Auf dem Aachener Rathausplatz, 1993
Wie soll ich Sie, wie sollen wir uns anreden, heute, anlässlich des 55. Jahrestages der Pogrome gegen Jüdinnen und Juden?
Ich habe mich für die Anrede entschieden, die das Wesentlichste, das Grundsätzlichste, das Verbindendste und das Zärtlichste beinhaltet, das allen hier zu eigen ist: Du Mensch!
Für mich klingt in diesen einfachen Worten uneingeschränkte Würde, Persönlichkeit, Individualität sowie Selbstverwirklichung, aber auch Sehnsucht nach Sinn, nach Gemeinschaft, nach Geborgenheit, nach Liebe, Sehnsucht, nach dem, was uns selbst noch einmal übersteigt, egal, wie wir es nennen wollen. Sie werden in dem Klang dieses Wortes „Du Mensch“ sich selbst erkennen und sagen: „selbstverständlich, ja, das bin auch ich.“
Sind das zu seichte Worte, das Selbstverständliche zu banal anlässlich des 55. Jahrestages der Pogrome gegen Jüdinnen und Juden? In dieser Nacht, in der auch die Synagoge von Aachen gebrannt hat? – Nein –
„Du Mensch“, ja das bin ich auch, selbstverständlich.
Tausende, Millionen von Menschen fühlten, spürten und wussten: Das bin ich auch.
Diesen Tausenden und Millionen von Menschen ist im Wahnsinn der NS Diktatur gerade das Selbstverständliche genommen worden, wegen ihres Glaubens, ihrer Volkszugehörigkeit, ihrer Meinung, ihrer Art zu leben. Menschen wurden verdächtigt, verfolgt, gefangen genommen, gefoltert, ermordet, tausendfach, millionenfach. Ein ganzes Volk, Jüdinnen und Juden, freigegeben zum Mord. Beraubt um das Selbstverständlichste. „Du Mensch“ ermordet. Hier in Deutschland und von Deutschen – nicht nur hier.
Ich mit meinen 36 Lebensjahren kann das nicht verstehen, doch es ist ein Teil auch meiner Geschichte, der Geschichte des deutschen Volkes und auch der Geschichte der christlichen Kirchen, in der zu dieser Zeit zu viele Christinnen und Christen zu lange geschwiegen und weggeschaut haben.
Doch ich kann und will den Augenblick nicht vergessen, an dem ich vor drei Jahren im KZ in Dachau stand, um den Barackenblock sehen zu wollen, in dem mein Familienmitglied mütterlicherseits, Christoph Hackethal, Priester, die letzten Stunden seines Lebens verbracht hat, bevor er ermordet wurde. Bei seinen Predigten saß die Gestapo stets in der letzten Reihe. Er hat nicht geschwiegen er wurde zum Schweigen gebracht. Er war nicht der einzige. Auch jene Frauen und Männer dürfen wir nicht vergessen, die nicht geschwiegen haben.
Und wieder finden wir hier in Deutschland Parolen wie Ausländer raus, Deutschland den Deutschen, werden Hakenkreuze an Wände geschmiert. Menschen werden in Deutschland wegen ihrer Hautfarbe, Nationalität oder Religion benachteiligt, angepöbelt, ausgegrenzt und verfolgt.
Menschen aus anderen Völkern und Nationen, die bei uns Zuflucht suchen, die das Selbstverständlichste bei uns erhoffen. Aus ihren Reihen wurden Menschen ermordet, verbrannt.
Es ist immer noch nicht in allen menschlichen Herzen und in allen Köpfen der Menschen verankert, dass dieses Land auch uns nur geliehen ist, es gehört nicht einfach einem Volk.
Ich bekenne mich zu meinem Glauben an Gott und freue mich dessen und das Bekenntnis zu Gott ist ein Bekenntnis zu dem Geschenk Mensch und ein Bekenntnis zu einer uns allen anvertrauten Erde, ein den Menschen geliehenes Land.
- Menschen, die verfolgt werden, müssen wissen, in diesem Land sind wir willkommen, sind wir sicher, zählt das Menschsein.
- Menschen anderer Völker und Nationen, die in diesem Land leben, haben das Recht, sich als politische, kulturelle, soziale, religiöse und individuelle Menschen einzubringen, wie Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch, auch auf dem selben Hintergrund uneingeschränkter Menschenwürde.
- Wir dürfen nicht vergessen: Jeder Mensch ist Reichtum und von unschätzbarem Wert!
- Eine Politik ist den Begriff „sozial“ nicht wert, wenn sie als notwendiges Übel in Kauf nimmt, dass immer mehr Menschen in die absolute Armut abrutschen.
- Wo Menschen in Gefahr sind, wo menschliches Leben bedroht ist, ist unser Aufschrei unverzichtbar, unsere Sorge für den Menschen gerufen, unser Handeln zutiefst aus unserem Menschsein heraus gefordert.
Politisches und gesellschaftliches Handeln hat ein unabdingbares Maß: den Dienst an allen Menschen, keinen Menschen zurücklassen könnend. Hierfür gilt es, die Stimme zu erheben, als Menschen, als Christen und Christinnen einzustehen, mit Würde für die Würde gerade zu stehen.
Gute Politik misst sich nicht am Reichtum einzelner, sondern am Wohlergehen aller.
Die Gesellschaft aller hier in Deutschland lebenden Menschen würde um vieles reicher, wenn nicht Quantität des Besitzens Ansehen steigern würde, sondern die Qualität der Menschlichkeit das Ansehen der Menschen bestimmen würde.
Jede Gruppierung, jeder Mensch, jeder Einzelne von uns ist aufgerufen, sich mit seinem eigenen Menschsein ernst zu nehmen, um so das Menschsein des anderen gleichermaßen ohne Angst zu schätzen und zu schützen. Denn nur so wird das Selbstverständliche uneingeschränkt wieder selbstverständlich:
„Du Mensch“, keine Ausnahme kennend.