1. Der Stachel im Fleisch der Kirche
Christengemeinden sind benannt nach Jesus Christus. Was das heißt, verdeutlicht Paulus der Gemeinde von Philippi mit großer Eindringlichkeit: „Vor allem: lebt als Gemeinde so, wie es dem Evangelium Christi entspricht. Ob ich komme und euch sehe oder ob ich fern bin, ich möchte hören, daß ihr in dem einen Geist feststeht, einmütig für den Glauben an das Evangelium kämpft und euch in keinem Fall von euren Gegnern einschüchtern laßt“ (Phil 1,27 f.).
Ist das nicht eine „Parole“, die sich nun schon über 1940 Jahre die Gemeinden in der ganzen Weit in immer neuen Schüben anzueignen versuchen? Denn immer wieder gibt es das Zurücksinken hinter den übergroßen Anspruch. Aber da sind diese Paulus-Worte, die das nicht zulassen. Plötzlich wird es für eine Gemeinde wieder existentiell wichtig den Geist Jesu in sein Recht einzusetzen. Paulus darf wieder den Weg weisen, wie damals in seinem ersten Brief an die Thessalonicher: Achtet die, die euch im Namen des Herrn leiten, haltet Frieden, sorgt für ein geordnetes Leben, macht den Ängstlichen Mut, stellt euch auf die Seite der Schwachen und übt euch in Geduld, vermeidet, dass einer Böses mit Bösem vergilt, sucht das Gute und tut es untereinander; ja sei gut zu allen, freut euch, betet, ohne müde zu werden; dankt –Gott möchte euren Dank, erstickt nicht den Geist, deutet die Zeichen für die Zukunft, lehnt nichts gleich ab, sondern prüft alles und behaltet das Gute, und nehmt euch in Acht vor dem Bösen (vgl. 1 Thess 5,12 ff.).
Damals wie heute werden diese Bibelworte und ähnliche Aufforderungen der Heiligen Schrift den aufmerksamen Gottesdienstbesuchern, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise, zu Gehör gebracht. Kaum eine Publikation zu Gemeindeaufbau und Gemeindeleben kann auf diese und sinnverwandte Zitate der Überlieferung verzichten.
Es sind ja nun nicht Worte, die den Gemeindemitgliedern aufgepfropft werden – es ist die Sehnsucht ungezählter Menschen auf dem Weg Jesu ein mit Sinn geordnetes und erfülltes Leben zu finden. Sie suchen Frieden mit sich, mit den Menschen, mit Gott. Gerade in den unterdrückten Völkern, in den Menschen, die ihrem Glauben an Gott keinerlei Ausdrucksformen geben durften, sprudelt nun – vom erdrückenden Zwang befreit oder sich selbst befreiend – religiöse Identität hervor. Da ist der Wunsch zum „ich glaube an Gott, ich feiere meinen Gott“ ganz stark. Die Sehnsucht lebendig zu sein und nicht vom Alltag sich begraben zu wissen, lieben zu dürfen, begeistert zu sein, sich zu freuen …. diese Sehnsucht lebt und lebte in fast jedem Menschen, sicherlich unterschiedlich stark, in welcher Zeitepoche auch immer.
Diese allgemeine Sehnsucht immer besser in Christus zu orten, ist ein „Dauerauftrag“ der christlichen Gemeinde, denn sie weiß von den menschlichen Lebenswünschen, wo sie eine Heimat finden können: Wir sind so gemacht, „daß wir durch Jesus Christus das Heil erlangen“ (1 Thess 5,10). In Christus finden wir „ewigen Trost und sichere Hoffnung“ (2 Thess 2,16).
Diese Worte Gottes, durch Jesus Christus geoffenbart und von Menschen überliefert, von Gemeinde zu Gemeinde weitergesagt, in der Gemeinde gehört, treffen unser Leben wie das Leben der Menschen unserer Zeit, die schon zu hören gelernt haben.
2. Vielfalt aus dem Ursprung Jesu
Das Wort des Herrn hat aber in den letzten zwei christlichen Jahrtausenden die unterschiedlichsten Gemeindeformen, Gemeindestrukturen, Gemeindeidentitäten und Gemeindeaktivitäten hervorgebracht, obwohl keine Gemeinde zu keiner Zeit je von sich behauptet hätte nicht aus dem Grundfundament der Heiligen Schrift hervorgegangen zu sein und aus ihr zu leben. Dies unbeschadet der Tatsache, dass gemeindeinterne wie von außen kommende Kritik immer wieder die Richtigkeit gemeindlichen (und auch kirchlichen) Handelns und dementsprechend ihre Worttreue bezweifelt.
2.1 … ein Filmausschnitt
Wenn die eigene Erfahrung aus Altersgründen auch nicht reichen mag, so wird uns doch manchmal in älteren Filmen ein Bild von Gemeinde in die Wohnzimmer geliefert, wie es vor ca. 80 Jahren etwa gewesen sein mag und in geschichtlichen Reststücken hie und da noch ist: eine lammfromme Gemeinde, wohlgeordnet und nach strengen Regeln eingeteilt, im persönlichen Gebet einer meist unverstandenen Liturgie folgend, sie aber penibel genau schätzend. Begriffe wie Mildtätigkeit, Keuschheit und Ergebenheit (letzteres auf Gott und den Pastor bezogen) wurden großgeschrieben und bei Respektierung auch dementsprechend honoriert. Nichtbeachtung freilich wurde mit einem Quentchen mehr an Härte bestraft, im Vergleich zum Lohn bei Einhaltung.
Über einen solchen „Filmausschnitt“ hinaus gehörte doch schon mehr zum damaligen Gemeindeleben. Klaren Regeln entsprechend, gab es natürlich oft recht lebendige Bünde wie den Frauenbund, Männerbund, die Jungfrauenkongregation und den Bund der Jungmänner. Auch prägten, streng nach Geschlecht getrennt, Mädchen- und Jungen-Gemeinschaften, später Frohschar genannt, das Bild einer Gemeinde. Nicht fehlen durfte natürlich der Kirchenchor, der Kirchbauverein sowie der Paramentenverein. Last but not least gehörten zu einer damaligen Gemeinde eine Fülle von“Frömmigkeitsvereinigungen“, die meistens im Zeichen der Marienverehrung standen oder sich der oft ortsverbundenen Heiligenverehrung verschrieben. Diese Verehrungen fanden ihren sichtbaren Niederschlag in Andachten, Wallfahrten, eucharistischen Anbetungen; obenan aber ist sicherlich das Rosenkranzgebet zu stellen.
Die von einer starken Volksfrömmigkeit geprägten Gemeinden pflegten mit Hingabe die liturgischen Feste ihrer Patronats- und Lokalheiligen, tradierten die Fronleichnamsprozession, Wetter-, Dank- und Bittprozessionen und die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu, beherzigten eine hingebungsvolle, manchmal auch engstirnige Treue zum Sakramentenempfang und bedienten sich überdies einer Vielzahl von Sakramentalien wie Ein- und Aussegnungen. Bei aller strengen Wertschätzung der Feste des Kirchenjahres darf aber nicht verschwiegen werden, dass so manches kirchliche Fest einen recht ausgelassenen weltlichen Ausklang fand.
Ganz in der Obhut des Pfarrers (oder des Kaplans/Vikars) befand sich die katechetische Unterweisung der Kinder, die Bibelstunde sowie die Christenlehre und vielerorts auch der Religionsunterricht. Daneben sollte man aber auch nicht übersehen, dass viele Frömmigkeitsübungen und auch biblische Unterweisungen im Kreise der Familie stattfanden.
Wenn diese meist gottesdienstlich ausgerichteten oder der seelischen Ertüchtigung und Erbauung dienenden Elemente fast ausschließlich auf die Territorialgemeinde bezogen waren, so gab es doch auch Bewegung, die diesen Raum sprengten. Erwähnt sei hier die um die Jahrhundertwende entstandene Jugendbewegung, die Front machte gegen das enge Denken der damaligen Zeit (besonders des Bürgertums) sowie des zeitbedingten Materialismus. Für diese Begegnung begeisterten sich ideal gesinnte junge Menschen, die z. B. Abstinenz von Alkohol und Tabak übten als äußeres Zeichen innerer Freiheit. Der „Zupfgeigenhansel“, ein weit verbreitetes Liederbuch, dokumentiert den Geist dieses Aufbruchs. Die Jugendbewegung in ihrer christlichen Variante (Burg Rothenfels) veränderte auch das Frömmigkeitsklima in unseren Gemeinden. Plötzlich wurde das süßliche 19. Jahrhundert abgelehnt, und herbere Formen der Frömmigkeit fanden Anklang. Das mit Begeisterung begangene „Christkönigsfest“ geriet zum Ausdruck eines neuen religiösen Lebensgefühls, das anstelle der vielen sekundären Kulte wieder „Christozentrik“ wollte.
2.2 Und heute?
Ein flüchtiger „Filmausschnitt“! Er genügt, um festzustellen, wieviel sich seither in unseren Gemeinden verändert hat. Der religiöse Stil ist ein anderer; die Tätigkeitsfelder der Gemeinde haben sich verändert (verschoben?) und erweitert.
Sich auf dieselbe Heilige Schrift berufend hat die Gemeinde ihr Dasein verändert und sich mit Blick auf die stetig sich wandelnde Lage der Menschen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erneuert. Anknüpfend an die eben erwähnte Jugendbewegung mit ihrer Kraft zur „Renovation“ und damit zur Veränderung darf der Name Romano Guardini genannt werden, der nicht nur für die liturgische Erneuerung steht, sondern sehr weitgreifend für Erneuerung der Kirche und somit auch der Gemeinde anzuerkennen ist und seine Spuren hinterlässt bis in die Wegbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Nun ist das Stichwort für Veränderung in unseren Gemeinden gefallen: Das Zweite Vatikanische Konzil, der Atem Papst Johannes XXIII. und seine Fortführung durch Papst Paul VI.
Ohne hier näher auf das Zweite Vatikanische Konzil einzugehen – es ist uns allen vertraut – bleibt es doch unbestritten eine Zäsur im Leben unserer Gemeinden: Der jüngste, elementarste Grund der Veränderung. Egal wie das Faktum des Zweiten Vatikanischen Konzils und der ihm folgenden Synoden eingeordnet wird, es hat Bewegung und Erneuerung in jede Gemeinde hineingetragen. Stichworte wie Dialog, Ökumene, Verantwortung für die Weit, Beteiligung der Laien, gemeinsames Priestertum, Volk Gottes, Kirche auf dem Weg u.v.m. haben Glanz gewonnen (auch wenn sie nicht überall glänzen dürfen). Leider sind die Impulse und Veränderungen, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil ausgegangen sind, nicht in jeder Gemeinde unseres Sprachraumes gleichermaßen angekommen und eingebunden worden, doch gibt es kaum eine Gemeinde, die gänzlich unberührt von dem frischen Wind des Konzils geblieben ist.
Am schnellsten und sichtbarsten hat die liturgische Erneuerung Einzug in unsere Gotteshäuser und unsere Gottesdienste gehalten, was bis heute mancherorts unverstanden ist, ja sogar abgelehnt wird.
Mit dieser Erneuerung, aber nicht zwangsläufig aus ihr hervorgehend, haben manche Gottesdienstformen, wie z. B. Andachten, an Boden eingebüßt. Eine scheinbare Entmystifizierung unserer Gottesdienste und ihre sinnvolle Entfrachtung von Frömmigkeitsballast ist nicht von jedem bejubelt worden, aber in jeder Gemeinde ein sichtbarer Beleg des Aufbruchs: Heraus aus sinnentleerten und erstarrten gottesdienstlichen Mechanismen, hinein in Gottesdienstformen, die die Möglichkeit in sich bergen, das konkrete Leben der Gläubigen aufzugreifen; ein Dienst an Gott und den Menschen, der gut tut und heilt.
Doch nicht nur im Bereich der Liturgie hat sich etwas gewandelt; das ganze Gemeindeleben hat ein erneuertes Gesicht bekommen. Angefangen bei – oft allerdings noch sehr zaghaften – ökumenischen Bemühungen (z.B. gemeinsamen Bibelkreisen), über die Bildung von Beratungsstrukturen, z. B. Pfarrgemeinderat und Sachausschüsse, die die Gemeindemitglieder mehr in den Entwicklungsprozeß ihrer Gemeinde hineinnehmen wollen, bis hin zu ihrem sozialen und gesellschaftlichen Engagement. Indem man die „sakristeifixierte“ Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts relativierte oder ganz abschüttelte, versuchte man einer „weltlichen Frömmigkeit“ den Weg zu bereiten – einer Frömmigkeit der Arbeit, einer Frömmigkeit der Beziehungen, einer Frömmigkeit des politischen Engagements.
2.3 Vom Tanzkurs bis zum Kochlehrgang
Schauen wir heute in die Pfarrbriefe oder Schaukästen unserer Gemeinden, so stellen wir fest, dass gerade ihre „gesellschaftliche Öffnung“ große Resonanz gefunden hat. Da tauchen von Gemeinde zu Gemeinde verschiedene Aktivitäten auf wie Pfarrfeste, Altenfahrten, Kinderkarneval, Jugendheimfeten, Wandertage, Filmangebote, Sportveranstaltungen, Bildungsveranstaltungen, Musikangebote, Podiumsdiskussionen, Friedensdemonstrationen, politische Foren, Basare, Tanzkurse, Kochlehrgänge, Hausaufgabenhilfe usw. Gemeinden machen sich in unterschiedlichster Weise stark für die „Asylantenproblematik“, Arbeiterfrage (was nichts Neues ist; erinnert sei hier nur an die KAB, die kein Kind des Konzils ist), Behinderte, Alleinerziehende, Drogenabhängige, soziale Brennpunkte usw. Manche Gemeinde hat sich zu einem florierenden Reiseunternehmen entwickelt oder macht so mancher Volkshochschule Konkurrenz. Die meisten Gemeinden verfügen über Pfarrzentren, die bis hin zum regelmäßigen Kneipenbetrieb Sammelpunkte gesellschaftlichen Lebens sind.
Nicht zuletzt ist die Steigerung der gemeindlichen Aktivitäten festzumachen an der großen Zahl haupt- und nebenamtlicher Mitarbeiter wie Sekretärinnen, Gemeindereferentinnen, Pastoralreferenten/innen, Dekanatsbeauftragte, Leiter und Mitarbeiter von TOT und Sozialarbeiter/innen. Die genannten und viele andere Aktivitäten sind heute fester Bestandteil unzähliger Gemeinden. Sie sind Zeichen für eine lebendige, den Bedürfnissen der Menschen nachgehende Pfarrgemeinde und entlocken so manchen gefrusteten Gemeindemitgliedern den Ausruf: „Hier ist was los!“
Gerade auf diesem Hintergrund bekommt das Thema dieses Heftes aktuelles Gewicht und zukunftsweisende Bedeutung: „Auf der Suche nach religiösem Profil: Damit Jesus die Mitte bleibt.“ All die oben aufgeführten Aktivitäten in unseren Gemeinden sollen hier nämlich nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wir möchten nur anregen wieder neu zu fragen, ob wir genug Phantasie entwickeln, all unser Tun aus Ihm heraus zu motivieren und dadurch die Grundlagen unseres Glaubens ideenreich weiterzuvermitteln.
3. Auf dem Weg zu einer „geistlichen“ Gemeinde
Eine Gemeinde ist nicht irgendein Verein, der Langeweile kompensiert und mit seinem Freizeitangebot professionellen Anbietern Konkurrenz macht. Eine Gemeinde braucht das Profil, das sie zu dem profiliert, was sie sein soll: Gemeinde Jesu, des Sohnes Gottes, der den Mensch als Ganzes ernst nimmt in seinem Suchen nach Sinn, nach Freude, nach Geborgenheit, nach Zukunft, nach Leiblichkeit, nach Liebe, nach Vergebung, nach einem Da-sein-Dürfen, das die vielen verschiedenen Profile der einzelnen Menschen mit religiöser Tiefenschärfe versieht.
Wo dieser Anspruch formuliert wird, ist nicht selten davon die Rede, unsere Gemeinden bräuchten wieder so etwas wie „Spiritualität“. Spiritualität kommt von „spiritus“ = Geist. Der Heilige Geist ist nach allen Aussagen der Heiligen Schrift der Mittler – das heißt: der Verbinder. Im Geist war Jesus ganz mit dem Vater verbunden. Der Geist ist es auch, der unsere Gemeinden (und die vielen einzelnen in ihr) miteinander und mit Jesus verbindet. Eine Spiritualität ist also eine „Geistigkeit“ – eine „geistliche“ Prägung all unseren Tuns. Wer unter Spiritualität nur eine isolierte Frömmigkeitsübung versteht, verkürzt die Dimension des Begriffes in unzulänglicher Weise. Selbst die Herz-Jesu-Spiritualität, der man heute manches Schlechte nachsagt, war in ihren besseren Tagen niemals nur eine auf den Knien zu absolvierende Übung, sondern eine prägende Lebenshaltung.
Hier soll nicht der Wiederauffrischung überlebter „Spiritualitäten“ das Wort geredet werden. Spiritualitäten haben sowieso ihre eigenen Lebensgesetze, und – wer weiß – vielleicht ist die zentrale Einsicht der Herz-Jesu-Verehrung, dass Gott nämlich ein Herz für uns hat, noch gar nicht am Ende. Dieses Heft ist allerdings ein klares Plädoyer dafür, dass unsere Gemeinden in ihrer Mitte eine „geistliche“ Dimension brauchen.
Das bedeutet nun nicht, dass man sich krampfhaft auf die Suche nach neuen Frömmigkeitsformen macht. Es bedeutet viel eher, dass wir langsam entdecken, wie sehr wir einander „Seelsorger“ sein müssten. Seelsorger sind Menschen, die einander „geistlich“ begleiten. Es fehlt ja an einer neuen Spürigkeit dafür, dass jeder Mensch „geistliche“ Sehnsüchte hat. Und dass eine Gemeinde auch Formen braucht, in denen sich diese geistlichen Sehnsüchte kollektiv ausdrücken können.
Spiritualität fängt ganz weit unten an. „Ich möchte mich in meiner Gemeinde wohl fühlen, und das ist hoffentlich nicht zuviel verlangt. Dafür muss mich aber die Gemeinde mit meinen Fehlern und Überzeugungen ernst nehmen. Wie soll ich mich in einer Gemeinde wohl fühlen, wenn ich schon schief angesehen werde, wenn mein Hemd nicht in der Hose steckt?“ Ist das zuviel verlangt, wenn ein junger Mensch sich erst einmal danach sehnt sich wohl zu fühlen als gläubiger Mensch in einer Gemeinschaft gläubiger Menschen? Und setzt eine Spiritualität der Gemeinde nicht schon da an, wo eine Gemeinde alles daran setzt eine Kultur der gegenseitigen Annahme zu entwickeln? Wir meinen: Ja. Eine neue Frömmigkeit wird eine Frömmigkeit der kleinen, alltäglichen Dinge sein.
Dabei dürfen wir nie die Frage vergessen, ob sich Jesus bei uns wohl fühlt in unseren Gemeinden, die sich doch auf Ihn berufen.
Als wache Christen in einer Zeit, in der gesellschaftliche Äußerlichkeiten sich sehr schnell wandeln, ist es für uns unveräußerbares Gut auf der Suche nach der Mitte zu bleiben, immer neue Wege zu Ihm zu entdecken. So gewinnen unsere Gemeinden Profil, sie zeigen das „Gesicht Jesu“ im Dienst an Gott, dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft. Auf diesem Weg wahren wir unsere Identität, das Zusammenklingen von Gottesdienst und Menschendienst, von Gebet und Handeln, von Besinnung und Geselligkeit. Er bei uns und wir bei Ihm.
4. Schwierige Mitte: Liturgie
Nach dem Willen nicht nur der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils soll der Gottesdienst „Höhepunkt“ und „Quelle“ sein: Der Punkt also, worauf alles Tun in der Gemeinde zustrebt – und der Punkt, aus dem die Gemeinde alle Kraft bezieht für die Gestaltung und Veränderung ihrer kleinen Weit. Die Liturgie hat demnach eine existentielle und funktionale Mittelstellung im Leben der Gemeinde. Zumindest in der Theorie.
Hier ergibt sich besonders für die Menschen ein Problem, die Gottesdienste zu feiern verlernt oder es erst gar nicht erlernt haben. Aber auch denen, die ein regelmäßiges Gottesdienstleben praktizieren, ist dieses Problem nicht ganz fremd: „Wie werde ich identisch mit diesen fernen Riten, schweren Gebeten, fremden Texten? Wie wird dieser Gottesdienst mein Gottesdienst, meine Quelle, mein Höhepunkt?“
Noch etwas kommt hinzu. Im Gottesdienst wird oft von Lieben und Teilen, von Barmherzigkeit gesprochen. Doch nicht selten spiegelt sich im Umgang der Gemeinde miteinander und in persönlichen Begegnungen von Gemeindemitgliedern mit anderen Menschen (am Arbeitsplatz, in der Freizeit, im Bekanntenkreis etc.) ein anderes Bild wider: Lieblosigkeit, Haben-wollen, Unbarmherzigkeit. Oft stehen hier Priester im Feuer der Kritik und mit ihnen die ganze Kirche. Ob dies nun immer berechtigt ist oder auch nicht, so hat doch besonders eine Gemeinde die Aufgabe und Chance diesem ldentitätsverlust von Verkündigung und Handeln entgegenzuwirken.
Wenn auch die Großwetterlage der Kirche (beeinflusst in der Öffentlichkeit etwa durch Verlautbarungen zum Thema Sexualität, durch ihre Kapitalmächtigkeit, beispiellos in der deutschen Kirche und das wenig gewinnende Auftreten so mancher Verantwortlichen in Kirche) bei vielen Bevölkerungsschichten Kritik hervorruft oder Desinteresse bewirkt, das bis in die kleinste Gemeinde hinein spürbar ist, so hat doch die Gemeinde die Möglichkeit Räume zu schaffen, in denen Menschen zu sich kommen. Auch liturgische Räume …
Das heilende Handeln Jesu, welches im Gottesdienst, besonders der Eucharistie, gefeiert, muss in einem heilsamen Klima geschehen, damit es ein heilendes „Miteinander“ von Gemeinde und einzelnen Menschen zur Folge hat. Erst dann, im Erleben dieses Zusammenhanges, kann Menschen, egal, wie regelmäßig sie Gottesdienste besuchen einsichtig werden, dass Gottesdienste wirklich Quellen sind, aus denen man leben kann. Jede Gemeinde und jeder einzelne ist gerufen, sich selbst diesen Identitätsdruck aufzuerlegen, damit Christus die Mitte bleibt und wir selbst neu ermutigt werden. Und damit fernstehende Menschen wieder Interesse daran bekommen Christus zur Mitte werden zu lassen.
Erst wenn aus der Quelle wohltuend geschöpft und weitergegeben wird, ist begreiflich, dass die gottesdienstliche Versammlung auch der Höhepunkt gemeindlichen Lebens ist.
5. Christus mitten im Miteinander
Christus wird auch da Mitte der Gemeinde, wo der einzelne Mensch ernsthaft in das Zentrum der Gemeinde rückt. Bei aller guten Tradition darf Tradition den Menschen und seine Bedürftigkeit nicht abhängen.
- Leitung muss in der Gemeinde wahrgenommen werden, doch darf sie weder von Priestern noch von Laien zu Machtmissbrauch und Entmündigung einzelner oder der ganzen Gemeinde benutzt werden.
- Das Wissen der Fachleute in den Gemeinden ist unerlässlich für ein Miteinander von Gemeinde in den Anforderungen unserer Zeit und im Bewusstsein einer fast 2000jährigen Tradition. Doch das Wissen der Fachleute darf in diesem Bereich die mündigen und geistbegabten Christen in der Gemeinde nicht disqualifizieren. Oft führt einfaches Empfinden, Spüren, ein Sensibelsein über das Wissen hinaus und kann so hilfreicher sein.
- Was zwei oder mehr nicht perfekt tun, ist trotzdem besser als das, was einer perfekt macht.
- Mitverantwortung, Mitbestimmung, Teilhabe, das partnerschaftliche Miteinander aller an der Gemeinde Interessierten ist entscheidend für den Weg einer Gemeinde.
- Alle Gemeindeglieder sind durch Taufe und Firmung Begabte im Geiste Gottes (auch wenn das zu akzeptieren nicht immer einfach ist). Es ist für eine Gemeinde lebenswichtig allen in ihr vorhandenen Fähigkeiten und Talenten Raum zu geben.
Christus rückt um so mehr ins Zentrum unserer Gemeinden, je mehr es Teil unserer Spiritualität wird Ihn im anderen zu sehen. Noch fehlt es in vielen Gemeinden an einer echten Hochachtung des anderen, seines spezifischen Talents, seiner besonderen Gabe von Gott. Ein Lied von Alois Albrecht bringt dieses Suchen zum Ausdruck:
Kehrvers: Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Heute wird getan, oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn Er kommt. |
3. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du beherrscht, was hast du dir unterworfen? Seine Frage wird lauten: Wem hast du gedient, wen hast du umarmt um meinetwillen? Kv |
6. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du geglänzt, was hast du Schönes getragen? Seine Frage wird lauten: Was hast du bewirkt, wen hast du gewärmt um meinetwillen? Kv |
1. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gespart, was hast du alles besessen? Seine Frage wird lauten: Was hast du geschenkt, wen hast du geschätzt um meinetwillen? Kv |
4. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du bereist, was hast du dir leisten können? Seine Frage wird lauten: Was hast du gewagt, wen hast du befreit um meinetwillen? Kv |
7. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gesagt, Was hast du alles versprochen? Seine Frage wird lauten: Was hast du getan, wen hast du geliebt um meinetwillen? Kv |
2. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gewusst, was hast du Gescheites gelernt? Seine Frage wird lauten: Was hast du bedacht, wem hast du genützt um meinetwillen? Kv |
5. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gespeist, was hast du Gutes getrunken? Seine Frage wird lauten: Was hast du geteilt, wen hast du genährt um meinetwillen? Kv |
6. Von der Mitte und von den Rändern
Zum Schluss dieser Überlegungen, in denen viel von Jesus Christus als der Mitte unserer Gemeinden die Rede war, sollen uns die Ränder unserer Gemeinden nicht aus dem Auge kommen. Jesus, der hohe Anforderungen an diejenigen stellte, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung befanden, hat trotzdem auch die nicht ausgegrenzt, die nur am Rande mit ihm waren. Heute droht in vielen Gemeinden der Rückzug in ein windgeschütztes Kerngehäuse. Die da draußen sind eben draußen. Nach dem Geist Jesu ist das nicht.
Wir haben viel Verstand aufgewandt, um darzulegen, „wer noch dazugehört und wer nicht“. Sollte man im Sinn Jesu nicht lieber all jene dazurechnen, die sich innerhalb der Gemeinde „berühren“ und von der Gemeinde „berühren“ lassen? Eine Gemeinde wäre dann das, was sich in einem bestimmten territorialen Bereich oder als eine bestimmte „Kategorie“ von Menschen als Gemeinschaft von Christen berührt.
Die hier anklingenden traditionellen Begriffe „Territorialgemeinde“ (herkömmliche Pfarrgemeinde) und „Kategorialgemeinde“ (z. B. Hochschulgemeinde) müssen sicherlich auf die Zukunft hin neu überdacht werden. Auch in dieser Hinsicht mag es vielleicht besser sein von der Gemeinde zu sprechen als dem Sich-„Berühren“, von Menschen auf den Grundfesten der Heiligen Schrift, in Übereinstimmung mit den Wegweisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Vätertradition.
Besonders mit Blick auf die herkömmliche Gemeindeform, der Pfarrgemeinde, sprechen wir hier also bewusst von Menschen, die sich berühren, und nicht von Menschen, die miteinander leben, da dies ein sehr hoher und an der Realität nicht verifizierbarer Anspruch ist. Die Berührungspunkte können sehr vielfältig sein: Vom Gottesdienst bis zum Kneipentreffen, vom Diskussionskreis bis zum Pfarrbesuchsdienst – und viele Berührungspunkte mehr.
Die Gemeinde zu bezeichnen als Menschen, die sich berühren lassen, entlässt uns auch aus einer strengen Aus- oder Eingrenzung, wer nicht mehr und wer noch in der Gemeinde ist. Gehört nur der zur „wirklichen“ Gemeinde, der regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst geht, oder ist auch der „noch“ Gemeindemitglied, der sich an Weihnachten und zum Pfarrfest erfahrbar, berührbar macht? Hier läßt sich sicherlich streiten, aber oft wäre eine Neubesinnung darüber hilfreicher, wen Jesus wohl gemeint haben kann, als er für die Einheit derer gebetet hat, die ihm vom Vater gegeben worden sind (vgl. Joh 17, 21).