Bedeutungsgeschichtlicher und personenbezogener Zugang zu den „Vier Großen Aachenern Heiligtümern“.
Vortrag zur Heiligtumsfahrt 2007 in der KHG am 9. Mai 2007, 20.00 Uhr, Kleiner Saal.
Problemandeutung:
„Allem Wissen geht die Berührung voraus, und allem Wissen ist die Berührung zu wenig. Wissen ist die Antwort auf die Frage Warum. Die Frage warum aber entsteht nur dann, wenn mich etwas berührt hat. Einfach so, berührungslos fällt kein warum vom Himmel. Es wird geweckt durch sehen, hören, spüren, riechen, erfahren, eben er-leben und wird verdichtet zu Wissen. Allem Wissen geht die Berührung voraus, und allem Wissen ist die Berührung zu wenig. …“
1. Teil
Pilgern und Heiligtümer im Rückblick
Leben von Ort zu Ort
Das Pilgern, als das auf dem Weg sein von einem Ort zum anderen, ist wohl so alt wie die Menschheit. Die Gründe, warum Menschen oft auch vertraute Orte verlassen um neue aufzusuchen, sind allerdings sehr unterschiedlich.
Biblische Erzählungen vom unterwegs sein
Das Alte Testament beispielsweise berichtet von Abraham, der der Weisung Gottes gehorchend in ein anderes Land geht, das er erben soll. So macht er sich auf, weg vom bekannten Ort in die Fremde (Vgl. Genesis 12,1)
Ortswechsel gibt es in den Schriften des Alten Testamentes immer wieder und oft an zentraler Stelle. So z. B. der Verlust des Paradieses, Adam und Eva, mit der Weg – Erkenntnis in der Fremde nackt zu sein.
Noach und die große Flut. Fast verliert sich die Schöpfung ganz, nur ein kleines Schiff, die Arche mit von allem ein Paar, bleibt in unbekannten Gewässern auf dem Weg. Auch eine andere Art des auf dem Weg sein ist der Turmbau zu Babel. Da ist der Weg unbekannt aber dafür das Ziel klar.
Das ganze Buch Exodus erzählt vom Weg, dem Fliehen und dem Ankommen und von immer erneutem Aufbruch.
Ein vertrautes Beispiel für das auf dem Weg Sein im Neuen Testament ist die Geschichte vom „verlorenen Sohn“, der sich freiwillig in die Fremde begibt, sich dort fast vollständig verliert und dann zurück kehrt an vertrauten Ort, wohl mit der Option einer neue und untergeordnete Rolle. Das gelingt ihm aber aufgrund der Barmherzigkeit seines Vaters nicht. Wieder von anderer Aussagequalität ist die Erzählung vom Barmherzigen Samariter. Besonders das auf dem Weg Sein der verschiedenen Personen, angefangen bei dem Überfallenen bis hin zum Samariter, markiert diese Begebenheit.
Vielleicht etwas fast lapidar könnte man sagen: Ist nicht die ganze Heilige Schrift eine Erzählung von einem gigantisch in kleinen Episoden sich verlierenden „auf dem Weg Sein“? Geht das eigentlich auch gar nicht anders, weil wer vom Leben erzählt muss letztlich von Orten und den Wegen dazwischen erzählen, da Leben einfach anders nicht zu haben ist.
Der Christ als Pilger
Konsequent ist aus dem christlichen Verständnis heraus das Leben eine Pilgerschaft durch die Welt hindurch in das Reich Gottes, die nicht statisch sondern dynamisch zu verstehen ist.
So sind Christinnen und Christen auf der Pilgerschaft (Peregrinatio) immer wieder dieser Fremde (Peregrinus), der sich dazu macht (oder gemacht wird) in dem er vertrautes Terrain (Heimat, Geborgenheit, Verlässlichkeiten, Strukturen etc.) verlässt (oder auch verlassen muss) und so zum Fremden in der Fremde wird.
Pilgerfahrt oder Wallfahrt
Oft werden die Begriffe Pilgerschaft und Wallfahrt synonym verwandt. Ein Klärung der Begriffe wie sie Kötting macht schärft besonders dramatisch die Aussage über die Pilgerschaft. Von einer Wallfahrt spricht er dann, wenn das Motiv in dem Wallfahrer selbst ruht und er dadurch motiviert seine „Gemeinde“ verlässt mit dem Ziel, eine „heilige Stätte“ aufzusuchen um von dort dann wieder zurück zu kehren in seine vertraute „Gemeinde“.
Eine Pilgerfahrt hingegen braucht den Rückkehrwillen nicht, eine Pilgerfahrt kann diesen explizit aus asketischen Gründen ausschließen.
Nur weg von hier?
Warum machen sich Menschen auf einen Weg, verlassen vertrauten Raum und begeben sich in unbekannte Situationen. Schon Kinder werden von einem gewissen Reiz geleitet, nennen wir ihn Neugier oder Interesse, der sie veranlasst via Räuberleiter einen Bretterzaun zu überwinden um zu erfahren was dahinter ist. Das nicht wissen dessen was dahinter ist, veranlasst aber nicht nur dazu die Ausgrenzung zu überwinden, sondern im Vorfeld dazu bestimmten Phantasien Tür und Tor zu öffnen bezüglich dessen, was dahinter sein könnte. Der andere, unbekannte Ort übt einen gewissen Reiz aus, der durchaus auch negativ besetzt sein kann wie z. B. das „Knusperhäuschen“ im Märchen von Hänsel und Gretl. Gerade Märchen bedienen sich der Sehnsucht des Menschen nach anderen Orten und führt sie in der Welt der Phantasien dahin.
Die Magie des anderen Ortes
Schon die Antike kennt den Brauch, an die Orte zu pilgern, an denen ihre Helden begraben wurden, weil sie den sterblichen Überresten übernatürliche Kräfte zusprachen, die auf jene Pilger übergehen konnten, die diese Orte „berührten“. Darüber hinaus scheinen sich Waldlichtungen, Bergkuppen oder irgendwie aus der „Norm“ herausfallende Orte anzubieten für Begegnungen mit dem Geheimnisvollen und Jenseitigen. Aber auch an den Orten, die bezeichnend für jene Menschen denen Verehrung zukommt wie Geburtsort, Sterbeort, Orte der Wandlung und der Erkenntnis, Orte besondern Wirkens …, haben eine Anziehungskraft auf Menschen und mach ihn zum Wallfahrer.
(Exkurs: Japaner in Salzburg und Mozart.)
Viele der Touristen die nach Aachen kommen, fragen allerdings eher selten nach den Aachenern Heiligtümer. Für sie interessanter ist die Frage: „Wo ist eigentlich der Thron van Karl dem Grossen, und hat er original auch darauf gesessen?“
(Exkurs: Thron Karls als Reliquie, Bedeutung der Reliquien im Mittelalter.)
Die christlich Motive des auf dem Weg sein
Die Motivation von Christen sich auf eine Wallfahrt zu begeben basiert eher weniger in der Hoffnung „übernatürlichen Kräften“ zu erwerben. Allerdings werden mit bestimmten Wallfahrtsorten auch wundersame Kräfte verbunden (z.B. Lourdes).
Die Motive zu wallfahrten können verschieden sein: Bitte um Hilfe, Danksagung für ein besonderes (unerwartetes) positives Erleben, Einhaltung eines Versprechens, Gemeinschaftsgefühl Gleichgesinnter an „heiligem Ort“. (Solch einen Orte haben auch die Juden, Jerusalem und die Muslime, Mekka.) Sehr verstärkt im Mittelalter waren bestimmte Orte für Christen verbunden mit einem außergewöhnlichen Ablass, also der Tilgung von zeitigen Sündestrafen, womit auch oft ein Ablasshandel verbunden war. Für Christen war Rom z.B. ein solcher Ort in der Geschichte.
Die Aachener Heiligtumsfahrt ist wohl eher was für Wallfahrer, weniger etwas für Pilger (Kötting) und das ist sie wohl auch immer schon gewesen. Allerdings sollte wertschätzend berücksichtigt werden, dass der wallfahrende Mensch im Mittelalter eher unter der Kondition eines Pilgers aufgebrochen war bezüglich der Strapazen und Entbehrungen die er auf sich genommen hatte.
Aber warum nahmen Menschen mit dem Jahr 1239 nachgewiesener Maßen Entbehrungen auf sich um in diesem Fall. die vier großen Heiligtümer von Aachen zu sehen die 799, so die fränkischen Annalen von einem Mönch im Auftrag des Patriarchen von Jerusalem Karl dem Grossen überbracht wurde zur Verehrung in seiner Pfalzkappelle.
Die christliche Verehrung von Reliquien und besonderer Orte als „Heiligtümer“ steht im Zusammenhang mit der Verfolgung und Ermordung der ersten Christinnen und Christen.
Solche besonderen Reliquien, die auch ein besonderes Wallfahrtsverhalten entstehen lassen, gehen entweder unmittelbar auf Christus zurück, auf die frühen Bekennerinnen und Bekenner oder auf Menschen, die in ihrem Leben in besonderer und herausragender Weise Zeugnis abgelegt haben (Heilige genannte Männer und Frauen) für ihren Glauben an Jesus Christus.
(Exkurs: Katakomben Rom, Reliquien in den Altären der Kirchen, der Glaube kommt vom Hören.)
Geschichtlicher Überblick zu den Reliquien bzw. Heiligtümer:
- Die Reliquien gehen bis auf die Zeit Karls des Großen zurück, der Patriarch von Jerusalem überbringt in den Jahren 799/800 Reliquien vom „Ort der Auferstehung“
- Erste „Aachenfahrt“ im Jahre 1239 – auch Datum der Fertigstellung des Marienschreins
- Die älteste Nachricht über die Aachener Heiligtumsfahrt stammt aus dem Jahr 1312
- Siebenjahresrhythmus seit 1349
- Im Mittelalter wird die Aachener Heiligtumsfahrt so bedeutend wie die Wallfahrten nach Rom, Jerusalem oder Santiago de Compostela
- Gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als die Stadt 10.000 Einwohner hatte, zählte man an einem einzigen Tag 142.000 Pilger an den Stadttoren
- In politischen Krisenzeiten hat die Aachener Heiligtumsfahrt immer wieder große Bedeutung erlangt. herausragend ist die Wallfahrt 1937 mit fast 1 Mio. Pilgern. Als die Wallfahrt des „stummen Protestes“ ist sie in die Geschichte eingegangen.
2. Teil
Ein neuer Gedanke: Heil auf nackter Haut
Prolog der Gedanken:
„Nackt sein, was für ein Gefühl?
Bekleidet sein, was für ein Gefühl?
Die Nacktheit des Anderen in seinem Bekleidet sein zu spüren, was für ein Gefühl?
Bekleidet die eigene Nacktheit zu spüren, was für ein Gefühl?
Die Nacktheit des Anderen zu bedecken, was für ein Gefühl?
Nackt bedeckt zu werden, was für ein Gefühl?
Nacktheit zu verletzen, was für ein Gefühl?
Nackt verletzt zu werden, was für ein Gefühl?
Die Nacktheit des Anderen zu berühren, was für ein Gefühl?
Nackt berührt zu werden, was für ein Gefühl?
Die Kleidung eines Anderen zu berühren, was für ein Gefühl.
An der Kleidung berührt zu werden, was für ein Gefühl?“
Die eigene Nacktheit
Kommt Ihnen in diesem Einsieg vielleicht das Wort „nackt“ zu häufig vor? Oder ist Ihnen 12mal der Begriff Gefühl zu viel Gefühl?
Zugegeben, es ist ungewöhnlich über christliche Spiritualität, bezogen auf Stoffreliquien nachzudenken und so dezidiert mit dem Begriff der Nacktheit konfrontiert zu werden. Zum Thema der Aachener Stoffreliquien können wir darauf allerdings nicht verzichten.
Und wir müssen noch einen Schritt weitergehen, um uns anzunähern: Mögen Sie sich selbst? Mögen Sie sich auch noch, wenn Sie nackt vor dem Spiegel stehen?
Damit ich nicht missverstanden werde, die Frage hat nichts damit zu tun, ob Sie mit den mutmaßlich Schönen dieser Welt mithalten können. Am Anfang dieser Annäherung an die vier Aachener Heiligtümer muss die Frage nach sich selbst stehen, der Ganzheitlichkeit, dem Leib, der eigenen Nacktheit und des Bekleidet-Seins, sowie nach dem Gefühl, das mit diesen Fragen in Ihnen wach wird.
Der Mensch im Mittelpunkt
Diese sehr persönliche Frage und deren Antwortsuche sind ein Schlüssel zur Erschließung dieser Stoffreste, die Grundlage diese überhaupt wertschätzen zu können. Denn nicht nur auf die eigene Nacktheit zu schauen ist hier zum Verstehen wesentlich, sondern gleichbedeutend geht es mit Blick auf den anderen Menschen auch um dessen Nacktheit und deren Umhüllung.
Mit den Aachener Heiligtümern steht der Mensch im Mittelpunkt, der „bedeutende“ Mensch, der „Heilige“, aber auch der mutmaßlich (noch) nicht so bedeutsame, der Pilger und die Pilgerin, der (fromme) Betrachter und die (fromme) Betrachterin. Der Mensch im Mittelpunkt allerdings ist auch der Herausgerufene, provoziert zu berühren um berührt zu werden. Das allerdings gelingt nur, wenn wir die eigene Nacktheit und die des Anderen liebevoll aushalten und an sich „anhalten“ wollen und können.
Nacktheit geht den vier großen Heiligtümern voraus
Die vier großen Heiligtümer betreffend geht es um den Menschen, des Menschen Leib, seine nackte Haut und mit ihr sekundär um das, was sie umgibt und so verbirgt, um Stoffe.
Hier geht es um die Vergegenwärtigung aus der Erinnerung heraus, und so um die Verneigung vor verehrenswürdigen Existenzen, deren Leiber für uns nicht mehr berührbar sind, die aber in der Anschauung und in der Berührung dessen erahnbar sind, was sie zu berühren in der Lage waren, die sie berührenden Stoffe. In Folge geht es mit diesen Reliquien also um (leibliche) Nähe zwischen dem Anbetungswürdigen und dem Betrachter.
Sich seiner eigenen Leiblichkeit stellend, den eigenen Körper auch in seiner Nacktheit wahrzunehmen, ermöglicht respektvoll sich der Haut des Anderen, eines Gegenübers zu nähern. Aus genau diesem Blickwinkel gilt es auf die Windeln Jesu, das Kleid Mariens, das Enthauptungstuch Johannes des Täufers und das Lendentuch Jesu am Kreuz zu schauen.
- Warum wickelt man einem Kind, das seinen Schließmuskel noch nicht beherrschen kann, ein Tuch (Windel/Pampers), das darüber hinaus täglich mehrmals gewechselt wird, um Po und Primärgeschlechtsteil? Den hygienischen Gründen voraus geht der Wunsch Kot und Urin zu begrenzen und nicht den ganzen Körper damit zu „beschmutzen“, das Kind also nicht in seinen Exkrementen sitzen zu lassen. Dem zerbrechenden Menschen wird diese Zuwendung mitunter auch wieder zu teil, damit er im Vergehen nicht unwürdig zwischen Kot und Urin sein Leben loslassen muss.
- Maria trug ein einfaches Kleid der Zeit und ihren Möglichkeiten entsprechend. Sie bedeckte ihre Nacktheit mit Stoff, wie jeder es damals ebenso tat, der erkannt hat, was Nackt-Sein bedeutet.
- Jesus Christus am Kreuz, nackt, der Körper geschunden und dann kraftlos weil kein Herzschlag mehr. Die Mächtigen haben gesiegt, einen Menschen zerstört und seine Nacktheit ohne Scham zum Lustgewinn öffentlich ausgestellt. Fast könnte da das Lendentuch Jesu als Gnadenakt der Kunst spätere Jahre gedeutet werden.
- Das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Johannes, ein Christuszeuge, enthauptet um damalige Lust an der Macht zu mehren und sie gleichzeitig zu provozieren. Ein grausamer Mord an einem Bekenner flankiert den Weg des Menschensohnes. Eine Klinge, mit großer Wucht geführt, trennt dumpf vom Rumpf den Kopf, der fällt in den Dreck, wird aufgehoben, auf einem Tuch präsentiert, ein „Geschenk des Wahns“.
Vom Heil umhüllt
In der Nacktheit Jesu von Nazaret, Marias seiner Mutter und des Bekenners Johannes der Täufer markierten Stoffe sogar bis an den Rand des Lebens im Sterben und jenseits dieses Randes im Tod einen Rest von gereichter Würde. Alle Stoffe berühren (nicht berührten) Nacktheit, die des Kindes, der Mutter, des Gekreuzigten, des Enthaupteten. Alle Stoffe berühren Heiliges, Heilendes, Heil. Des Geschenk der Befreiung, das Gott der Menschheit gemacht hat, diese Gabe die so einmalig nach Gott schmeckt ist auf Tuchfühlung mit dem Menschen gegangen:
Das Kind, Menschwerdung!
Die Mutter, „mir geschehe nach deinem Willen“.
Der Gekreuzigte, Heil!
Der Enthauptete, „ich bin es nicht wert, ihm die Schuhriemen zu lösen“.
In Summe: „In der Gabe gibt sich der Geber“ (K. Rahner), hautnah!
Unsere vier großen Stoffreliquien sind stumme Zeugen dieser Nacktheit! Diese Nacktheit, von Stoffen nur gestreift, wird zur greifbaren Erinnerung der Berührung des Göttlichen und ihrer Zeugen in Welt. Das Heil-Werden durch Gott ist in dieser Welt berührbar Mensch geworden: Haut! Diese Haut berührt uns und was uns sie berühren lässt, ist ein auf sie verweisendes Heiligtum, in dem wir Gott verehren (der einzig unsere „Haut retten“ kann).
„Wenn wir uns darauf einlassen, bringen uns diese Zeichen spirituell in seine Nähe, können wir etwas von ihm sehen, betasten, erspüren.“
Was gibt es 2007 zu sehen
Frage: Was sieht also der, der 2007 nach Aachen pilgert um die vier großen Reliquien zu verehren oder sie in Augenschein zu nehmen?
Antwort: Stoffe, gefaltet (Windel, Enthauptungstuch und Lendentuch) und entfaltet (das Kleid Mariens).
Frage: Haben diese Stoffe die Haut von Jesus, Maria und Johannes wirklich berührt, also sind die echt?
Antwort: Was wäre mit ihrer „Echtheit“, wenn diese Reliquien nachweislich aus den Jahren zwischen 10 vor und 35 nach Christus stammten, allerdings am Ende des 20.Jh. mehrfach chemisch gereinigt worden wären und so jede DNA der chemischen Keule zum Opfer gefallen wäre? Was wäre, wenn sie wissenschaftlich erwiesen echt wären, aber klinisch rein: kein Schweiß, kein Urin, kein Blut und kein Kot. Was wäre, wenn sie echt wären aber eins zu eins identisch mit Stoffen aus derselben Zeit, jedoch von ganz anderem Ort, weit weg von den damaligen Geschehnissen um Jesus Christus?
Die Akte
Meines Wissens gibt es einen aktenkundigen Beschluss des Aachener Domkapitels früherer Jahrzehnte der besagt, dass die Heiligtumsfahrt eingestellt werden solle, wenn erwiesen sei, dass diese Stoffreliquien nicht echt wären. Aber die „Echtheitsfrage“ wird der Heiligtumsfahrt wohl kaum ein Ende bescheren, denn: “ … dieses Mysterium besteht weder allein nur aus dem, was wir wissenschaftlich aus diesem Schrein herausnehmen können, noch aus dem, was wir gläubig hineinlegen wollen.“
Quo vadis
Wo gehst du hin? Banal, eine alltäglich mit unter öfters gestellte und/oder gehörte Frage. Eine Frage die auf einen Moment abzielt und immer wieder beliebig gestellt werden kann, da sie in der Frageintention oft absichts- und emotionslos ist.
Wo gehst du hin? Neben aller Banalität die dieser Frage als solcher anhaften kann, kann sie aber auch sehr gewichtig, sogar existentiell verstanden werden.
Wege, Richtungen können lebensbedrohend sein, aber auch befreiend, sie können ganz neue Perspektiven eröffnen, oder sogar Realitäten antasten, die bis dahin noch nie berührt werden konnten. Wo gehst du hin, dies kann eine alles entscheidende Frage sein.
Auf diese Frage zu antworten, ich gehe zur Heiligtumsfahrt, könnte als banal eingestuft werden. Andererseits könnte der mit dieser Antwort beschrittene Weg auch existentielle Konsequenzen aufweisen. Wo geht man eigentlich hin, wenn man aufbricht, um sich pilgernd „Heiligtümern“ zu nähern.
Große Pilgerreise
Aller „Wanderung“ (Wallfahrt/Pilgerfahrt) geht das Bleiben voraus. Diese Aussage möchte ich pragmatisch verstanden wissen, denn: Wer ein Interesse an dem Weg hat, muss eine Erfahrung mit dem Angekommensein gemacht haben oder genau daran zweifeln, sonst würde er nicht „weg“ (Weg) wollen. Der wandernde (wallfahrende) Mensch will ankommen an einem Ziel, auch wenn er einen nur minimalistischen Anspruch hegt nämlich den, bei „B“ angekommen zu sein um zu wissen, dass er „A“ verlassen hat. In diesem Kontext wird oft postuliert: „Der Weg sei das Ziel“. Aber diese Annahme ist auch nur die halbe Wahrheit, denn ich komme, wenn ich mich auf den Weg mache, immer irgendwo an, ungeachtet der Tatsache, wie ich dieses Angekommen sein qualitativ bewerte.
Der wallfahrende Mensch bricht auf, um nicht zu bleiben, wo er ist. Er will jedoch dort hin zurückkehren und ankommen, von wo er aufbrach, anders jedoch, als er gegangen ist. So unterscheidet sich die Wallfahrt von einem Spaziergang dadurch, dass der Spaziergänger die Welt um sich herum in Betracht zieht, der Pilger aber sich selbst. Um bei sich selbst anzukommen bedarf es eines Ortswechsels aber viele Pilger nehmen darüber hinaus oft große körperliche Strapazen auf sich um die eigene physische Grenze zu spüren und auch damit sich selbst anders zu erleben.
Unverhüllt vor Gott
Entscheidend für den Pfad bleibt das Verlassen eines „hier und jetzt“ und so ein in Bewegung kommen, um dann durch das erreichte und durchschrittene Heiligtum hindurch das Göttliche zu verehren und zu bedenken und so anders sich selbst wieder zu finden und zurückzukehren. Dieses Sich-Wiederfinden lässt die eigene alte Nacktheit neu entdecken. Die Nacktheit, die keine Verlorenheit mehr ist, kein Angstschrei und auch keine Demütigung mehr. Auf solchen Wallfahrten lernen wir immer neu den aufrechten Gang, das Göttliche im Blick und gleichzeitig vom Göttlichen getragen, umgeben von ihren Stoffen, die Nacktheit bedecken. Eines (jüngsten) Tages aber werden wir diese uns verhüllenden und schützenden Stoffe abgeben dürfen, da wir sie nicht mehr brauchen, denn unverhüllt werden wir vor Gott da sein dürfen. Das lassen uns die Aachener Heiligtümer „ganz nebenbei“ auch wissen.
(Exkurs: Pilgerabzeichen und andere Erinnerungen)