Anna-Woche 2002 in Düren zum Thema
„Wir erleben mehr, als wir begreifen – Spuren Gottes erfahren“
Das Leben begreifen, Menschsein erfahren.
Wir tun doch Tag ein Tag aus nichts anderes als genau das, unser Leben begreifen, in unserem Leben Menschsein erfahren, zumindest aber versuchen wir das. Es bleibt uns doch eigentlich auch nichts anderes übrig, es sei denn, wir würden unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen ignorieren. Aber selbst das ist ja nicht ganz so einfach, da wir ständig anderen Menschen begegnen. Was ist also der Grund dafür, diesem alltäglichen Thema am heutigen Sonntag besondere Bedeutung beizumessen?
Das Leben begreifen, Menschsein erfahren. Ja, das ist unsere tägliche Herausforderung, jedoch nehmen wir diese alltägliche Provokation sehr reglementiert wahr. Nicht allem, was es in unserem Leben zu begreifen gilt, stellen wir uns in gleicher Weise. Gemeint ist zum Beispiel all das, was uns gelingt, worauf wir stolz sein dürfen, was uns wider Erwarten geglückt ist, eben all das was wir gerne zeigen und was auch gerne gesehen wird, das darf auch öffentlichen Charakter haben. Was wir allerdings normalerweise nur in unserer Privatsphäre, fernab aller Öffentlichkeit sorgsam behüten sind all die Ereignisse, die wir unter Misslungen, Versagen, Schuld, Misserfolg und Unfähigkeit subsumieren. Selbst in unseren Familien haben oft Misserfolge, so lange sie zu vertuschen sind, keinen Platz und wenn doch, dann sind sie nicht selten fehl am Platz.
Das Leben begreifen, Menschsein erfahren, mit diese scheinbar alltäglichen Erfahrung gehen wir sehr gespalten um, das Geglückte ist öffentlichkeitsfähig, und das Misslungene scheut die Öffentlichkeit.
Aber warum nehmen wir die Realität unseres Lebens so ungleich selektierend wahr?
Ehrlich, umfassend, unverkürzt das Leben zu begreifen , mit dem Anspruch nichts unseres Lebens unter den Tisch fallen lassen zu wollen, ist in unserer Gesellschaft nicht wirklich erwünscht, ja es könnte sogar bedrohlich werden, zumindest aber fördert es nicht unbedingt unser Ansehen.
Gehen sie doch mal zu Ihrem Chef und verkünden ihm: „Ich habe in dieser Woche mindestens drei Fehler gemacht, aber seien sie beruhigt, ich habe sie so gerade noch ausbügeln können!“ Das kommt nicht richtig gut, und ihr Vorgesetzter würde sie sicherlich nicht zu Beförderung vorschlagen, eher das Gegenteil. Oder stecken sie doch mal einem Arbeitskollegen: „Ich habe gestern zwei unserer Kollegen wiedereinmal belogen!“ Entweder ernten sie ein Lachen, oder sie müssten sich fragen lassen, wie sie denn überhaupt so drauf wären, oder aber es käme der knappe Kommentar, was interessiert das mich. Aber es könnte noch heftiger kommen. Verraten sie doch mal im vertrauten Gespräch einem Freund oder einer Freundin dass sie gesündigt haben! Auch in dieser Situation würden sie in der Regel nicht ernst genommen und bekämen entweder zu hören: „Sind wir nicht alle kleine Sünderlein“ oder aber ein entsetztes: „Ich wusste ja gar nicht dass du eine Diät machst!“
Die Realität von Schwächen, Fehlern und Sünden sind bei der Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft ungern gesehen, sie werden einfach nicht wahrgenommen und werden so von der positiven Realität der öffentlichen Wirklichkeit des Lebens abgeschnitten. Ich manchen Fällen, und das darf auch nicht übersehen werden, werden die Schwächen eines Menschen allerdings bewusst ans Tageslicht gezerrt, um jemanden einen Strick zu drehen, nicht aber um die ganze Wirklichkeit eines Menschen ernst zu nehmen.
Als zum Menschen dazugehörig sind Ihre Stärke, Ihr Erfolg, Ansehen und Ihr Besitz gefragt, nicht aber Ihre schwachen Seiten.
Wir leben in einer Gesellschaft die an der ganzen, umfassenden Wirklichkeit des Menschen, an all dem was zu ihm dazugehört kein Interesse mehr hat. Das passt eben nicht in unsere Eventgesellschaft, wo ein Kick den anderen zu jagen hat, und wo scheinbar nur der zählt, der oben auf ist, erfolgreich und immer super drauf.
Das Fatale und unmenschliche an dieser Entwicklung ist die Missachtung der Tatsache, dass wir Menschen eben nicht so perfekt sind wie wir es vorgeben, beziehungsweise wie wir es vorzugaukeln genötigt werden.
Das Leben begreifen, Menschsein erfahren, diese Aufforderung ist im besten Sinne des Wortes „Not – wendig“. Denn das Leben begreifen bedeutet, all das an und ernst zu nehmen, was uns gelingt, wo wir stark, fähig und erfolgreich sind. Das Leben begreifen heißt aber auch unsere Schwächen, Fehler und unsere Freiheit zur Sünde ernst und an zu nehmen.
Ich glaube sie stimmten mir zu wenn ich behaupte, auch sie fühlten sich wirklich ernst- und angenommen, wenn ein anderer Mensch ihnen zumindest zugesteht auch Fehler machen zu dürfen. Aber würden sie sich noch wohl fühlen wenn ihnen auf den Kopf zusagen würde, sie sind ein sündiger Mensch. Ich meine nicht dieses „wir sind ja irgendwie alle Sünder“, was ja eigentlich nichts anderes bedeutet als, das was alle sind ist keiner. Nein so allgemein unverbindlich verstehe ich Schuld nicht. Ich meine ihre ganz persönliches schuldig sein, ihre individuelle Fähigkeit zur Sünde! Verstehen sie mich hier nicht falsch, ich will sie nicht bloßstellen oder verurteilen. Ich möchte ihnen und auch mir selbst heute sagen, was wir alle eigentlich schon längst wissen, wie stehen mit der Fähigkeit uns schuldig zu machen, mit unseren Verfehlungen und Sünden nicht allein. Wir alle sind nicht perfekt, keiner von uns ist ohne Schuld und Sünde.
Es ist also eine Verzerrung der Wirklichkeit, wenn individuelle Schuld in der Gesellschaft nur mit der Existenz von Gefängnissen wahrgenommen wird, ansonsten aber Schuld als allgemeines Phänomen betrachtet wird, um so dann öffentlich ignoriert zu werden.
Die Notwendigkeit, eine Kultur der Schuld und der Versöhnung in unserer Gesellschaft, mindestens aber in unseren Gemeinden zu etablieren, beantwortet noch nicht die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft offen, und gleichzeitig sinnvoll, und letztendlich auch befreiend mit dem Faktum Schuld umgehen können. In jedem Falle ist es keine Antwort zu behaupten, wenn alle Schuld auf sich laden, dann kann das ja nicht wirklich Schuld sein.
Ein schuldiger oder sündiger Mensch zu sein, klingt immer nach einem Vorwurf, und beinhaltet den Anspruch auf Verurteilung und Strafe.
Schauen wir in das heutige Evangelium, dann werden wir zwar die Worte Jesu von der Sünde hören, aber nicht im Sinne eines Vorwurfes oder gar einer Strafverfolgung. Darum geht es der Verkündigung Jesu hier nicht. So schreibt der Evangelist Johannes:
„Er sagte zu ihnen: Ihr stammt von unten, ich stamme von oben; ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt. Ich habe euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben.“ (Joh 8,23f)
Hier geht es nicht um die Verurteilung des sündigen Menschen, sondern zum Einen um die Benennung der Tatsache, dass der Mensch Sünder ist. Entscheidender aber geht es hier zum Anderen um die Perspektive, die Jesus der Sünde gibt, und die ist eindeutig. Wer sich in Jesus Christus zu Gott bekennt, dessen Leben wird an der Sünde, wenn er zu ihr steht und sie bereut, nicht zerbrechen.
Jesus hat wohl verstanden wie Menschen damals aber auch heute mit der Erfahrung von Schuld und Sünde umgehen. Der Mensch will sie verstecken, klein reden oder einfach irgendwann sich einbilden, er habe sie vergessen, und damit sei alles erledigt. Nicht aber im Weglaufen vor der Sünde beweist der Mensch seinen aufrechten Gang, sondern im menschenwürdigen Bekenntnis zur Sünde, im Sinne von verantworteter und eingestandener Schuld. Dies ist die Grundlage, auf der wir mit Schuld und Sünde ernst, und um Gerechtigkeit bemüht umgehen können.
Das Leben begreifen, Menschsein erfahren ist der Ruf nach einer Kultur, in der individuelle Sünde und Schuld kein Tabu mehr sind.
Erst dann kann ich mich zu dieser Enge in meinem Leben bekennen darf, kann mit anderen Menschen darüber sprechen, ohne ausweglos der Schuldige bleiben zu müssen.
Dann wäre ein Klima geschaffen, in dem ich um Vergebung bitten kann, aber nicht um den Preis belächelt oder bedingungslos verurteilt zu werden.
So wäre aber auch ein Klima geschaffen in dem zu sagen es möglich wird: Ja, ich nehme deine Entschuldigung an, ich spüre die Traurigkeit in deiner Reue, darf ich dir vergeben?
Ein solches Klima kann aber nicht den Sinn haben Schuld zu verharmlosen. Wer Schuld im Sinne unserer staatlichen Rechtsprechung auf sich geladen hat, muss auch die Konsequenzen dafür tragen. Damit ist aber oft noch längst nicht den Opfern wirklich geholfen. Das darf auch nicht vergessen werden.
Wir Christinnen und Christen sprechen ganz bewusst in bestimmten Fällen des sich schuldig machen’s auch von Sünde und nicht nur von Schuld.
Sünde bedeutet in unserem Glauben auf eine Kurzformel gebracht (und somit verkürzt): Einen anderen Menschen oder sich selbst, in welcher Weise auch immer, bewusst am Leben zu hindern, oder des Leben gewollt zu verletzen, und so die Liebe dessen zu verachten, der einzig das Leben ermöglicht, Gott.
Sünde fängt aber nicht erst bei Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung, Folter, Pädophilie (nicht mit Homosexualität zu verwechseln), Missbrauch in der Familie, oder Gotteslästerung an. Sündiges Verhalten kann sehr unspektakulär sein, aber mit fatalen Folgen für das Leben unserer Mitmenschen.
Meine Intention ist es hier nicht, einen dezidierten Sündenkatalog aufzustellen. Schuld muss in der Wahrhaftigkeit des eigenen Lebens gespürt werden, und nicht anhand eines Sündenkataloges, aus dem ich im Nachhinein ablesen kann, was ich gestern falsch gemacht habe könnte.
Die Wahrnehmung persönlichen sündhaften Verhaltens bedarf einer fundierten und menschenfreundlichen Gewissensbildung, die der „Ort“ ist, individuelles Fehlverhalten wahrzunehmen und zu benennen. Wer sich der Qualität des eigenen Lebens stellen will, der sollte auch klar vor Augen haben, das Sünde, die Verachtung der Liebe Gottes, überall dort seinen Anfang nimmt, wo Leben bedroht und verhindert wird.
Als Christinnen und Christen mit der Sünde ehrlich umzugehen bedeutet, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Das aber darf einerseits nicht heißen, dass jede Verfehlung gleich zur Sünde erheben wird. Andererseits aber heißt das, erkannte Sünde zu bereuen, um aus der Erfahrung unserer Schuld Kurskorrekturen für unser Lebens vornehmen zu können, damit unser und das Leben anderer Menschen an beständiger Lebensqualität gewinnt.
Unsere Kirche bietet einen ganz konkreten Umgang mit der persönlichen Schuld an, in der wir Versöhnung als Lebensqualität erfahren können. Nicht aus einer allgemeinen Schuldzuweisung, sondern aus der Vergebungspraxis Jesu, so wie sie im Neuen Testament an vielen Stellen belegt ist, ist das Sakrament der Vergebung und Versöhnung unserer Kirche erwachsen. Dieses Sakrament ist in unserer Kirche fast vergessen. Primär Schuld daran ist neben einer Unterdrückungskultur von Schuld und Sünde in unserer Gesellschaft, auch die Beichtpraxis in der Vergangenheit unserer Kirche. Hier hat es viele Verletzungen gegeben, besonders bei heute älteren Menschen, die bis heute noch nicht verheilen konnten. Es ist nicht meine Schuld, aber trotzdem tut mir ihr Schmerz sehr leid.
Das Argument jüngerer Menschen gegen die Beichte, wenn sie sich denn überhaupt noch damit beschäftigen, lautet oft: Ich kann Gott auch so um Vergebung bitten, dafür brauche ich keinen Priester. Dazu möchte ich anmerken: Gottes Handel ist immer vermitteltes Handel. Gott vermittelt sich in Jesus Christus. Jesus Christus ruft uns auf Vermittlerinnen und Vermittler seiner Botschaft zu sein. Wir taufen im Namen Jesu Christi. Im Geiste Jesu Christi versammelt, erbeten für die Gemeinde durch den Priester, schenkt Gott sich uns selbst in Jesus Christus in der Eucharistiefeier, unter den Gestalten von Brot und Wein.
Gott bedient sich des Wortes der Menschen, auch in seiner Vergebungsliebe, damit wir mit eigenen Ohren hören wonach wir uns sehnen. Unserer Gesellschaft täte eine menschenfreundliche Kultur von Schuld und Vergebung sehr gut, damit wir wieder als Menschen ganz, und so auch ehrlich voreinander und vor Gott leben dürfen. So hätten wir eine wirklich Change mehr zu erleben als wir begreifen, Spuren Gottes.
„Träume-mal“ Vergebung
Du sagst:
„Laß doch gut sein.“
So klingt es nach:
Nicht verstanden!
Du sagst:
„Vorbei und vergessen.“
So klingt es nach:
Kalter Güte!
Du sagst:
„Kann ja jedem passieren“
So klingt es nach:
Ich habe keinen Namen!
Du sagst:
„Ist doch nicht so schlimm.“
So klingt es nach:
Wie weltfremd bin ich eigentlich?
Ich träume:
Es ist nicht gut!
Vergessen ist es auch nicht!
Passiert ist es mir!
Schlimm bleibt es!
Und einer sagt:
Ich vergebe dir
im Namen des Vater
und des Sohnes
und des Heiligen Geistes!
Diese Predigt wurde im Rahmen der Anna-Woche 2002 in St. Anna, Düren gehalten.