Gedanken zum Evangelium – von Pfarrer Christoph Stender
Von der Liebe ist im Neuen Testament oft die Rede. Im ersten Johannesbrief, viertes Kapitel, fällt das Wort „Liebe“ in zwei Sätzen (V11f) gleich vier Mal. Klar, Liebe ist ein Schlüsselbegriff der Botschaft Jesu. Liebe kann auch die Welt verändern. Liebe kann seelische Verwundungen heilen, Fehler und Versagen vergeben – und Liebe ermöglicht selbst im Scheitern einen neuen Start. In seiner Intention stimmt das. Aber je mehr wir mit dem Gebrauch des Begriffes Liebe suggerieren, vieles könne mit ihr „gemacht“ werden, umso undifferenzierter und beliebiger ist sein Gebrauch im Lauf der Zeit geworden – bis dahin, das er heute fast nichtssagend daher kommt.
Schon als Kind hat mich die Aufforderung gutmeinender Akteure im (Kinder-)Gottesdienst genervt, alles und jedes lieben zu sollen: Gott, das liebe Jesulein, die Gotteseltern, meine Lehrer, die Mitschüler, die Bewohner Afrikas, natürlich die eigenen Eltern und so weiter. Ich habe mich als Kind überfordert gefühlt, ständig lieben zu sollen, zumal ich kein konkretes Gefühl für Liebe ausbilden konnte, da in meiner Umgebung auch Pferde geliebt wurden, ebenso wie gutes Essen, frische Luft, schnelle Autos oder Bücher. Und ich liebte mein Kuscheltier.
Heute höre ich bei der inflationären Benutzung des Wortes Liebe keine wesentliche Bedeutung heraus. Das finde ich schade – da es doch auch weitestgehend ohne den Begriff Liebe geht: Gerechtigkeit kann die Welt verändern, Zuneigung kann seelische Verwundungen heilen, Fehler oder Versagen kann die Barmherzigkeit vergeben und Vertrauen ermöglicht selbst im Scheitern einen neuen Start. Und ich muss nicht alles lieben, wie in den Gottesdiensten meiner Kindheit propagiert.
Mir ist auch klar, dass mit der Benutzung des Begriffes Liebe eigentlich etwas Wertvolles angedeutet werden soll. Trotzdem geht mir die ständige Präsenz des Worts, so wie es einem an jeder Ecke des Christentums zumindest optional auflauert, auf den Geist. Ich würde gerne (wieder) das Wort als Unikat auf Gott und den Menschen hin verstehen und entsprechend auch benutzen.
Allein die Aussage auf Gott bezogen, dass „Gott Liebe ist“ (vgl. 1.Joh 4,8), verbietet die inflationäre Benutzung des Begriffes, da er nur verunklart. Denn hier wird der Liebesbegriff zum Synonym für die Unbegreiflichkeit der Präsenz Gottes, die wir sprachlich gerade mal angedeutet bekommen im Vergleich mit der menschlichen Erfahrung, sich zu einem anderen Menschen ohne Zeitlimit bedingungslos hingezogen zu fühlen, was wir Liebe nennen. Bezogen auf den Menschen empfinde ich es als ein Privileg, sich einen Begriff wie „Liebe“ zu gönnen, der einzig und allein für die Wahrnehmung steht, ganz für einen Menschen da sein zu wollen, ihn ganz zu meinen, das Herz ihm ganz zu schenken – und das alles auch noch ohne Verfallsdatum.