnlich und beschwingt.
1650 Stühle auf dem Platz sind trotz kühler Temperaturen stundenlang besetzt, daneben stehen zig Zaungäste, auf der Rathaustreppe wechselt das Publikum immer mal wieder. Zwei Jungs spielen Schach, daneben öffnet ein Trio erstmal zischend ein paar Bierdosen, als Bischof Heinrich Mussinghoff, Dompropst Helmut Poqué und Oberbürgermeister Marcel Philipp das siebenjährliche Marienschrein-Öffnungs-Ritual bewältigt haben. Keiner stört sich daran. Die Atmosphäre ist herzlich. „Ein toller Auftakt, ich bin glücklich“, sagt Franz-Josef Staat, der Leiter des Pilgerbüros. Als plötzlich, von den meisten Gästen auf dem Platz unbemerkt, ein Mann mit hunderten knatschbunten Kirmes-Luftballons in die liturgische Live-Übertragung auf den Katschhof stolpert, bittet Staat lächelnd um Rücksicht – und Abgang. Was prima klappt.
Am Ende sind alle beseelt – auch die tschechische Gruppe, die so mühselig zu Fuß nach Aachen gepilgert ist. Stender würdigt das öffentlich, Applaus brandet auf. Gut anderthalb Stunden harren Tausende aus. Alle erleben einen herausragenden Auftakt der Heiligtumsfahrt. Und sind durch die Teleobjektive der TV-Kameras draußen vor der LED-Wand tatsächlich viel näher dran als die Gläubigen drinnen.
Samstag um 11 Uhr beginnt die erste Pilgermesse auf der gewaltigen Altarinsel. Man erwartet erneut Tausende. Auch für Nicht-Katholiken ganz sicher erhebend.