„Herr, lehre uns beten!“, so die Bitte der Jünger Jesu. Was antwortete er? Lehrte er sie die richtigen Worte, die angemessene Textstruktur oder Gebetsgebärden, lehrte er innere Haltung oder die Regelmäßigkeit zu beten?
Das Gebet, das der Evangelist Lukas als „Lehrstück“ für uns festgehalten hat und das uns in seinen Grundzügen erhalten ist in dem wohl vertrautesten Gebet der Christenheit, dem Vaterunser, lässt all diese Antworten anklingen. In diesem Gebet kommen Vertrauen, Begeisterung, Hoffnung und Sehnsucht zum Klingen. Mit diesem Gebet strecken sich Beter und Beterin in den „Himmel“, wissend um ihre irdische Unzulänglichkeit. Hatten die Jünger mit der Anwendung dieses Gebets ausgelernt?
Ich werde den Eindruck nicht los, dass viele junge Menschen heute, die getauft und sogar gefirmt sind, das Vaterunser nicht mehr können. Diese Vermutung zu spezifizieren, wäre ein eigenes Kapitel wert. Wie sieht das mit uns aus, die wir die Kirchenzeitung lesen und sicherlich das Vaterunser fehlerfrei beten können? Haben wir noch Bedarf, in Sachen Gebet dazuzulernen?
Mir kommt die Redensart meiner Großeltern in den Sinn, die zwei Weltkriege erlebt haben: „Not lehrt beten.“ Ja, ich glaube, dass sich Menschen in Notsituationen an Gott wenden, auch wenn er nicht zu ihrem alltäglichen Adressaten gehört. Aber neu oder erstmalig zu beten, gründet nicht nur in erlebter Not.
Beten ist ein Sich-Ausstrecken, ein Über-sich-selbst-Hinausgreifen in die Möglichkeit der Realität einer unverfügbaren Macht, der der Mensch beispielsweise sich anzunähern versucht in den Anreden Gott oder Allah. Das christliche Gebet hält Gott die Lebenssituation des Beters und der Beterin entgegen, lässt ihn Einblick nehmen in der Hoffnung, dass er hinschaut. Die christliche Tradition hält viele Gebete und Gebetsprofile bereit, um Gott anteilnehmen zu lassen an Alltäglichem und Besonderem.
An einen Ratschlag meines Religionslehrers erinnere ich mich. Er wägte ab zwischen den spontanen, selbstformulierten Gebeten und den aus der Tradition überlieferten. Sein Tipp: „Sprecht mit Gott frei in eurer urwüchsigen Sprache! Aber bedenkt, dass es auch Situationen geben kann, in denen euch keine eigenen Worte einfallen, dann betet mit den Worten, die Frauen und Männer euch überliefert haben, mit vorformulierten Gebeten.“
Diese Erfahrung hat sich auch in meinem Leben immer wieder bestätigt. Ich bin zwar mehr der Typ, der Gott häufiger am Tag in kurzen Gebeten einen Einblick in sein Denken, Fühlen und Handeln gibt. Aber in manchen Situationen, die ich hier nicht klar definieren kann, suche ich ganz bewusst nach Gebeten aus der Tradition mit dem Ziel: Herr, lehre mich beten, auch um zu lernen, von mir abzusehen!