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Die Gegnerin von Unrecht und Schuld

Die Rentnerinnen und Rentner, die in diesem Monat trotz der steigenden Lebenshaltungskosten den selben Rentenbetrag wie im Vorjahr überwiesen bekamen oder gar weniger, sind gehalten, den Worten Jesu folgend, den Bundesfinanzminister zu lieben. Jeder Kassenpatient, der die quartalsmäßige Einlassgebühr für den Praxisbesuch hinblättern muss, möge trotzdem die Bundesgesundheitsministerin lieben. Jene Arbeitslosen, die ihren Job verloren haben, damit andere Arbeitsplätze erhalten bleiben, müssen diejenigen lieben, die ihren Job behalten konnten, beziehungsweise diejenigen, die die Firmen heruntergewirtschaftet haben. Die Kleinanleger müssen den Vorstand einer nicht näher genannten Bausparkasse lieben, obwohl diese seine Kunden gerade erst über den Tisch gezogen hat.

Das klingt komisch, aber auf die aktuelle Tagespolitik bezogen ist das die konsequente Umsetzungen der Forderungen Jesu: „Dem, der dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gibt jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlange es nicht zurück.“

Viele Menschen fühlen sich von der Politik und den Politikern betrogen. Immer wieder hört man die Menschen sagen: Diese Politik ist doch ein Schlag ins Gesicht der kleinen Leute. Die da oben ziehen einem noch das letzte Hemd aus. Der kleine Mann auf der Straße muss wieder einmal die Zeche zahlen.

Wut und Unverständnis sind da oft berechtigt, zumal wenn die obersten Etagen des Managements einiger Industriekonzerne Abfindungen in Millionenhöhe für angemessen halten, oder wenn Politiker nach wenigen Dienstjahren Ruhestandgehäher beziehen, von denen „Otto Normalverbraucher“ nur träumen kann. Solcher Verärgerung, egal von wem verursacht, hält Jesus seine Forderung entgegen: „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür?“

Meint Jesus das wirklich so? Oder versteht er seine Forderung viel unmittelbarer, bezogen auf alltäglichen Kontakt der Menschen. Dann wäre der liebenswert, der die Hiobsbotschaft eines maschinell erstellten Rentenbescheid verschickt, oder die Arzthelferin, die mich freundlich um die zehn Euro bittet, oder der Sachbearbeiter, der dem Kunden die faule Immobilie im Namen seiner Bank aufgeschwatzt hat. Die, die mir eine schlechte Botschaft überbringen, wären dann jene, die Jesus mich auffordert zu lieben. Aber auch das klingt nicht wirklich überzeugend.

Oder meint Jesus eher den Mitmenschen, der aus meinem Vorgarten die ersten Frühlingsboten klaut, muffelig an mir vorbei geht und sich dann noch in der Warteschlange vordrängt? Sind sie es, die ich fragen soll, ob ich ihnen noch anders helfen könne? Welch Ironie!

Fazit: Diesem Evangelium können wir dem Wortlaut folgend heute nicht mehr ganz gerecht werden. Die Welt ist komplexer geworden, als Jesus sich das damals vorstellen konnte, und sie differenziert sich weiter aus. Die Schuldigen sind heute nicht immer eindeutig auszumachen. Sachzwänge, strukturelle Gegebenheiten und komplexe Organisationen verstellen oft den Blick auf die wirklich Verantwortlichen, und somit auf die potenziell Schuldigen. Andererseits müssen Schuldige benannt werden, um den Menschen vor weiterem Unheil zu schützen.

Trotzdem vermittelt dieses Evangelium eine befreiende Botschaft, die aber nur zwischen den Zeilen spürbar zu lesen ist. Ihr Kern: Rache und Vergeltung im Kleinen – „Das zahle ich dir heim“ – wie im Großen – „Gegen dich führe ich Krieg“ – gebären nur Unrecht und Schuld, gefangen in Ausweglosigkeit; Unrecht und Schuld aber haben nur ein wirklich machtvolles Gegenüber: Die Liebe!

Erschienen in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 22.2.2004
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