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Ich schütte meine Klage aus – bist du da?

Anna-Woche 2005 in Düren

„Ich schütte meine Klage aus – bist du da?“

Sonntag 7. August
„du rufst mich heraus“
Evangelium: Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11, 3ff)

„Bitte entschuldigen Sie aber könnten Sie dahinten mal aufstehen? Ja, ich meine Sie mit der bunten Bluse, nein nicht Sie mit den Streifen. Und dann der Herr mit den hellen Haaren, Sie hier in der Mitte, würden Sie auch mal aufstehen?
Wenn jemand herausgerufen wird, dann steht er normaler Weise nicht alleine an irgendeiner Ecke, sondern er ist umgeben von anderen Menschen. Herausrufen kann man auch jemanden der sich in einem Raum aufhält, sich in einem Gebüsch verbirgt oder in sich selbst verschlossen ist. Herausgerufen zu werden ist vielen peinlich, unangenehm, eben mit einem Unbehagen verbunden.

So hervorgehoben zu werden, eben ein Herausgerufener zu sein ist im Verständnis vieler Christinnen und Christen nicht angemessen, da doch eher Bescheidenheit, Zurückhaltung und Demut angeblich die uns angemessenen Tugenden sein sollten. Auf gesellschaftliches Handeln bezogen nennt man ein solches Verhalten: „Nur nicht auffallen, den Kopf nicht zu weit herausstrecken denn man könnte ja sonst (unangenehm) auffallen.“
Die traurige Steigerung einer solchen Einstellung ist in manchen Situationen als mangelnde Zivilcourage zu bezeichnen. Sie trifft dann zu, wenn Menschen einfach abtauchen und so tut als habe man nichts gesehen, während in ihrer unmittelbaren Umgebung Menschen bedroht werden.

Ortswechsel:
Emotionen sind im Spiel, Dramatik schwingt im Raum, es geht um Leben und Tod. Aber eigentlich ist alles schon vorbei. Lazarus ist tot und begraben. Jesus kommt scheinbar zu spät, das gehört zur Dramaturgie dieser komponierten Wahrheit. Jesus ist emotional erregt, und traurig, er weint und ist ergriffen. Und: Er ist entschlossen, aber nicht erst jetzt im Augenblick seiner Trauer um den Toten Freund. Jesus war schon vor ca. zwei Tagen entschlossen als er zu seinem jetzt toten Freund aufbrach, so die Schrift. Jesus kommt entschlossen bei seinen Freunden an, bewegt von seiner zentralen Botschaft, die ungeheures zu bewirken in der Lage ist. Der zweiten Satz der Frohen Botschaft heute lautet: „Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden.“

Jesus offenbart seine Herkunft und vergegenwärtigt die Macht Gottes. Jesus macht so klar woher er kommt und aus welchem Geist heraus er handelt. Doch er wählt nicht den Weg der Erklärung, der Begründung oder des Abwägens um von der Liebe Gottes zu berichten. Jesus ruft (laut): Lazarus, komm heraus! Keiner der Umstehenden käme auf die Idee einen schon vier Tage Toten, der entsprechend auch zu riechen scheint zuzurufen, komm heraus!

Schnitt:
Fragen wir nicht wie Lazarus, die Frauen und Jesus sich fühlen. Fragen wir nicht ob das so war, ob es grundsätzlich überhaupt so hätte möglich sein können und ob der Sohn Gottes übernatürliche Kräfte besitzt. Diese Fragen dienen nicht wirklich einem tieferen Verständnis aus dem Glauben.

Ein weiterer Ortswechsel ist nun hilfreich:
Ich schütte meine Klage aus – bist du da? Steht uns dies Haltung des Klagenden nicht viel eher zu Gesicht als die dessen der ein Herausgerufener ist von dem eben die Sprache war?
Wir haben einerseits als glaubende Menschen ja auch gelernt unsere Sorgen, Nöte, Ängste und Leiden vor Gott zu formulieren. Aber andererseits ist genau diese Klage da, wo sie vordergründig keine konkrete Antwort bekommt, Grund unseres Zweifels an der Handlungsfähigkeit Gottes. Salopp gesagt: „Gott ich klage so vor mich hin, aber dich scheint das nicht sonderlich zu interessieren, sonst würdest du ja den Grund meiner Klagen vernichten.“

Genau in diesen beiden „Verhaltensweisen“, dem Herausgerufen sein das oft mit Unsicherheit verbunden ist und der Klagen die oft mit Unerhörtheit verbunden zu sein scheint liegt die Botschaft dieses Evangeliums. Genau hier hat es konkret mit Ihnen und mir zu tun.

Unsere Klagen:
Sie sind gewoben aus all dem was subjektiv und objektiv verletztes Leben hergibt. Einsamkeit, Schmerz, Harz IV, Krankheit, Sinnverlust, loslassen müssen, unerfüllte Träume, im Vergleich mit anderen Menschen immer der Verlierer sein, altern, erlebtes Unrecht, Erfolglosigkeit, Enttäuschung.
Sie können diese Klagen noch viel konkreter benennen, denn viele von Ihnen haben ihre Klagen heute mitgebracht, beziehungsweise können sie besonders in stillen Stunden nicht hinter sich lassen!
Genau in diese Situation hinein werden wir mit dieser Provokation konfrontiert: „Du rufst mich heraus!“ Das Gefühl sich aus der Masse hervorheben zu sollen bringt dieses Unbehagen. Hier aufzustehen, sich hervorzutun weil heraus gerufen ist einfach unangenehm.

Kurzfassung:
Wir klagen, oft zu recht, aus tief empfundenem Schmerz, und du Gott rufst uns heraus, willst das ich mich exponiere.

Ortswechsel:
Zurück zu Lazarus. Jesus ruft in das Grab, an dem die Frauen klagen und selbst Jesus seine Trauer nicht verbirgt: „Lazarus, komm heraus!“
Lazarus kommt heraus, aber nicht als dynamischer Held, vor Leben nur so strotzend. Heraus kommt ein Lazarus dessen Gelenke mit Binden umwickelt sind und der das Schweißtuch noch auf dem Kopf trägt. So wird es wohl auch noch ein wenig riechen.
Und, wie geht es weiter? Lazarus lebt und so wird auch wieder klagen, denn sein Leben geht weiter. Leben und Klage scheinen zusammen zu gehören. Wie lange Lazarus lebte wissen wir nicht. Jesus hat ihm die letzte große Klage, das Sterben nicht erspart. So ist Lazarus eben auch wieder gestorben, wie in Zukunft auch wir.

Wie lautet die Botschaft Jesu?
Wenn Jesus, der das Leben von allen Seiten kennt, „herausruft“, dann lautet seine Botschaft auf den Punkt gebracht so: Klagen, ja! Klagen als Lebensprinzip aber nein!
Mit dem Ruf Jesu sind wir herausgerufen uns nicht hinter unserer Klage zu verbergen. Die Klage ist keine Festung. Denn das Leid und die aus ihm erwachsende Klage ist nicht die Beschreibung unseres Lebens. Leben kennt das Leid, aber das Leben hat definitiv mehr geboten und zu bieten.
Trotzdem erleben Menschen oft kaum überwindbares Leid. Aber auch ihnen gilt der Ruf Jesu. Jesu Ruf hallt in das Gestern unseres Lebens mit dem Ziel, dass wir uns nicht von alter Klage knechten lassen. Ebenso ruft er in die Zukunft unseres Lebens mit dem Ziel, das wir uns von der Angst neuen Grund zur Klage haben zu können nicht schon heute lähmen lassen.
Jesus der Christus ruft uns unser Leben lang heraus damit wir am Leben nicht verzweifeln oder es als vergängliche und beliebige Episode abtun.

Konkreter:
Warum ruft Jesus eigentlich den Lazarus heraus, der dann doch wieder stirbt? Mit Lazarus ist spürbar wie persönlich sich Jesus betroffen fühlt vom Tod dieses Freundes und der trauernden Maria. Hier bekommt wieder einmal die universale Liebe Jesu zu den Menschen ein konkretes Gesicht.

Erinnern Sie sich noch in Ihrem Leben an das Gefühl, die Kraft und die Großherzigkeit einer ersten großen oder auch späteren Liebe. Sie kennen doch die Kraft der Liebe, die Sie vielleicht sehr lange getragen hat oder besser aktuell noch trägt! Besonders in schweren Tagen, in Tagen des Klagens kann Liebe unendlich stark machen, erinnern Sie sich?

Jesus weiß was Liebe ist und deswegen ruft er: „Komm heraus!“ Diese Liebe, die den Lazarus weckt, ist die Verherrlichung Gottes wie Jesus sie nennt. Ich würde sagen: Das ist die „Erzählung“ einer Liebe der ich trauen kann, weil sie mächtiger ist als meine Liebe, die schon so stark sein kann. Liebe ruft aus dem klagen heraus ins Leben!

Heraus gerufen sein bedeutet nicht im stillen Kämmerlein dieser Liebe zu trauen trotz unserer Klagen. Heraus gerufen sein heißt mit unseren Klagen der Liebe Gottes zu trauen und nicht abzutauchen.

Letzte Frage:
Und wohin sind wir gerufen?
In unsere Familien, zu unseren Freunden, unseren Partnerinnen und Partner. Wir sind herausgerufen uns zu exponieren unter den Menschen denen wir täglich begegnen.

Lazarus ist die aktuelle Antwort!
Ihnen sollen wir berichten dass sie, wie wir auch einen gemeinsamen Zweitnamen haben. Er lautet: Lazarus.
Und wenn wir, wenn die Menschen in unserer Umgebung begreifen, Lazarus das ist auch unser Name, dann gilt besonders im Dunkel unserer Klage das Wort Jesu: „Lazarus, komm heraus!“

Diese Predigt wurde im Rahmen der Anna-Woche 2005 in St. Anna, Düren gehalten.

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