Geboren vor 200 Jahren, sah die Fabrikantentochter Clara Fey das Elend ihrer Zeit und zog Konsequenzen
Von Pfr. Christoph Stender und Michael Lejeune
Am 11. April 2015 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Clara Fey, die als Tochter der wohlhabenden Fabrikantenfamilie Fey 1815 in der Bendelstraße das Licht der Welt erblickte. Mit ihrer Familie lebte Clara von klein auf in der Gemeinde St. Paul nahe dem Aachener Dom.
Clara schaute aus der Perspektive einer bessergestellten Persönlichkeit auf das Leben in ihrer Stadt. Ihre Mutter lehrte sie aber schon in jungen Jahren, genau hinzuschauen, um realistisch wahrzunehmen, was um sie herum passierte. Schon früh waren damals im Blick der Feys die gesellschaftlichen Veränderungen in Aachen, die ihren Ursprung in der Industrialisierung hatten.
Später erst wird diese Zeit das Zeitalter der „Industriellen Revolution“ genannt. Im Nachhinein wird aber auch analysiert, dass in dieser Zeit die Kinderarbeit massiv zunahm und dies katastrophale soziale Folgen hatte. Konkret in Aachen „zählte man 1805 zum Beispiel in der Fabrik der Familie Jecker von den 250 Arbeitskräften 225 Kinder zwischen vier und zwölf Jahren,“ berichtet der Historiker Jo Hermans. Kinder arbeiteten oft über zwölf Stunden pro Tag für einen Hungerlohn. Im Hause Fey war diese Kinderarmut regelmäßig Thema.
Ihre Lehrerin Luise Hensel spielte wichtige Rolle
An der Hand ihrer sozial sehr engagierten Mutter sah Clara also nicht nur die Welt der Reichen, sondern auch die Armenhäuser und Armenviertel ihrer Stadt, und so wurde ihr auch das Elend ihrer Zeitgenossen vor Augen geführt.
Die Kindheit Claras war somit auch eine „Sehschule“, eine Schulung des Hinschauens, um die Realitäten um sie herum ernst nehmen zu können. Die behütet aufgewachsene Clara lernte früh – aus der Distanz – das Unbehütete, das Hoffnungslose, die Schicksalsergebenheit vieler Menschen kennen. In dieser Lebensphase spielte für Clara ihre Lehrerin, die Dichterin Luise Hensel, eine zentrale Rolle. Von 1827 bis 1833 unterrichtete diese am St. Leonhard-Stift in Aachen, dem heutigen St. Leonhard Gymnasium.
Aus ihrer Feder stammt das bekannte Gedicht: „Müde bin ich, geh‘ zur Ruh‘, schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein!“ (1. Strophe)
In die Augen des armen Kindes Jesus gesehen
Gestützt auf ihren Glauben, vermittelte die sozialkritische Luise Hensel im Unterricht – so auch in den Fächern Kunst und Literatur – die Grundlagen einer eigenveranworteten Bildung. Sie führte so innerhalb des damaligen Schulsystems fort, was in Claras Elternhaus grundgelegt wurde: Bildung ist auch Eigenverantwortung, der aber die Chance gegeben werden muss, sich bilden lassen zu können.
So motivierten zwei „Weisen hinzusehen“ das Handeln Claras: Zum einen die „nackte Realität“ immer wieder neu in den Blick zu nehmen und zum anderen unausweichliche Veränderungen herbeizuführen.
Diese beiden „Weisen hinzusehen“ provozieren damals wie auch heute zum Handeln. Doch Claras Motivation zu handeln wurde auch geleitet von ihrem Glauben. Sie erlebte in ihrer Familie eine authentisch gelebte und gefeierte Glaubenstradition, die die Grundlage ihrer persönlichen Gottesbeziehung wurde.
Sie entdeckte in den „flehenden Augen“ der benachteiligten Kinder ihrer Zeit die Augen des „armen Kindes Jesus“, das in einer „Futterkrippe“ in Betlehem zur Welt gekommen war. In Claras Gedanken und Herz begann nun unaufhaltsam eine Idee „laufen zu lernen”, die ihr Leben radikal verändern sollte.
Clara und ihre ersten Begleiterinnen begannen ihre persönliche Zukunft mit dem Schicksal besonders der in Armut lebenden Kinder existentiell in Verbindung zu bringen. Sie wollten mit diesen Kindern nicht mehr nur im Vorübergehen zu tun haben, sondern sich biografisch an jedes dieser Kinder binden. So beschlossen Clara Fey und mit ihr die Freundinnen Leocadia Startz, Wilhelmine Istas sowie Louise Vossen, als ersten Schritt ein Haus zu erwerben, und kümmerten sich anfangs um 30 teils verlassene, teils verwahrloste Kinder. Die soziale Not weiter klar im
Blick, war im Mai 1869 der entscheidende Schritt getan: die Anerkennung der Gemeinschaft der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ als Ordensgemeinschaft päpstlichen Rechts.
Vom Glauben getragen, verpflichteten sich die Schwestern – wie auch heute noch – durch die öffentlichen Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams zum Dienst besonders am Kind. Sie verzichteten freiwillig auf Ehe und Familie, auf materiellen Besitz und auf freie Selbstverfügung, um wirklich frei zu sein.
Ihre Art hinzuschauen überdauerte ihren Tod
Am 8. Mai 1894 starb Clara Fey, doch nicht die „Art, wie sie hinschaute“. Diese Art lebt weiter in den Ordensfrauen der von Clara Fey gegründeten Gemeinschaft der „Schwestern vom armen
Kinde Jesus“, die auch heute noch zum Stadtbild Aachens gehören, die aber auch unterwegs sind in Städten wie Bogotá in Kolumbien, Makinsk in Kasachstan oder auf der Insel Flores in Indonesien.
Das einfache pädagogische Konzept Claras ist aktuell geblieben: Kinder als das höchste Gut einer Gesellschaft zu betrachten, Kindern das Recht zuzusprechen, sich entfalten zu können, Kindern ihr Kindsein nicht zu nehmen.
Den Kindern gerecht zu werden, ihnen faire Chancen zu geben und sie gewaltfrei zu erziehen, war für Clara der Weg, Christus nahe zu sein.
In der biblischen Sprache des 1. Johannesbriefes klingt dieses „Jesus nahe sein“ so: „Die Liebe lässt erkennen, dass wir in ihm bleiben und er in uns“. Das „Bleibt in mir“ (lateinisch „manete in me“) wurde zum „Wahlspruch“ der Ordensgemeinschaft. Bis heute ist es das Grundprinzip der Schwestern in all ihrem Handeln in der Welt.