Geprägt ist der Karfreitagsgottesdienst vom Erzählen und Hören der Passion, der Leidensgeschichte Jesu. Schon einmal, an einem Sonntag, wurde diese Leidensgeschichte Jesu erzählt. Am Palmsonntag war die Passion als Gesamtbild dessen zu verstehen, was Jesu auf seinem Weg zum Kreuzestod erwartete. In der darauffolgenden Woche werden die Einzelbilder dieses Gesamtbildes der Passion entfaltet. So steht heute das Kreuz, der Tod Jesu, im Mittelpunkt der Betrachtung. In dieser Feier unseres Glaubens wird in besonderer Weise deutlich, wie Erinnerung und Gegenwart ineinandergreifen. Wir erinnern uns des Leidensweges Jesu und seines Todes am Kreuz. Doch das ist nicht nur eine Rückschau, die Betrachtung dessen, was einmal war, sondern wir stellen dieses Ereignis der Leidensgeschichte des Sohnes Gottes voller Erwartung mitten in unser heutiges Leben, mitten in unsere Welt.
Wir tun das voll Hoffnung, weil wir um Ostern wissen. Weil Ostern schon geschehen ist. Weil wir um die Auferstehung Jesu wissen. Weil wir wissen, das Kreuz ist nicht das Ende des Weges Jesu, sondern das leere Grab. Weil wir wissen, Jesus hat den Tod besiegt. Weil wir wissen, durch den Tod hindurch ist Jesus auferstanden, und wir werden mit ihm auferstehen.
Jesus ging den Weg der Ablehnung, der Folterung, der Einsamkeit, der Verzweiflung und der Angst bis zu seinem Tod. Gott sprengte den Tod Jesu auf, und es kommt Leben in Sicht.
Dieses Leben ist auch für uns in Sichtweite gekommen. Dieses Leben steht am „Ende“ unseres Weges, am Ende der Gesamtbiographie unseres Lebens. Dieses Leben steht aber auch am Ende einer jeden einzelnen Facette unseres Lebens und Sterbens, die zusammen das Gesamt unserer je eigenen Biographie ausmachen.
Jesus ging seinen Weg für das Jetzt unseres Weges. Jesu Weg ist die zukunftsweisendste Aktualität für das Morgen unseres Lebens. Durch den Kreuzestod hindurch hat Jesus uns Heil gebracht, das Heil, das uns heil macht, nicht irgendwann, sondern schon jetzt.
So greifen Vergangenheit – Jesu Weg – und Gegenwart – Jesu Weg für uns – ineinander und hinaus in die Zukunft unseres Lebens, die schon begonnen hat. Deswegen steht Karfreitag das Kreuz im Mittelpunkt. Deswegen verehren wir das Kreuz am heutigen Tag besonders. Deswegen küssen wir es sogar! Das Kreuz bleibt brutal, ein Mordinstrument, Garant für grausame Tode. Das Kreuz steht auch heute mitten in unserer Welt für Tod, Folter, Verfolgung, Einsamkeit, Angst, Vergewaltigung, Rufmord, Verzweiflung, Not und Hoffnungslosigkeit.
Das Kreuz steht auch heute mitten in unserer Welt für all das, was menschenverachtend Leben am Leben hindert. Dieses brutale Kreuz steht in unserer Welt an vielen Orten, steht zwischen Menschen ungezählte Male, und es steht auch in unserem Leben! Es ist real, es ist da! Menschen richten diese Kreuze auf. Gott hat kein Kreuz aufgerichtet, sondern die Macht und Ohnmacht des Kreuzes entmachtet in dem Weg Jesu an dieses Kreuz. Gott hält jeden Augenblick dieser Welt den Kreuzen zärtlich das Leben entgegen! So ist der Karfreitag ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag der Trauer, die einen Trost kennt und keine Vertröstung.