Fragmentierung:
Lassen wir das Pferd mal weg, den Bettler auch, und selbst den Heiligen Martin; was bleibt dann übrig? Der Mantel! Der „Mantel“ hat ein einmaliges Narrativ, er wurde geteilt, so die Überlieferung. Ein halber Mantel, genauer bezeichnet als Umhang, ist der Kern dessen, was vom Heiligen Martin immer mal wieder, besonders aber am 11. November jeden Jahres neu erzählt und gefeiert wird. Mit diesem geteilten Umhang, genauer mit der an den Bettler gegebenen Hälfte, begann eine Popularität des römischen Offiziers, Einsiedlers, Ordensmanns, Priesters und Bischofs, der am 8. November 397 starb, und später heilig genannt wurde, die historisch ihres Gleichen sucht. Vom ganzen Umhang ausgehend nach vorne erzählt, könnte jetzt die vertraute Martinserzählung folgen. Vom Umhang ausgehend zurück erzählt, geht es um seine Herkunft.
Dem „Mantel“ auf der Spur:
Funktional betrachtet lag der „Mantel“ als Umhang über den Schultern eines höheren Militärs, um an kalten Tagen die Körperwärme zu halten und vor äußeren Einwirkungen zu schützen. Als Accessoire militärischer Ausrüstung signalisierte er den Rang des Soldaten, der ihn trug. Um von der Entstehung des Mantels, wie der Herkunft des Fadens, den Prozess des Webens und Färbens zu erfahren, müsste das Wissen um das Handwerk seiner Zeit in Anspruch genommen werden, die Überlieferung selbst berichtet darüber nicht.
Heute stehen Herstellungsprozesse unter besonderer Beobachtung. So ist interessant zu erfahren unter welchen Bedingungen Gewerke und Menschen an Herstellungsprozessen beteiligt sind. Es sind aber heute nicht nur einzelne Produktionsschritte von Interesse, die ganze Lieferkette interessiert.
An dieser Stelle sei auf eine andere „Lieferkette“ hingewiesen, die in der Tradition schon seinen Anklang fand und auf einem Tafelbild abgebildet ist, das um 1460/70 entstand, und im Diözesanmuseum Rottenburg erhalten wird. In diesem Bild oben links reichen den Umhang die Hände Jesu in die Hände des Heiligen Martin, die ihn wiederum weiterreichen an den Bettler. Der leuchtend rote Mantel durchzieht wie eine Diagonale das Bild und streckt sich aus zwischen Himmel und Erde.
Diese Lieferkette beginnt nicht beim Martin, sondern in den Händen Jesu. Solch ein Blick schmälert nicht die Tat des Heiligen, sondern bringt ins Bild den Geber, der zu teilen erst ermöglicht.
So gesehen regt die Erzählung vom St. Martin an auch über das „Besitzen“ neu nachzudenken. Die normale Lieferkette belegt unter welchen Abhängigkeiten etwas produziert ist. Die andere Lieferkette hält präsent, dass all das, was durch Menschenhand geschaffen und auch geteilt wird, in den Händen des Schöpfers entstanden ist. Er macht als Geber uns zur Geberin und zum Geber.