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Heiligabend hinter erleuchteten Kneipenfenstern

Heiligabend durch die Straßen einer Stadt zu schlendern, hat etwas Eigenes. Auf Menschen treffe ich kaum, nur vereinzelt huschen sie durch die sich zur Nacht wandelnde Dämmerung, in Festtagskleidung und mit verpackten Präsenten in der Hand. Die Ampeln spielen ihr Farbenspiel allein, zu regeln gibt es um diese Zeit nichts. Auffallend wenige Fenster sind erleuchtet, pro Wohnung vielleicht so ein bis zwei, wenn überhaupt. Bunte Lichterketten und erleuchtete Sterne schmücken sie. Auf den Fensterbänken fast obligatorisch: der Weihnachtsstern und das Gesteck. Nur gedämpftes Flackern, hier und da gemischt mit dem kalten blauen Licht der Fernsehröhren, keine Stimmen, keine Musik dringen nach draußen. Aus den großen, bunten Kirchenfenstern flutet feierlich anmutende Atmosphäre in die leblosen Straßen.

Einige Meter vor mir geht langsam eine Tür auf, eine ältere Dame betritt zügig den Fußweg, ihr intensiv schnuppernder Hund marschiert zielstrebig zum nächsten Baum und: Beinchen hoch! So schnell, wie sie die Kneipe verließen, sind sie auch wieder in ihr verschwunden. Für Sekunden drängen Wortfetzen und leise Musik durch die sich schließende Tür auf die Straße, dann wieder Stille. Auf der Höhe der Kneipe zügele ich meinen Gang. Durch die leicht grün und gelb eingefärbten Butzenscheiben erkenne ich einige Frauen und Männer am Tresen und den Wirt, der, auf die Zapfsäule gestützt, mit einem seiner Gäste mit Händen und Füßen spricht. Im Weitergehen stelle ich mir die Frage: Warum haben ausgerechnet am Heiligen Abend diese Menschen eine Kneipe angesteuert? Wollen sie mit Weihnachten nichts am Hut haben? Gab es da niemanden, mit dem sie am heimischen Tannenbaum feiern könnten? Hatten sie Angst vor zuviel Gefühl und Stimmung, flüchteten sie vor der Erinnerung, oder war es die Angst vor der allmächtigen Einsamkeit, die kaum so entlarvend ist wie am Heiligen Abend?

Einmal um den Block gegangen, werden meine Schritte vor dem Kneipenfenster wieder langsamer. Meinem verstohlenen Blick in die Kneipe bietet sich dasselbe Bild wie eben, nur der Wirt ist jetzt in Funktion und zapft Bier. Noch langsamer gehen, hieße stehen bleiben. Soll ich reingehen? Mir fehlt noch der Mut. Diese Menschen könnten ja denken, ich hätte niemanden, der mit mir feiern wollte, könnte meine Einsamkeit nicht ertragen oder würde weglaufen vor zuviel Gefühlen. Noch einmal um den Block. Dann, mit einem kräftigen Ruck, öffne ich die Kneipentür, weniger hätte es auch getan, und gehe hinein, direkt an den Tresen. Die Köpfe der wenigen Kneipenbesucher drehen sich für einen Moment zu mir, um sich dann wieder einander zuzuwenden. Nur die weihnachtliche Musik im Hintergrund verhindert Sekunden absoluter Stille. Freundlich fragt mich der Wirt, was ich denn trinken wolle, und nach fünf Minuten lächelt mich ein Pils an. Etwas unsicher wandert mein Bild durch den Gastraum. Keiner der Tische ist besetzt, der hintere Teil des Raumes ist abgedunkelt, und ein richtiger Tannenbaum mit elektrischen Kerzen versucht sein bestes, um weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Neben der Toilettentüre trägt ein monströser Kleiderständer zum Ambiente des Raumes bei: Auf die Garderobe ist selbst zu achten. In dieser Kneipe würde es niemandem entgehen, wenn man auch nur einen der Mäntel länger als zwei Minuten angeschaut hätte. Ich konzentriere meinen Blick wieder auf die langsam einfallende Pilskrone vor meiner Nase.

„So Weihnachten mit richtig Schnee wäre ja auch wieder mal an der Zeit“, sagt der Wirt in meine Richtung. Ein anderer Gast hat schneller eine passende Frage zur Hand als ich: „Wann hatten wir eigentlich das letzte Mal weiße Weihnacht?“ Kaum am Gespräch beteiligt, bin ich auch schon wieder mit meinem Pils allein.

Keiner der Gäste schweigt. Eine Frau summt die Lieder von der CD mit, während der Mann neben ihr mit zwei anderen Gästen knobelt und sie einander die Augen der Würfel zurufen, mal mit einem Fluch versehen, mal mit einem siegessicheren Lachen. Andere unterhalten sich sehr intensiv, jedoch für mich kaum verständlich, da sie Platt sprechen. Eine Dame mir gegenüber liest ihrem Begleiter, der seine Hand auf ihre Schulter gelegt hat, aus dem Journal vor, das vor ihr liegt. Der Wirt hat über-haupt keine Mühe, sich neben dem Ausschank in jede Unterhaltung kompetent einzuklinken. Selbst mit dem Hund spricht er ab und zu, auch wenn er ihn nicht sehen kann, da dieser zu Füßen seines Frauchens schläft. Alles, was das Leben so hergibt, ist hier wohl Thema: der Krieg, die Kinder, die Steuerreform, die Baustelle gegenüber, die Weltranglistenerste der Tennisdamen, die neue Pommesbude um die Ecke, die eine oder andere Krankheit und Erinnerungen, wie alles und jedes irgendwann mal halt war, halt all das, was Leben so hergibt. Mir scheint, als fühlten sich diese Menschen hier wohl. Kaum etwas zu spüren von meiner vermuteten Einsamkeit dieser Menschen, der Verdrängung von Erinnerung oder sentimentaler Gefühle. Der einzige, der hier einsam ist, bin ich selbst, und ich werde das Gefühl nicht los, als stünde das mit großen Buchstaben auf meiner Stirn. Ich zücke meine Geldbörse, trinke den letzten Schluck, antworte auf die Frage des Wirts: „Nichts mehr?“ mit „Nein, danke“, zahle und verlasse diesen gastlichen Ort mit einem „Auf Wiedersehen“ auf den Lippen, worauf ich prompt vom Wirt und von einigen Gästen ein „Frohes Weihnachten“ ernte. Meinem letzten Blick durch das Fenster in die Kneipe bietet sich dasselbe Bild wie vor einer halben Stunde. Aus welchen Gründen sie gekommen sind, weiß ich auch jetzt nicht. Doch was sie hier tun, ist mir klar geworden, sie löschen ihren Durst nach Gemeinschaft.

Aus „Mit beiden Beinen auf der Erde“, Bergmoser + Höller Verlag, 1996.
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