Eine Kooperation zwischen der Katholischen Hochschulgemeinde Aachen (KHG) und der Aachener Domschatzkammer
Sie trauten ihrem Talent, die mittelalterlichen Gold- und Silberschmiede sowie die heute oft namenlosen Maler, Steinmetze und Meister textiler Gestaltung jener Epoche.
Durch den notwendigen Broterwerb getrieben und motiviert von ihrer religiösen Ergriffenheit, die ihr Handwerk – so wie wir es heute betrachten dürfen – zu veredeln in der Lage war, überzeugten diese Handwerker‘ die reichen und mächtigen Persönlichkeiten ihrer Zeit davon, dass sie die wirklich Begnadeten seien, die zum Lobe Gottes und derer, die daran partizipieren wollten, mit Edelmetall, Edelstein, Farbe, Pinselführung, Stein und Faden Unvergängliches zu schaffen in der Lage waren.
Der Besucher im Angesicht des Schatzes
Heute gehören die von ihnen geschaffenen und uns erhaltenen Meisterwerke, aufbewahrt und konserviert im Aachener Dom und seiner Schatzkammer, zum bedeutendsten mittelalterlichen Kirchenschatz nördlich der Alpen, und sie dürfen zum Weltkulturerbe gezählt werden.
Dieses kunsthistorische Erbe gesehen zu haben, ist nicht nur für Fachleute ein Muss.
So betreten jährlich ca. 1 Million Menschen die hohe Domkirche. Etwa 300.000 Besucherinnen und Besucher der Kaiserstadt werfen einen Blick auf den außergewöhnlich präsentierten mittelalterlichen Nachlass in der Schatzkammer des Domes.
Viele dieser Interessierten überlassen sich bewusst sich selbst bei dem Versuch, die historischen Zeugnisse zu erschließen, als freiwillige Autodidakten, und schlendern, von optischen Reizen geleitet, durch die Schatzkammer und den Dom in der Gewissheit, aufgrund irgend einer allen Menschen innewohnenden Eigenkompetenz nichts Wesentliches wirklich verpassen zu können. Andere, oft partiell sachkundigere Zeitgenossen vertrauen sich lieber einem der kunsthistorisch geschulten Führer an, die live und nicht aus der Konserve Wissenswertes über den Schatz und seine Hintergründe in freundlicher Kommunikation vermitteln. So betrachtet unterschiedlich intensiv der Tourist sein Gegenüber, den Aachenschatz. Dem geführten Besucher werden Informationen auf kleinen Schrifttafeln an den Vitrinen präsentiert. So wird das Entstehungsjahr und der Titel des Exponates verraten, dazu noch einige kunsthistorische Daten aus heutiger Sicht sowie Angaben über das damalige gesellschaftliche Umfeld der Ausstellungsstücke angedient. Grundsätzlich aber ist davon auszugehen, dass der Besucher lediglich die Außenansicht der Exponate in den Blick nimmt, im Sinne einer Draufsicht!
Heute ein Schatz, aber gestern ein geschätzter Funktionsgegenstand
Hier darf die Tatsache nicht übersehen werden, dass keines der heute unter musealen Bedingungen ausgestellten Kleinodien mittelalterlichen Handwerks jemals dazu geschaffen wurde, hinter Glas den Blicken heutiger Betrachter dargeboten zu werden.
Was heute, bei konstanter Temperatur aufgehoben, gelangweilt oder begeistert angeschaut werden darf, waren ursprünglich keine Kunstwerke, sondern von besonders begabten Handwerkern gestaltete Gegenstände, die in erster Linie für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren. Ihre außergewöhnliche und aufwändige Gestaltung lag nicht in dem Bestreben der Schaffenden, von ihrer Nachwelt Künstler genannt zu werden, sondern in der Tatsache, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dem gerecht zu werden, der erstes Ziel allen liturgischen Handelns war und ist: Der verehrenswürdige Gott, der von ihnen als ein anwesender und somit für ihre Existenz lebensrelevanter Gott erfahren wurde.
Diese Gegenstände des Kultus hatten hinweisende, erzählende, bergende und dienende Funktionen. Eine Monstranz z.B. diente während einer Prozession dazu, auf das Zentrum des christlichen Eucharistieverständnisses, die Gegenwart Jesu Christi im eucharistischen Brot, hinzuweisen. Die Karlsbüste dient im Sinne der mittelalterlichen Reliquienverehrung der Begegnung mit dem verstorbenen und lokal als Heiligen verehrten Kaiser Karl. Ein Retabel, der Aachenaltar, hatte die Funktion, den Gottesdienstbesuchern der damaligen Zeit im Verlauf einer sprachlich oft nicht nachzuvollziehenden Liturgie das Mysterium des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi im Bild zu vergegenwärtigen.
So dienten diese Gegenstände nicht nur der religiösen Sinnorientierung unserer Vorfahren, sondern sie waren hinweisende Zeichen, vergewissernde Anschauungsobjekte, Schmuck für das nicht Fassbare und Blickfang für das Verehrungswürdige. Diese Gegenstände verwiesen auf den Horizont der Antwortfindung der damaligen Menschen, bezogen auf ihre existenziellen Sinnfragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, die Bedeutung von Leid, Schmerz und Liebe und nicht zuletzt auf die Frage nach der ewigen Wahrheit.
Heute wird der Schatz fast ausschließlich unter kunsthistorischen Aspekten Interessierten erschlossen, aber seine Funktions- und Bedeutungsgeschichte sowie die dahinter liegende religiöse und lebensrelevante Intention bleiben den meisten Besuchern verschlossen.
Darf dieser Schatz mehr bewirken, als ihm anzusehen ist?
Viele der Touristen, so wird angenommen, scheint das, was über den kunsthistorischen Aspekt des Schatzes hinausgeht, nicht zu interessieren.
Aber sollte es nicht das aktuelle Interesse der Hüter dieses Schatzes sein, für die damalige Intention des wertvollen Erbes die heutigen Besucher zu interessieren? Wäre es nicht klug, die Domschatzkammer darüber hinaus auch zu einem Ort zu machen, an dem die existenziellen Fragen der Menschen heute ernst genommen werden, Fragen, z.B. nach dem Sinn und dem Ziel des Lebens, nach Gemeinschaft, Liebe, Leid und Vergänglichkeit im Sinne eines möglichen Horizontes von Antworten gestellt werden dürfen? Denen also, die vordergründig kein Interesse zeigen, weil sie ja auch nicht wissen, woran sie Interesse haben sollen, die Chance anzubieten mehr zu erfahren und zu erspüren, als sie auf den ersten Blick entdecken können?
Sicherlich kann der Schatz aus sich heraus und ohne Zugangshilfe nicht mehr erzählen, als an ihm abzulesen ist. Ebenso normal scheint es zu sein, dass die Betrachter, ohne die Möglichkeit biographischer Anknüpfungspunkte mit ihren Augen nur anschauen, um dann das Gesehene nach Maßgabe eigenen Wissens und Beurteilens entsprechend einzuordnen. Der Erfolg solcher „Begegnung“ macht sich oft in spontanen Aussagen Luft wie „welch ein historischer Genuss“ bis hin zu „wat‘ ne Menge glänzendes Blech“
Grundsätzlich ist hier überhaupt zu fragen, ob es von den Verantwortungsträgern mit Blick auf die Besucher gewollt ist, mehr mit den Exponaten einer Schatzkammer zu bewirken, als dass sie kunsthistorisch eingeordnet werden. Es wird immer Fachleute“ geben, die es für einzig erstrebenswert halten, dass die Betrachter als Unbeteiligte einfach auf das Exponat schauen, im Optimalfall verzückt seine Historie rühmen und das Geschick der längst verblichenen Hände derer, die es geschaffen haben, um dann beruhigt weiter zu gehen in der Gewissheit, wieder aus einer kulturellen Bonbonniere genascht zu haben. Zwar mag so der Kunsthistorie Genüge getan sein, nicht aber der ursprünglichen Intention des betrachteten Objektes und auch nicht seiner Möglichkeit, eine Chance zu sein bezogen auf die Deutung des Lebens der Menschen heute.
Menschen, die in einer sich ständig beschleunigenden Zeit Orientierung suchen, brauchen in einer säkularisierten Gesellschaft Orte, die frei sind von aufdringlichen Ideologien, an denen es möglich ist, sich über ihre wesentlichen Fragen vergewissern zu können, deren zumindest fragmentarische Beantwortung eine Lebensqualität darstellt.
Ein solcher Ort kann eine Domschatzkammer sein. Der Schatz beantwortet zwar die Fragen des Menschen nach Sinn nicht, er kann aber Ausgangspunkt einer Antwortsuche sein. Darüber hinaus brauchen wir dem Aachener Schatz auch nicht zu unterstellen, dass er sich seines religiösen Ursprungs wegen „schämen“ würde. Von daher müssen auch wir uns nicht der eigenen Erkenntnis schämen, dass der christliche Glaube durchaus in der Lage ist, so mancher existentiellen Frage der Menschen heute eine Perspektive zu geben. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich der Meinung bin, eine Domschatzkammer müsse zu einem christlichen Missionsgebiet erklärt werden mit dem Ziel, möglichst viele ihrer Besucher vom christlichen Glauben zu überzeugen um so das Kirchensteueraufkommen ein wenig aufzupäppeln. Dies wäre ein eklatanter Trugschluss.
„Kunsthistorie, die fesselt … Theologie, die berührt …“
Dem oben genannten Anliegen Geltung zu verleihen, war der Grund für eine bis heute andauernde Veranstaltungsreihe, welche die Katholische Hochschulgemeinde Aachen in Kooperation mit der Aachener Domschatzkammer erstmals im Sommersemester 2000 unter dem Obertitel startete: „Theologie im Gespräch“. Diese eher unverfängliche Überschrift spitzten wir mit Blick auf die im Sommer 2000 stattfindende Aachener Heiligtumsfahrt zu mit dem neuen Titel „Glaube provoziert“. Bei der ersten Teilveranstaltung stellten wir das Lotharkreuz und bei der zweiten die Aachener Heiligtümer in den Mittelpunkt der kunsthistorischen, theologischen und lebensrelevanten Auseinandersetzung. Hier sollte es eben nicht um staubtrockene Theologie und keimfreie historische Einordnung gehen, sondern um den Versuch, in der Begegnung mit dem kunsthistorischen Objekt und seiner kritisch-theologischen Deutung die Teilnehmer in ihren eigenen Biographien anzusprechen. So kann es gelingen, aus heutiger Sicht kunsthistorische Zeugen der Vergangenheit davor zu bewahren, nur wertvoll und interessant zu sein, aber nicht lebensrelevant.
Dass das gelingt, zeigte das Gespräch im Anschluss an die Betrachtung des Lotharkreuzes in oben genannter Intention, als ca. 20 Studierende im Quadrum des Domes bei sommerlichen Temperaturen um die Ampel des alten Kapitelfriedhofes versammelt waren und eine Studentin engagiert feststellte: „Dieses Kreuz hat etwas mit dem Tod meines Babys zu tun!“ Solche Betroffenheit sollte kein Einzelfall bleiben.
Dr. Georg Minkenberg, Leiter der Domschatzkammer Aachen, und ich spürten so, auf einem den Kunstwerken und den Betrachtenden entsprechenderen Weg zu sein, und wir widmeten uns in den folgenden Semestern unter anderem nachfolgenden Themen und Exponaten:
- „Abbilder einer Hoffnung – Einblicke ins Jenseits“, der Proserpina-Sarkophag und die Karls-Büste.
- „Maria von Magdala – Eine Provokation, die eine Gesellschaft an ihre Grenzen führt“, die Darstellungen der Maria von Magdala auf den Altarretabeln.
- „Engel mit unterschiedlichen Gesichtern – Projektionen der Gottesbilder ‚ihrer‘ Zeit“, die Engeldarstellungen im Aachener Dom.
- „Glaube zwischen Wissenschaft und Anbetung“, der Georgs-Altar.
- „Leben in Gemeinschaft zwischen Vision und Scheitern“, die Architektur der alten Kapitelanlage.
- „Handschriften, ein Lebensgefühl – Zeugnisse vergangener Lebensart“, die historische Kapitelbibliothek.
- „Spuren des Islams“, die Zeugnisse dieser Weltreligion im Aachener Weltkulturerbe.
Doch sollte es nicht nur bei dieser Themenreihe bleiben, die schon im Sommersemester 2001 einen neuen Obertitel erhielt, „Kunsthistorie, die fesselt Theologie, die berührt“, um klarer zu signalisieren, dass wir die Besucher immer stärker zu Beteiligten machen wollen.
Aktion „Nacht Schatz“ in der Domschatzkammer
Vom Engagement einiger Domführer mitgetragen – im Regelfall sind das Studierende der Hochschulen Aachens -, setzten wir in dieser bewährten Kooperation einen neuen Akzent, Anlass war ein besonderer Tag für Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen der Heiligtumsfahrt des Jubiläumsjahres 2000. Wir gaben diesem einmaligen Datum, bezogen auf die nächtliche Veranstaltungszeit und den Ort, den Titel „Nacht Schatz“:
Über 600 Besucherinnen und Besucher erlebten in den späten Stunden dieses Tages die Aachener Domschatzkammer nicht nur in einem anderen Licht, sondern die so manchem Aachener altvertrauten Exponate wurden mit Akzentuierungen versehen, die über die kunsthistorische Bedeutung hinaus eine Anregung darstellten, sich als Besucher intensiver mit den Stücken auseinanderzusetzen.
Die „sprechende“ Karlbüste
Als erstes begrüßte die Besucher in dieser Nacht eine „sprechende“ Karlsbüste. Vor der bekannten Karlsbüste stellten wir unübersehbar einen CD-Player auf und programmierten ihn auf Endloswiedergabe. Hier ein Auszug aus der kaiserlichen“ Ansprache:
„… Ganz nebenbei bemerkt, die Krone, die ich heute trage, ist später entstanden als mein Kopf, so um 1349.
Manchmal fragt man mich: Warum gibt es dich eigentlich? Also, das ist gar nicht so leicht zu erklären! Versuchen wir es mal so!
Wenn Sie jetzt alle so ungefähr 2,50 Meter groß wären oder ein kleines Leiterchen zur Hand hätten, dann könnten Sie mir mal auf’s Haupt schauen und würden eine interessante Entdeckung machen!
Da ist nämlich ein runder Deckel und darunter ist die Schädeldecke Karls des Großen zu sehen.
Aber langsam, ich muss etwas weiter vorne anfangen.Im 12. Jahrhundert wurde das Grab Karls geöffnet und ein Teil seiner Gebeine in den prächtigen Karlsschrein gelegt, der heute im Dom steht. Zugegeben, die Gebeine Karls wurden ganz schön verteilt, eine ganze Menge blieb in Aachen, ein paar Knochen kamen in Kirchenkammern nach Paris und noch an andere Orte.
Der Grund dafür: Karl war auch noch nach seinem Tod ein wichtiger Mann, den man nicht vergessen wollte. Einige verehrten ihn als Heiligen! Das tun auch heute noch viele Menschen hier in Aachen. Dabei ist Karl gar kein richtiger Heiliger, denn an seinem Todestag feiert niemand Namenstag – so wie das bei anderen Heiligen der Fall ist. Aber das wissen Sie ja bestimmt, oder?
Kennen Sie eigentlich ihren Namenspatron, wenn ich das einfach mal so fragen darf? Was halten Sie davon, mal etwas über ihren eigenen Namenspatron nachzulesen, wie er gelebt hat, was er leistete und wie er gestorben ist, das ist oft sehr interessant.
Pardon, ich schweife wieder ab, nehmen Sie es mir bitte nicht übel.
Also, noch mal zurück zu der Frage, warum die Knochen von Karl dem Großen so wichtig für viele Menschen sind! Da ist etwas geschehen, das Sie selbst wohl auch kennen. Es geht Ihnen doch auch manchmal so? Ein ganz, ganz lieber Mensch hat Ihnen eine Rose geschenkt oder einen liebevollen Brief geschrieben. Auch wenn dieser Mensch nicht mehr für Sie zu erreichen ist und gerade dann, heben Sie diesen Brief an einem ganz besonderen Ort auf, und die Rose wird gepresst, bevor sie ganz vergeht, und dann in eine schöne Schachtel gelegt, ins Tagebuch oder an einen für Sie etwas heiligen Ort! Sie kennen das doch auch, oder?Und so ähnlich ist das mit den Reliquien von Karl! An ganz vielen Orten wollte man ihn ganz nahe spüren. Deswegen war man an seinen sterblichen Überresten sehr interessiert …“
Soviel aus den „Plaudereien“ der Karlsbüste in dieser Nacht, die den Zuhörern unter anderem die Gelegenheit gab, die Bedeutung dieser Büste in Verbindung zu bringen mit dem Umgang mit den eigenen „modernen“ Heiligtümern. Gehen wir aber nun einige Schritte weiter.
Plutos Raub der Liebe aktuell
Schweigsamer war es am Proserpina-Sarkophag, der mutmaßlich ersten Grablege Kaiser Karls. Wir leuchteten nur eine Szene des antiken Bilderzyklus aus, das Gesicht der geraubten Proserpina und das Gesicht des sie stehlenden Pluto. Hinter diese Szene auf seidig schimmerndem Tuch lud folgender Text ein, mehr zu spüren, als zu sehen war:
Hinter uns dieser Augen-Blick zum Tod
Gier
leerte seinen Blick
zerrte mit habsüchtigem Griff schon fliehend
an sich
was Ohnmacht zerbrach in Ergebung
und kein Mund je flüstern wirdWie kannst du Liebe
stehlen, an dich reißen, gar erzwingenNur zu hoffen ist dir geschenkt
ob Liebe träumend dir
sich zuflüstern magDiese steinernen Augen sind eben, alt
ihre brutale Armut gleich, alltäglichSkandal des Lebens in den Tod
Dich einzig
der Liebe Flüstern
wecken kann
So wurden an verschiedenen Orten in der Domschatzkammer unter Zuhilfenahme von Rauminstallationen die mittelalterlichen Exponate in einen aktuellen, lebensrelevanten Kontext gestellt. Der Raum, in dem u.a. der Aachenaltar und die Monstranz des Hans von Reutlingen ausgestellt sind, bereichert in deren Mitte um einen schlicht gedeckten Tisch mit acht Stühlen, lud ein, über das Thema beschenkte Gemeinschaft“ nachzudenken. Im Marienraum setzte ein Fries von über 100 Frauenbildern in unterschiedlichen Lebenssituationen die verschiedenen Darstellungen der Lebenssituationen der Gottesmutter fort. Im Reliquienraum, der unter anderem die kleinen“ Aachener Heiligtümer birgt, konnten durch eine Vitrine hindurch, in die wir ungefasste Knochenreliquien gelegt hatten, stetig wechselnde Bilder pulsierenden Lebens heutiger Menschen betrachtet werden. Der hier angesprochene Impuls bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.
Die Ausstellung „Schatzansichten“
Nicht ganz ein Jahr später lud die Ausstellung „Schatzansichten“ in die Schatzkammer ein. Diese Kooperation zwischen der Domschatzkammer und der KHG sollte die bisher gemachten guten Erfahrungen zu einem neuen Höhepunkt führen. Im Grußwort der die Ausstellung begleitenden Buchveröffentlichung schreiben der Bischof von Aachen, Dr. Heinrich Mussinghoff, und der Aachener Dompropst, Dr. Hans Müllejans:
„Der Dom und sein Schatz haben ihren tiefsten Sinn nicht in der Bewunderung, sondern in der Verkündigung des Wortes Gottes: Gottes Wort in Menschen Wort und Gottes Wort in dieser Kunst. Die Botschaft jener Verkündigung auf eine Kurzformel gebracht heißt: Du, Mensch, darfst Gott an deiner Seite wissen und hast mit Ihm eine Zukunft über all dein Stolpern hinaus, selbst über jenen letzten Sturz, den in den Tod. Der Verkündigung dieser Botschaft dient auch die vorliegende Veröffentlichung des Aachener Hochschulpfarrers Christoph Stender.
Getragen von dem Glauben an die unverdunkelbare Liebe Gottes, das Geschenk des Lebens, so wie jeder Mensch es in sich spürt, und von seiner Sympathie für die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche, gestaltet Pfarrer Stender ins Wort, was diese Schätze, was der Dom selbst nicht nur Christinnen und Christen verkünden will: Die Botschaft Gottes, an unserer Seite zu sein, da er will, dass das Leben eines jeden Menschen gelingen möge …“
Die Autoren dieses Grußwortes schließen: „… So wünschen wir uns, dass diese ‚Schatz Ansichten‘ dazu beitragen, die Betrachterinnen und Betrachter in der Hoffnung zu stärken, dass uns der Gott der Liebe nicht allein lässt, auch wenn wir uns manchmal fragen: Gott mein Gott, warum glaube ich mich so verlassen?“1
Schon dieses Grußwort machte deutlich, dass für die Zeit dieser Ausstellung das Vorzeichen der musealen Konzeption dieser Schatzkammer wesentlich erweitert werden würde. Zu dem historischen Schatz trat nun ein Bekenntnis. Dieses Bekenntnis zum Glauben an Gott und zur Liebe am Leben sollte den historischen Schatz aber nicht in den Schatten stellen. Der Schatz blieb der Vordergrund, das Bekenntnis bildete den Hintergrund. Es ging hier auch nicht darum, die Besucher dieser Ausstellung zu missionieren. Ziel der Ausstellung war es, bei Menschen anzuklopfen mit der Bitte, über den Blick auf den Domschatz hinaus sich selbst in den Blick zu nehmen. Die Brücke, über die der Besucher eingeladen war, vom klassischen Exponat ausgehend, bei sich selber anzukommen, bildeten lyrische Texte. Diese wurden durch moderne Medien und andere ansprechende Präsentationstechniken den Besuchern vor Augen geführt. (Einen optischen Eindruck dieser Ausstellung vermittelt die Homepage www.christoph-stender.de unter der Rubrik Projekte/Schatzansichten.)
Lyrik jenseits von richtig und falsch
Was ist das Maß einer solchen Lyrik, die in dieser Ausstellung präsentiert wurde? Das Maß, mit dem Lyrik zu messen ist, findet sich nicht in den Wertungen richtig oder falsch. Diese Kategorien richtiger und falscher Beschreibung, die im so genannten Bivalenzprinzip beheimatet sind, sind Kriterien der Wissenschaft.
Lyrik aber untersteht nicht diesem Bivalenzprinzip. Lyrik bildet das Allgemeine im Besonderen ab. So kann man von der Lyrik höchstens sagen, sie sei adäquat oder nicht. Lyrik bringt eine subjektive Wahrnehmung zum Ausdruck, die andere Menschen teilen können oder nicht. Ich erhob also nicht den Anspruch, objektive Lyrik zu präsentieren. Lyrik kann ein Gewinn an Erkenntnis sein, die über die Beschreibung eines Gegenstandes hinausgeht.
Meine Intention war, mit diesen lyrischen Texten einfache, bescheidene und zerbrechliche Brücken zu bauen zwischen dem Betrachtenden und den Exponaten. Solch eine Ausstellung zu wagen, machte mich selbst auch verletzlich, denn schließlich gebe ich mit meinen lyrischen Texten auch etwas von mir preis.
Diese Ausstellung und ihre Lyrik sind vergänglich
Das konnte und wollte ich in meinem Statement zur Pressekonferenz am 27. April 2001 auch nicht verbergen:
„Der Funke, der diesem Ausstellungsprojekt zu Grunde liegt, ist über 30 Jahre alt. Zwei Drittel meines Lebens schlummerte er, von keinem geringeren als dem damaligen Domkustos Prälat Dr. h.c. Erich Stephany durch eine Domführung in mir entfacht. Vor über einem Jahr wuchs der kleiner Funke zu dieser Idee einer Ausstellung mit dem Titel „Schatzansichten“.
Oft hat mich in den vergangenen Monaten die Frage bedrängt, ob es eigentlich legitim sei, mit meinen lyrischen Texten und einer modernen Präsentationstechnik diesen ehrwürdigen Schatz, für begrenzte Zeit, in einem anderen Kontext zu zeigen, um so die Sehgewohnheiten der Betrachtenden dahingehend zu verändern, dass sie mehr sehen. Durfte ich diesem Schatz meine Gedanken leihen und sie dann auch noch anderen zugänglich machen? Würde man mir nicht eventuell Zeitgeistmentalität vorwerfen können?
Immer wieder versuchte ich mich mit der Intention dieser Ausstellung zu beruhigen, diesem Schatz meine Worte zu leihen, damit in ihm mehr entdeckt wird als ein Schatz von außerordentlichem Wert und kaum überbietbarer Qualität. Immerhin bin ich berechtigt der Oberzeugung, dieser Schatz erschließe in seinen Ansichten Aussagen, die dem Menschen unserer Zeit Konkretes auf das eigene Leben bezogen sagen können. Auch meine bisher gemachte Erfahrung gab mir Recht. Denn jenen Menschen, denen ich diesen Schatz in seiner religiösen und lebensrelevanten Dimension erschließen durfte, sahen nun diesen Schatz mit anderen Augen, und sie entdeckten mehr als nur ein kunstvolles Kulturerbe. Schließlich aber gab mir der Schatz selbst die beruhigende Antwort auf meine mich verunsichernde Frage. Die Veränderungen, z.B. der Präsentation der Reliquien im Laufe der vergangenen Jahrhunderte, machen deutlich, dass immer wieder die aktuelle Lebenssituation und die daraus erwachsenen Sehgewohnheiten in der Gestaltung der Kunstwerke Berücksichtigung gefunden hatten. Nur aus dieser Tatsache heraus erklärt sich, dass eine Veränderung in der Präsentation der Reliquien auch in Aachen stattgefunden hat, und zwar von der verbergenden Darstellung der verehrten Reliquien hin zur sichtbaren.
In den sich wandelnden Zeiten wurde immer wieder versucht, den betrachtenden und verehrenden Menschen Brücken zu bauen, damit sie einen Zugang zu den Schätzen finden konnten.
In dieser Ausstellung verändern wir allerdings an den Exponaten nichts! Wir bauen einfache, zerbrechliche Brücken, auf denen der betrachtende Mensch eingeladen ist, diesen Kunstwerken zuzuhören, auch wenn die Worte ihnen nur geliehen und subjektiv sind […]. Diese Ausstellung allerdings erhebt nicht den Anspruch, dauerhaft neben und mit dem wohl bedeutendsten Kirchenschatz nördlich der Alpen ihre Zukunft zu verbringen. Diese Ausstellung und ihre Lyrik sind vergänglich und werden auch bald einfach wieder verschwinden […].
Zurück bleibt dieser alte Kirchenschatz in seiner gewohnten Art der Präsentation. Nur die Erinnerung einiger Besucher dieser Ausstellung wird Zeugnis: Da war doch mal was. Dann aber werden andere gerufen sein, diesem Schatz ihre Sprache und Zuneigung zu schenken.“
Reaktionen
Über 40.000 Besucher der Domschatzkammer hatten die Gelegenheit, sich im Rahmen ihres Besuches der Aachener Schätze auch von dieser Sonderausstellung ansprechen zu lassen.
Über diese Menschen nun in Zahlen zu erheben, was in ihnen bei der Betrachtung dieser Ausstellung vorgegangen ist, ist nicht möglich. Von den über 2000 in 50 Sonderführungen begleiteten Gäste aus Hamburg, München, Köln, Berlin, Frankfurt und Trier, um nur einige Orte zu nennen, können wir mehr sagen. Sie wollten sich ganz bewusst der Herausforderung dieser Präsentation stellen und gingen, so die unmittelbaren Rückmeldungen, ergriffen, bereichert, entdeckend, betroffen, erstaunt, dankbar und ermutigt nach Hause und mit ihnen Nachdenklichkeit.
Andere brachten ihrer Begeisterung in Briefen zum Ausdruck, so z.B. mit dem Hinweis: „Ich war nun schon über fünf Mal in Ihrer Ausstellung, immer mit anderen Bekannten, es lohnt sich einfach, schade dass diese Ausstellung zeitlich begrenzt ist.“ Viele Menschen sprachen mich an und wertschätzten im Besonderen die ansprechende Art, durch die diese Ausstellung die eigenen Sehgewohnheiten verändert hat.
Bei dem kleinen Festakt anlässlich der Beendigung der Ausstellung bemerkte der Leiter der Domschatzkammer, Dr. Georg Minkenberg: „Es macht immer etwas traurig, wenn wir eine Sonderausstellung wieder abbauen, aber uns bleibt ja noch das Buch, das zu dieser Ausstellung erschienen ist.“
monstrare
Für mich aber bleibt neben dem Buch „Schatzansichten“ und der Erinnerung an die eben geschilderten Veranstaltungen und Begegnungen die bleibende Provokation, gerade den vielen (Kunst-)Schätzen, die in Domschatzkammern aufgehoben werden, eine Stimme zu leihen, die den behutsamen Versuch darstellt, von diesen Schätzen mehr zu „haben“ als wir ihnen „ansehen“.
Enden möchte ich mit einem Text aus der Ausstellung „Schatzansichten“, den ich für die Monstranz des Hans von Reutlingen geschrieben habe. Diese Monstranz, wie auch jede andere, die in irgendeiner Vitrine in irgendeinem Museum dieser Welt ausgestellt wird, ist so präsentiert zum Symbol der eigenen Nacktheit und Funktionslosigkeit geworden, eben ein Kunstwerk.
monstrare
Edel anzuschauen
von Blicken gestreichelt
die ferne Schönheit zu berühren suchen
bist du doch leer und kalt
weil dir fehlt
was dein Körper
zu umfangen
geschaffen ist.Schönster Leib
edel anzuschauen
mag dich streicheln
bist doch leer und kalt
wenn du durchschaut
nicht mehr als nur ein
Loch umgibst.Edel anzuschauen
ist jeder Leib
gestreichelt
mehr zu bergen
als wir sehen:Welch ein Mensch!
1 Stender, Christoph, Schatzansichten. Entfesselnde Wortschätze (Eupen 2001).