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Erfahrung aus der Gefängnisseelsorge

Spätfolgen mit Grauzone

Dieser Disco-Besuch veränderte sein Leben wie kein anderes Ereignis. Doch, der zufällige Besuch zur selben Zeit in derselben Disco kostete eine junge Frau das Leben. Opfer und Mörder wollten an diesem Abend ein wenig Spaß haben, ein Abend, der in eine menschliche Katastrophe führte.

Gerade mal fünf Tage verfügte ich über die Allmacht des Zellenschlüssels und noch immer zögerte ich ein wenig, bevor ich ihn zweimal umdrehend die Zellentür öffnete. Viel wusste ich nicht über diesen Inhaftierten, ein paar spärliche Informationen aus der Staatsanwaltschaft und das, was man im Bau so erzählte. Ich stellte mich vor und das erste, was er sagte war: „Über mich werden Sie ja alles wissen!“ „Wenn es über Sie nicht mehr zu sagen gibt, als dass Sie wegen Mordes angeklagt sind, dann haben Sie Recht“, so meine Antwort. Er reichte mir seine Hand und in diesem Augenblick, als unsere Hände sich berührten, war mir klar, ich spürte eine Hand, die einen Menschen erwürgt hat.

Die Knastseelsorge ist für jeden Neuzugang ein guter Tipp an Tabak oder auch Kaffee heranzukommen.

Die Bitte um ein Gespräch plus Tabak, schriftlich von einem Justizbeamten mir überbracht, führte mich an diesem, Morgen in die Zelle 625 in Haus 3. Aus einem Neuzugang wurde mehr als eine dürftige Aktenmappe. Aus einer ersten Begegnung wurde mehr als der Händedruck eines Mörders. Andreas (Name geändert) hatte noch nicht begriffen, dass er einen Menschen getötet hat. Die Sachlage war auch ihm klar, die Beweislast eindeutig, er hatte die Tat sogar gestanden, aber trotzdem zeigte er mir immer wieder seine Hände und fragte sich, mich und seine Kindheit: „Diese Hände gehören doch nicht mir?“ Meine Aufgabe war es, respektvoll und klar sein Denken und Fühlen zu begleiten und jeden Selbstbetrug in seiner Wahrnehmung zu enttarnen. Um dies zu können, um überhaupt akzeptiert zu werden, reicht es nicht aus, über die Allmacht eines Zellenschlüssels zu verfügen. Ich musste mich ihm gegenüber selbst aufschließen und so wurde auch ich verletzlich. Die Möglichkeit, von Andreas verletzt werden zu können und umgekehrt, war die Grundlage vieler oft an die Substanz gehender Gespräche. Dann aber brauchten Sie nicht mehr das Thema Gott im Gespräch einzubauen. Der wird oder macht sich dann zwangsläufig zum Thema.

Einen Inhaftierten so intensiv im Spannungsfeld zwischen Selbstannahme und Selbstmord, Gottessuche und Gottesflucht, Kommunikation und innerer Immigration zu begleiten, ist eher die Ausnahme, weil gar nicht leistbar, da das Zahlenverhältnis zwischen Seelsorger und Seelsorgerin sowie Inhaftierten im Knast unausgewogen ist. Darüber hinaus ist eine solche Begleitung auch für die Seelsorger eine hohe Belastung. Man muss sich aber auch im Klaren darüber sein, dass vielen Inhaftierten Tabak und ein lockeres Gespräch zwischen Tür und Angel reichen.

Spätfolgen

Circa sechs Jahre später, meine Zeit im Bau war schon längst abgelaufen, klingelte es nachts an meiner Haustüre. Andreas bat um ein Gespräch und brachte sein Problem auf den Punkt. Im halboffenen Vollzug sei er getürmt und nun auf der Flucht. Jetzt hatte ich auch ein Problem. Mir war klar, ich musste die Polizei benachrichtigen, hätte damit aber auch die Chance vertan, ihn zur freiwilligen Rückkehr zu bewegen. Dieses Gespräch dauerte die ganze Nacht, und morgens so gegen 8:00 Uhr brach er auf mit den Worten er würde jetzt an die Grenze fahren. Würde ich nun die Polizei benachrichtigen, hätte ich einen Erklärungsnotstand. Mir blieb nur auf die Wirkung meiner Worte zu hoffen.

20 Stunden später rief mich ein Justizbeamter an. Auf Wunsch von Andreas teilte er mir mit, Andreas habe sich gestellt.

Aus der Reihe „Religion betrifft uns“, Ausgabe 2/2000, „Strafvollzug“, Bergmoser + Höller Verlag.
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