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Bilder aus der Bildlosigkeit

Das leere Grab von Janet Brooks-Gerloff

Das leere Grab von Janet Brooks-Gerloff, 100 x 110 cm Öl, Bleistift, Leinwand 1986. Das Bild befindet sich im Besitz der Benedektinerabtei St. Kornelius und St. Benedikt v. Aniane, Kornelimünster bei Aachen.

Dieses Bild lebt von der Spannung zwischen „davor“ und „dahinter“. „Davor“ ein Mann, der sich langsam an die schmale Öffnung einer Gruft heran tastet, den Oberkörper zur Graböffnung geneigt. Der dieses Bild Betrachtende weiß definitiv nicht, ob die abgebildete Person überhaupt schon einen Blick durch die Öffnung werfen konnte oder ob der Gang seines Blickes nicht noch wenige Zentimeter Mauer vor sich hat, bevor ihm die ersehnte Einsicht freigegeben ist.

Der das Bild Betrachtende, der Außenstehende, sieht schon durch den schmalen Einblick das „Dahinter“. Ihm ist der Blick in die Grabkammer bereits gewährt und er erkennt einen kleinen Ausschnitt eines steinernen Hochgrabes und darauf abgelegt zwei weiße Tücher.

Den Ort, das Ereignis, die Quelle dieses Bildes finden wir im Neuen Testament nicht nur in den Evangelien.

„Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr~ Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier~ Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte.“ (Mk 16,2-6)

Das „Davor“ im Markusevangelium ist der Gang zum Grab Jesu, ein „Davor“, das nichts Besonderes erwarten lässt, Frauen, die dem toten Leib Jesu noch einen letzten Dienst erweisen wollen. Nur die Sorge um den schweren Stein beschäftigt sie auf ihrem Weg zum Grab. Doch schon aus der Distanz eröffnet sich den Frauen das unerwartete „Dahinter“, das offene Grab.

Die Künstlerin dieses Bildes reduziert das im Evangelium Beschriebene auf ein Minimum, auf die große Verwunderung über das geöffnete Grab und die Frage: Was ist dahinter?

Wir, die Betrachtenden, sind den Frauen auf dem Weg zum Grab vordergründig einen Schritt voraus. Wir können die Schrecksekunden der Frauen, denen sich das „Dahinter“ unerwartet eröffnet, nicht nacherleben, weil wir dank ihrer Botschaft, die heute im Glauben Wissenden sind.

Auch jene Menschen, die unseren Glauben nicht teilen, können um die Botschaft der Auferstehung Jesu Christi wissen. Die Antwort auf die Frage, was das „Dahinter“ offenbart, ist gegeben, allerdings ist diese Antwort nur wirklich im Glauben zu haben.

Bleibt nun nur zu resümieren, dass die Künstlerin eine aufgehobene Spannung in ihrem Werk darstellt, eine schon längst im Glauben beantwortete Frage nach dem: Und was ist das „Dahinter“? Deutet dieses Bild nur den gemutmaßten Augenblick am Grabe Jesu, gerechtfertigt aus den Schriften des Neuen Testaments? Für den sich zum christlichen Glauben bekennenden Menschen wie für den Andersgläubigen, aber auch für diejenigen, die von sich behaupten, keinen Glauben zu haben, ist die Spannung, die in diesem Werk ausgedrückt ist, nicht grundsätzlich aufgehoben.

Der Mensch tastet sich sein ganzes Leben lang an dieser Wand entlang, die ihn getrennt vom Tode leben lässt; biographisch bedingt unterschiedlich intensiv. Wir tasten uns an dieser Wand unseres Lebens entlang zwischen der Leichtigkeit des Seins und der Unausstehlichkeit des Nicht-mehr-Seins, in der Hoffnung, dass im Augenblick der Einsicht in unser Sterben die Blickrichtung umbricht und wir aus dem Dunkel unseres Grabes einen Ausblick haben werden.

Im Augenblick unseres Sterbens als Christinnen und Christen muss sich erst noch erweisen, ob unser Glaube irrte oder nicht. In dem Sterben eines Andersgläubigen muss sich auch erst noch erweisen, ob sein Glaube irrte oder nicht. In dem Sterben eines Menschen ohne Glauben muss sich ebenfalls noch erweisen, ob sein Nicht-glauben-Wollen ein Irrtum war. Jedes Leben, egal welchen Bekenntnisses, tastet sich an dieser Wand entlang, die Leben und Tod voneinander trennt. Keinem Leben bleibt die Schrecksekunde im Übergang von „Davor“ zum „Dahinter“ erspart.

Vielleicht reicht es ja dem Geber allen Lebens, der sich uns Christinnen und Christen in Jesus Christus als der Gott des Lebens geoffenbart hat, sogar aus, auch dem ein „Dahinter“ zu eröffnen, der in seinem Leben entlang der Wand zum Tod auch nur den geringsten Zweifel an der von ihm angenommenen Leere nach seinem Tod und ein „Dahinter“ vielleicht doch erhofft hat.

Der Mensch tastet sich an dieser Wand zum Tod sein ganzes Leben entlang, bis er eines unbekannten Tages zu diesem Spalt gelangen wird, durch den er erkennen kann, ob es für ihn ein „Dahinter“ geben wird. Nur einer wusste, dass es für ihn ein „Dahinter“ geben wird. Er lebt und regiert in diesem Reich, das alles umgibt, was ist, Jesus Christus, der Sohn Gottes. Uns hat Christus die Hoffnung hinterlassen, die von jenem auf uns überliefert ist, von dem der Evangelist Johannes berichtet:

„Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen.“ (Joh 20,5)

Gefährliche Kuh aus England von Gabriele Starmann

Gefährliche Kuh aus England (BSE-Kuh laut Zertifikat) von Gabriele Starmann, 85 x 75 cm Acryl, Öl, Wachs, Kreide auf Leinwand auf Holzrahmen 1994, Privatbesitz.

„Gefährliche Kuh aus England“ (BSE-Kuh), so betitelt die Künstlerin ihr 1994 entstandenes Bild. In der Tat bildet die Künstlerin nicht den für manchen Menschen possierlich anmutenden Kopf einer „realen“ Kuh ab, in den Farben Schwarz/Weiß oder Braun/Weiß. Sie bevorzugt primär die Farbe Rot sowie Blau- und Grünabstufungen auf einer zart rosa (fleischfarben) Grundierung Die auffallend großen starren Augen und die bizarre Kopfform mit dieser Farbenkombination lassen diese Kuh gefährlich, „wahnbehaftet“ und irre erscheinen. Die Farbgebung betreffend, könnte man eine Verbindung zu Franz Marc (1880-1916) knüpfen. Er erhebt das Tierbild zu einer „mystisch-innerlichen Konstruktion“ (Marc).

„Das Pferd z. B. ist für Marc Symbol für Vitalität und Kraft. Er gibt ihm die Farbe Blau als Farbe des Geistigen und in Analogie zum Begriff „Der Blaue Reiter“. Die Naturgesetze werden aufgehoben, um die mächtigen Gesetze, die hinter dem schönen Schein walten, zu zeigen.“ 1

Hier könnte die Intention Marcs, dem Pferd die Farbe Blau zuzuordnen als seiner Farbe des „Geistigen“, verbunden mit Vitalität und Kraft, umgekehrt erscheinen. Die dominant wirkenden Blauflächen im Kuhkopf tragen wesentlich zu dem Wahnhaften dieser Erscheinung bei. Nicht „Geistigkeit“, Vitalität und Kraft prägen die Konstruktion des Tieres, sondern die Entartung der Natürlichkeit gibt dem Bild seine Aussage kraft und kann so auch als Provokation empfunden werden. Der Hintergrund der Entstehung dieses Bildes ist der BSE-Skandal. Nie hat die Künstlerin jedoch daran gedacht, ihr Bild in einen religiösen Kontext zu stellen. Dieses Recht nehme ich mir und reihe dieses Bild in Christusdarstellungen moderner Künstlerinnen und Künstler ein. Das Tier, so auch die Kuh, Flora und Fauna, unsere Erde wie auch die Milchstraßen, Galaxien, das ganze All, eben alles, was ist, und zuvorderst der Mensch, ist Schöpfung Gottes. Christus wird in den Paulusbriefen entfaltet als das transparente „Alpha und Omega“ des Kosmos, als „Pantokrator“, als Urwort der Schöpfung (Johannesprolog) und Träger der Erlösung. Die von Gott geschenkte Erlösungserwartung ist nicht nur individuelles Privileg des beschränkt freien Menschen, nein, sie ist göttliche Gnade, die in der Menschwerdung, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi der ganzen Schöpfung entgegengekommen ist und täglich entgegenkommt im Prozess (Evolution) der Vollendung all dessen, was ist.

So schreibt der Apostel Paulus: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unsrem Herzen und warten darauf dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden.“ (Röm 8,21-23)

Den Gedanken einer umfassenden Synthese von Schöpfung, Inkarnation und Erlösung entfaltete bis zu seinem Tode im New Yorker Exil der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955). Das Leben von Teilhard de Chardin war geprägt von der Spannung zwischen den explodierenden Erkenntnissen der Geologie, der Physik, der Naturphilosophie einerseits und der Abwehrhaltung des kirchlichen Lehramtes andererseits. 15 Jahre lang kämpfte Pater Pierre, Theologe, Paläontologe und Anthropologe, vergebens um die Veröffentlichung seines um 1940 in Peking entstandenen Hauptwerkes „Der Mensch im Kosmos“. 1955, wenige Monate nach seinem Tod, konnte es mit kirchlicher Druckerlaubnis endlich erscheinen. Dieses Werk, wie auch seine anderen Veröffentlichungen, ist von seiner durchschlagenden Erkenntnis getragen, dass das Weltbild der Evolution dem christlichen Glauben nicht widerspricht, sondern ihm neue Leuchtkraft schenkt. Wenn Gottes Schöpfung durch Evolution täglich geschieht, wenn sie sich in atemberaubender Weise ausgestaltet in der Evolution des Geistes, der Technik und der Kultur, dann sind wir, die „Krone der Schöpfung“, in besonderer Weise gerufen, Verantwortung für das eine Werk Gottes zu übernehmen, das er aus unergründlicher Liebe ins Werk setzt.

Die Forderung, Mitverantwortung für die Schöpfung Gottes zu übernehmen, richtet unseren Blick wieder auf das Bild: „Gefährliche Kuh aus England“. Gottes Schöpfung ist nicht aus sich heraus bedroht, aber gefährdet ist sie täglich durch den Menschen. Nicht das Werden der Schöpfung kann der Mensch in Gefahr bringen, da das Werden der Schöpfung Gottes Zielorientierung bleibt, Er ist der Geber! Aber der zeitlich bedingte Unfall im Augenblick des Werdens all dessen, was ist, hat Menschenmaß. In diesem Sinne spiegelt die Schöpfung auch das Gesicht unseres Denkens und Handelns wider und fuhrt uns die Frage vor Augen: Was machen wir eigentlich aus der Schöpfung Gottes, unserem vorläufigen Zuhause?

So verstehe ich, bezogen auf die „gefährliche Kuh“, die „passive Christusabermalung im Vordergründigen“. Auf die ganze Schöpfung bezogen strahlt die Ewigkeit Gottes in Jesus Christus. In der Vergewaltigung der Schöpfung durch den Menschen, ob verursacht durch BSE oder Schweinepest, durch unberechenbare Genmanipulation, ABC-Waffen, bewusste kriegsleitende politische Fehlinformationen oder die Instrumentalisierung der Leiblichkeit des Menschen, die Begrenzung des menschlichen Lebenswertes oder ganz allgemein die Verabschiedung Gottes aus der Selbstreflexion des Menschen, ziehen die dunklen Wolken einer gefährlichen, „wahnbehafteten“ und irren Realität auf Das Gesicht Christi, sein Leib geschunden auch im Heute, in seiner vom Menschen gepeinigten Mitschöpfung. In der modernen Kunst auf den Punkt gebracht in dieser „Gefährliche(n) Kuh aus England“.

Enthüllung von I. Guber

Enthüllung von I. Guber, 40 x 60 cm Universalmalgrund, Acryl, Zellstoff, Kordel mit Knotungen, 1996, Privatbesitz.

Auf den ersten Blick erschließen sich dem Betrachtenden unter der Verhüllung des Bildes nur die Fragmente der Bemalung. Orange und gelbe Flächen primär im linken unteren Teil, im oberen und rechten Teil des Bildes dominieren Schwarzabstufungen unterbrochen von weißen Linienführungen. Gerade diese leichte, transparente Art der Verhüllung dient nicht primär dem Zweck des Verbergens, sondern sie will eine Aufforderung an den Betrachtenden sein, sich der durchschimmernden Bemalung intensiver zu widmen mit dem Ziel zu „entdecken“.

Dieser Aufforderung folgend, ist im dunkleren Bereich der Bemalung (Vordergrund) der Teil eines männlichen Körpers zu entdecken: Oberarm, Schultergelenk, Brust, eine Rippenpartie. Im unteren rechten Bereich ist ein nicht zu diesem Körper gehörender ausgestreckter Zeigefinger mit Daumen zu sehen. Der Zeigefinger zeigt zwar auch auf den Körper, aber auch an ihm vorbei auf die rotorangen und gelben Partien der Bemalung.

Wer sich diesen Hintergrundpartien genauer widmet, kann im gelben Bereich die Andeutung des Fragmentes einer Stadt erkennen, während die rotorange Fläche einen Teil dieser Stadt, von wenigen Lichtstrahlen abgesehen, zu verdecken scheint.

Nun könnte man sich von diesem Bild wieder abwenden, da man ja alles entdeckt hat, was die transparente Verhüllung zulässt. Zurück bliebe dann eventuell nur die Frage des Betrachtenden: Was will der Künstler mit seinem Werke eigentlich sagen? Diese Frage würde aber an dieser Stelle sicherlich nicht erstmalig gestellt. Der Künstler müsste sich diese Frage jedoch gefallen lassen, da er das Risiko eingegangen ist, ein Bild zu schaffen, das sich in seiner Verhüllung nur erschließen lässt auf dem Hintergrund eines Erzählereignisses.

Nur jene Menschen nämlich, die von der christlichen Botschaft etwas vernommen haben, die sich Christinnen und Christen nennen, oder Menschen, die darüber hinaus eine Beziehung zu diesem Christus, dem Sohn Gottes haben, können dieses Werk aufschlüsseln, aber auch sie können es nicht ganz entschlüsseln.

Die Intention dieses Bildes ist es, diejenigen zum Erzählen einzuladen, die auf dem Hintergrund ihres „Wissens“ oder Glaubens – bezogen auf das Leiden und die Auferstehung Jesu Christi – dieses Bild teilweise entschlüsseln können, um so zu Botschafterinnen und Botschaftern der christlichen Verkündigung zu werden.

Aber auch den faktisch Informierten bzw. den Glaubenden selbst will dieses Bild ansprechen. Es dient der Erinnerung, der Vergegenwärtigung des nur im Verborgenen zu habenden Ereignisses des Todes und der Auferstehung Christi.

Was hat der Tod Christi, was hat die unter diesem Kreuz auf uns zukommende himmlische Stadt mit der eigenen Biographie, mit unserem täglich neu geschenkten Leben zu tun? Leben wir wie Menschen, denen im Glauben die Augen neu geöffnet wurden und die nun durch den zerrissenen Vorhang hindurch mehr zu sehen, mehr zu spüren, mehr zu hoffen, mehr zu glauben gerufen sind? Könnte im Hören auf die Geschichte Jesu nicht auch der neu angesprochen und bewegt sein, der sich bisher nur mit der Distanz des Informiert-Seins zufrieden gegeben hat?

Der Zeigefinger in der unteren rechten Bildhälfte, der in der Fingerhaltung ein Pendant zum Finger von Johannes dem Täufer auf dem Isenheimer Altar von Meister Mathis Nithart bzw. Gothart (Matthias Grünewald) darstellt, bringt die primäre Intention dieses Bildes auf den Punkt: Was bedeutet dir dieser Christus im Verborgenen? Angesichts dieses Bildes kann der Betrachtende zum Erzählenden bzw. zum Zuhörenden werden, zu dem, der fragen möchte, bzw. zu einem, der von dem ihm Erzählten weitererzählt.

Dieses verhüllte Christusbild ist eine Einladung zur Interaktion, zur Kommunikation und so ein katechetisches Bild, das dem Zweck der Enthüllung des Todes und der Auferstehung Jesu in unsere Welt hinein dient. Dieses Bild, sein Thema, aber verbleibt auch weiterhin in der Verhüllung, da die Berührung des Menschen, die Berührung der ganzen Schöpfung durch Gott in Jesus Christus sein tiefstes Geheimnis erst dann preisgeben wird, wenn jenseits von Raum und Zeit Gott uns in sein für uns unzugängliches Licht führt. Dann werden wir; so mein Glaube und meine Hoffnung, das jetzt noch Verhüllte in neuem Licht erkennen.

Skizze ohne Titel von Ralf Commer

Skizze ohne Titel von Ralf Commer, 40 x 60 cm Öl, Kreide Papier Ostern,1996, Privatbesitz.

„Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater; ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.“ (Lk 23,44-4 6)

Der Künstler gab seiner Skizze keinen Titel. Jedoch das Motiv der Skizze in Verbindung mit dem christlichen Fest des Entstehungsdatums, Ostern 1996, weist eindeutig auf die Absicht des Künstlers hin, eine Kreuzigungsdarstellung zu skizzieren. Dass er sein Werk bewusst nicht als Kreuzigungsdarstellung deklarierte, macht die allgemeine Problematik von Darstellungen der Kreuzigung Jesu oder des Ostergeheimnisses deutlich. Kann die Kreuzigung Jesu in ihrer ganzen Realität, also ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung, die innertrinitarische Beziehung betreffend, die historischen Außenwirkungen berücksichtigend sowie die Reflexion des Ereignisses durch den Menschen integrierend überhaupt dargestellt werden? Die Antwort lautet nein; der Tod und die Auferstehung Jesu entziehen sich aller Abbildungskraft. In jedem Bildversuch dieser Art ist unumgänglich die Sollbruchstelle vorgegeben, zwischen Für-wahr-Nehmen und Glauben, zwischen Erkenntnis und Bekenntnis. Dem Künstler wird sein Werkzeug aus der Hand genommen.

Doch diese Skizze ist kein leeres Blatt. Sie stellt den Versuch der Annäherungen das letztlich nicht Abbildbare dar. Diese immer wieder neuen Versuche sind uns ja von Schaffenden aller Epochen in großartigen Werken hinterlassen. Die Konsequenz aus dem endgültigen Nicht-gelingen-Können sollte uns aber bewusst sein. Jedes Bild vom Tod und von der Auferstehung Jesu Christi suggeriert, dass es so „ausgesehen“ haben könnte. Diese Bilder; die in der Verabsolutierung ihrer selbst zu Irrbildern werden, sind in unseren Köpfen und wir sollten sie getrost „nur“ als Bilder der Annäherung an eine Wahrheit betrachten, die um ein Vielfaches größer ist als das, was wir anschauen.

Zurück zu der Skizze. Optischer Vordergrund ist die Gestalt eines gekreuzigten, fast stählern anmutenden Körpers, der aus der Perspektive des Betrachtenden von nichts gehalten zu sein scheint. Hinter dem Corpus deckt ein Vorhang fast die ganze Fläche des Bildes ab. Mit diesem mittelgrundigen Vorhang zerreißt in der horizontalen Bildmitte auch der Leib im Vordergrund. Mit dem Riss wird keilförmig ein Stück „enthäutetes Fleisch“ sichtbar; das nun im Gegensatz zu dem restlichen Leib nicht vor dem Vorhang, sondern auf der Ebene dahinter positioniert ist. Nochmals dahinter legt der Künstler mit seiner Blaupartie eine weitere Ebene an. Dieses Bild bedient sich unterschiedlicher; sich ineinander verschiebender Ebenen. Der Künstler ordnet dem „einen“ Ereignis diese unterschiedlichen Ebenen zu, um den Augenblick des Jetzt, den das Bild vordergründig vermittelt, in Momente der Ungleichzeitigkeit zu zersprengen.

Im Sterben Jesu zerreißt sein Leib. Aber es kommt nicht einfach das „unter der Haut“ zum Vorschein, das „Darunter“. Denn die rechte Rippenpartie reicht über die Rissstelle der Haut in das „Darunter“ hinein, ebenso in der Verlängerung der Oberlippe die Kinnpartie des Gesichtes. Hinter dem Riss, der durch den Kopf und den Oberkörper hinein bis in das primäre Geschlechtsmerkmal reicht, schraffiert der Künstler ein blaues Feld in den über den Kopf hinausgehenden offenen Bereich. Die Farbe Blau, Synonym der Hoffnung, signalisiert die christliche Erwartung, die Andeutung der Auferstehung der Toten. Wie der zerrissene Vorhang im Tempel den anderen Blick auf das Heilige eröffnet, so eröffnet uns der Tod Jesu ein in Raum und Zeit nicht zu bemessendes „Danach“. Doch dieses „Danach“ zieht eine tiefe Dimension unseres lebendigen heutigen Leibes an. Das „Darunter“ des Menschenleibes hat Anteil an dem „Danach“ der Auferstehung. Leibliche Auferstehung ist hier das hintergründige Thema, das sich schon im Vordergrund ankündigt. Unsere Leiblichkeit birgt einen unvergänglichen Leib, den uns der Schöpfer unter die vergängliche Haut gelegt hat, so lautet die Botschaft dieser Skizze.

Spüren wir ab und zu mitten in unserem Leben etwas von dieser anderen Leiblichkeit, die über unsere Vergänglichkeit hinausreicht? Am ehesten kann der Mensch ein wenig von dieser anderen Leiblichkeit spüren, wenn er von einer tiefen Liebe berührt ist, die mehr ist als nur der umgelegte Leib eines anderen Menschen.

Anmerkungen
1 Gottlieb Leinz, Die Malerei des 20. Jahrhunderts Erlangen 1990, 70.

Erschienen in: rhs Religionsunterricht an höheren Schulen 6/2003, S. 331-338.

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