Kraft aus der Erinnerung
Wie ein Blitz traf mich mitten im Sommer der Gedanke an den heiligen Abend meiner Kindheit.
Zum Mittagessen eingeladen, begrüßte mich an der Wohnungstür freundlich und herzlich die Gastgeberin und geleitete mich in ihre Wohnung. Diese äußerst sympathische Frau ging voran und führte mich zur Türe ihres Esszimmers. Mit den Worten „Treten Sie doch bitte ein“ berührte ihre grazile Hand den Türgriff aus poliertem Messing.
Genau in diesem Augenblick eröffnete sich mir eine ganz andere Welt, die Welt meiner Kindheit am Heiligen Abend.
Genau den gleichen Türgriff aus Messing auf einer weißen Türe mit vier grau gehaltenen Einlegearbeiten, ja, genau die selbe Türe trennte uns Kinder damals, zu Hause, in der Heiligen Nacht von dem, was Kinderaugen zum Glänzen bringt. Die Hand meiner Mutter war es, die diesen Messingtürgriff in der Heiligen Nacht bei uns damals berührte, nach dem von innen her ein kleines Glöckchen das große und mit Spannung erwartete Ereignis ankündigte.
Schon die Tage im Advent waren angefüllt mit Freude und Erwartung auf diesen einen Abend, der in seiner einzigartigen Stimmung kaum zu überbieten war, und von dem uns Kinder nun nur noch wenige Augenblicke trennten. Aus dem langsam sich entschleiernden Gabenzimmer drangen leise festliche Weihnachtsklänge an unsere Kinderohren, und von diesen Klängen getragen, die Erzählung von der Heiligen Nacht, in der Maria den Retter der Welt gebar. „Und im Himmel sangen Chöre, die priesen Gott und riefen: Ehre sei Gott in den Höhen und den Menschen ein Wohlgefallen, denn heute ist euch der Retter geboren, Jesus Christus, der Heiland der Welt!“
Ich zuckte ein wenig zusammen, als mich aus meiner Kinderwelt die freundlichen Worte meiner Gastgeberin in diese andere Gegenwart zurückholten: „Nun zögern Sie doch nicht, Herr Pfarrer, nehmen sie doch einfach Platz.“ Und weiter fragte Sie: „Woran denken Sie gerade, Sie waren doch ganz weit weg“.
„Ach, nichts Besonderes“ gab ich zur Antwort und wechselte schnell das Thema: „Diese Tafel haben Sie aber wunderschön gedeckt.“
Beim Verlassen der Wohnung fielen meine Blicke wieder auf diese Messinggriffe und wieder schlichen meine Gedanken in diesen Kindertraum von Lichtern durchflutet, und himmlischer Musik umgeben, dieser Traum vom Frieden, unserem Gott zum Berühren nahe, den Geschenken, dem Duft frischer Plätzchen und dieser Geborgenheit, die unsere Eltern uns schenkten und darin dieses Gefühl, Gott hat mich doch lieb!
Auch wenn ich meiner Gastgeberin meine Gedanken beim Betreten ihres Esszimmers nicht Preis gab, so fühlte ich mich trotzdem erwischt bei Ihrer Frage, was ich denken würde.
Ich fühlte mich erwischt, als erwachsener Mann mir noch solche weltfremden Gedanken machen zu können.
Wir sind doch aus unseren Kinderschuhen herausgewachsen, längst haben wir doch durchschaut, dass eine solche Heilige Nacht fern jeder Realität ist und nur noch im Reich der Kinder, wenn überhaupt, eine heilige, friedliche Nacht für Augenblicke zur Realität wird, in der Gott in einem kleinen Kind mit seiner unerschütterlichen Liebe die Welt berührt.
So etwas darf gerade noch in den Tagebüchern aus der eigenen Kindheit nachgelesen werden, um dann als netter Kinderkram abgetan zu werden. Aber auch diese so erwachsene Erkenntnis schmeckte mir nicht. Warum verbieten wir uns, den sogenannten Großen, Gedanken der Kindertage zu denken. Sicherlich ist der Friede einer Heiligen Nacht, wenn er denn überhaupt vorhanden ist, oft nur ein fauler Friede. Sicherlich ist es nur reines Gefühl, wenn frohe, festliche Weihnachtslieder uns in festlicher Stimmung wiegen. Selbst die heilige Botschaft dieser Nacht von der Geburt des Sohnes Gottes ist nur noch so viel Wert, wie die Bilanz des Einzelhandels vor den Feiertagen!
Ja, das mag ja alles stimmen, aber warum muss ich, um erwachsen zu sein, meine Sehnsucht nach einem Weihnachtsfest mit Kinderaugen gesehen aufgeben. Dürfen die Großen keine Sehnsucht nach Frieden, Geborgenheit und Liebe haben, die in der Weihnachtszeit in Kinderaugen für Augenblicke zum greifen Nahe ist? Es täte uns doch allen gut, würden wir, um die Krippe versammelt, staunen wie Gott in unserer Nähe sein möchte, in einem zerbrechlichen Kind. Es täte uns allen gut, Gott zu danken für das Leben, das er uns allen zum Geschenk gemacht hat, auch wenn wir selbst und oder die Gesellschaft etwas anderes daraus haben werden lassen als das, was Gott wollte.
Auch als sogenannter Erwachsener gebe ich meine Hoffnung nicht auf, im Weihnachtsfest etwas von dem spüren und feiern zu wollen, was meine Sehnsucht in mir wach hält, den Wunsch nach Frieden, Geborgenheit und Liebe, den Wunsch nach der Annahme meiner selbst, so wie Gott mich mir geschenkt hat, und diesen Gott selbst mitten unter uns, dem die himmlischen Chöre singen: „Gloria in Exelsis Deo!“
Ja, ich gebe diese Sehnsucht nicht auf, auch auf die Gefahr hin als träumendes Kind abgestempelt zu werden.
Sind denn Kinderträume eine Gefahr?
Ist das Christuskind und seine Botschaft denn eine Gefahr?
Ja, Kinderträume sind eine Gefahr für jene so genannten Erwachsenen, die ihren Hoffnungen und ihrer Sehnsucht nicht mehr trauen, dass die Geburt des Sohnes Gottes auch heute noch die Welt verändern könnte.
Die Feier der Weihnacht kann die Welt verändern, wenn immer mehr Menschen diesen Mut nicht aufgeben, der Sehnsucht, die auch dieses Weihnachten umgibt, eine Chance zu geben. Menschen die ihrer Erinnerung nichts mehr zutrauen, haben ihre Sehnsucht bereits verloren! Manchmal allerdings kann schon ein alter Türgriff eine Erinnerungen sein, die der Sehnsucht alter Kinderträume eine Zukunft geben kann.