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Deine zweite eine Haut

Schon wenige Schritte vor dem besonderen Eingang in meine Welt der höher schlagenden Herzen, zollt mein Herz dieser Welt begeistert das entsprechende Tempo. Ein wenig mehr Eile scheint mir sowieso angesagt, denn es gibt Ereignisse, zu denen jeder schon zwei Stunden vor ihrem Eintreffen angekommen meint viel zu spät zu sein. Den Trick mit der klemmenden Türe habe selbst ich schon vor Tagen geschnallt, am Pförtner vorbei, als würden wir uns schon ewig kennen: „Hallo, alles wie gestern“ oder so ähnlich, und ab in das gerade neu eroberte Reich aller Kinder Sehnsucht. Je näher ich mich dem Altar nähere, auf dem immer neu die Welt in all ihren Facetten zelebriert wird, um so schwerer werden die Türen, von denen mich nur noch wenige vom Vorhof der Erfüllung meines Weltentraumes trennen. Nur noch ein Tag, dann hat mein in mir greifbar gewordener Traum auch richtiges Publikum. Aber schon heute, noch zur Probe auf den Beinen, schien mir jeder, der in Dunkelheit eingehüllten Ränge zum Bersten angefüllt mit Augen und Ohren, die nur eines wollten, meinen Traum.

Aber zuerst galt es, auch schon heute mich, diesem gigantischen Geschehen entsprechend, zu verwandeln. Wäre ich blind, meine Nase führte mich den Weg zu den Großen meiner Welt, in die ich mit jedem Schritt tiefer eintauche. Denn das haben wir – und dieses wir möchte ich betonen – gemeinsam, die Aura dieser Düfte und ihr identifikationsstiftendes Wir. Wie sollte ich ahnen, dass auch noch nach vielen Jahren meine Nase diesen Duft gepachtet hat und dass ich nach fast 30 Jahren in Berlin wieder einen Tempel der nie versiegenden Weltenträume betreten würde, diesmal allerdings durch den Haupteingang, und meine Nase sich in unmittelbarer Nähe dessen wähnen würde, dass mich mit 12 Jahren in einen Frosch und einen Prinzen verwandelte. Viel zu früh stehe ich nun vor meiner neuen Haut, sie jetzt aber schon überzustreifen scheint mir gleichbedeutend als Nikolaus verkleidet Weihnachtslieder in die Frühjahrsluft zu singen!

Kantine, sowie diverse Gänge, Ecken und Nischen und nicht zu vergessen die verbotenen Türen, die in dieser mich umhüllenden Welt die fast letzten Abenteuer bergen, bieten ausreichend Abwechslung um die nächste halbe Stunde zu überbrücken, bis dann die erhabenen Figuren meines Traumes so langsam eintrudeln werden. Wie an dem großen Tag, geht auch schon heute der erste Gong, wissend, dass nur noch zwei folgen werden.

Meine zweite Haut und Wahlheimat sitzt wie angegossen. Es kann nur noch Minuten dauern, dritter Gong, die ganze Phantasie dieser zusammengerückten Welt steht in den Startlöchern, wohl verborgen im Schutz der Kulissen. Feinfühlig und doch bestimmt, blinzelt die Spitze des Taktstocks aus dem Orchestergraben. Auftakt! Meine zweite Haut ist machtlos, mein Puls erhebt mich selbst zu seiner Bühne und gibt einfach alles. Wie wenig bin ich, links und rechts schier unendliche Weite, vor mir das gleißende Licht und dahinter all die vielen Leute, die erst morgen kommen werden.

„Wo bleibt der Frosch“ donnerte es aus dem Orchestergraben, der Taktstock macht wie ein Stilett dem Orchester den Garaus und mein ganzer Körper ist der einzige Resonanzboden dieses unerwarteten Schreis. Sonst nur Stille, einfach nur atemlose Stille aus der anderen Welt. Er springt von seinem Dirigentensitz auf und noch einmal fegt seine Stimme eisig über die von keinem Blick zu haltende Weite dieser Bühne, nur mich meinend, „Wo ist der Frosch!“

Es gibt Augenblicke, da ist nur der Frosch gemeint, das ist eine Welt, der Frosch und Satanowsky, mein rasendes Herz und die grazile Energie, die dem Taktstock Leben einhaucht. Für einen Augenblick nur wir zwei. Bruchteile einer Sekunde schreiben Ewigkeit.

„Noch mal ab der 25!“ Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, nur mir ist klar, letzter Versuch, Generalproben kennen normalerweise keinen zweiten Versuch. Geduldig tragen mich Geigen, die große Harfe und die Flöten auf ihren zärtlichen Wogen auf die Bühne. Der Frosch öffnet seinen Mund. Klare Töne. „Ja nimmt mir der Gevatter nicht für ungut, dass ich altmodisch bin…“

Ich bin der kleine Frosch mit der großen Stimme, in der unendlichen Weite meiner Welt und nur einem einzigen, aber todsicherem Gefühl: Der Taktstock mag mich! Mein Auftritt scheint mir jetzt nur eine knappe Sekunde, er war länger, ein paar Sekunden, sogar Minuten, das ist nachlesbar! Mein Herz hat sich vergessen, nur dieser Duft, sie wissen, der uns gemeinsam ist. Meine Haut, ob erste oder zweite, klatschnass. Meine Oma auch, nur morgen, bei der Premiere, vor Aufregung und vom Klatschen: Welch ein Frosch, geküsst von ihm, ein Prinz, für Sekunden die nun schon 30 Jahre dauern.

Am Pförtner vorbei als hätten wir uns noch nie gesehen, auch jetzt nicht, um dann in Zukunft von diesen verlogenen Haupteingängen der Theater dieser Welt benutzt zu werden, degradiert zum Bezahlen einer Welt, die wir nicht einmal sehen, geschweige den riechen, Schatten höherschlagender Herzen.

Herzklopfen, die Furcht zu spät zu kommen, nicht jeder Eingang führt in eine andere Welt und vor allem eine Haut, deine zweite eine Haut, du Frosch, mein Prinz.

Aus „Dank Dir auf den Leib geschrieben – Ein Geschenk zum Weiterdenken“ erschienen beim Bergmoser + Höller Verlag, 1999.
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