„Barmherzigkeit will ich“
Predigt in den Gottesdiensten am Sonntag, den 5. August in St. Anna
„Kleidung den Entblößten“
Prediger: Christoph Stender, Hochschulpfarrer, Aachen
Lesung: Jes 61, 1-11/Evangelium: Lk 22, 53-61
Ein morgendlicher Gang unter die Dusche oder ein Bad sind alltägliche „Reinigungsrituale“, die in unseren Breiten kaum wirklich auffallen, da sie zu regelmäßig getätigt werden und somit Gewohnheit sind. (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel)
So ist es selbstverständlich, dass, wenn Sie heute Abend diesen Sonntag oder die vergangenen Tage betreffend gefragt werden, was es denn Besonderes gegeben habe, Sie wohl kaum antworten werden, sich geduscht oder ein Bad genommen, also sich gewaschen zu haben.
Es ist auch Ihnen ein vertrautes Bild: Ihr Badezimmer, Blick in den Spiegel, Zahnbürste, Hahn aufdrehen, die richtige Temperatur ausloten, Shampoo in Reichweite und dann ab in die Wanne oder unter die Dusche. Einzig auf den Akt der kulturbedingten Reinigung bezogen, also auf das Waschen, inszenieren die Menschen in den Bädern Deutschlands täglich meist ein „Einmann- oder ein Einfraustück“. Hände berühren, verteilen so den wohlriechenden Schaum fast streichelnd über das größte Organ des Menschen, seine Haut. Mal genüsslich, mal von fließender Zeit getrieben nähert sich der Badezimmerakt irgendwann dann doch seinem Ende und das Handtuch ist angesagt. Meist routiniert, manchmal auch artistisch wird das Handtuch ergattert, dieses Stück Stoff, das nach jedem solcher Wasserrituale unsere Haut berührt, sie abtrocknet und so das sich Anziehen einläutet, wieder einmal, um dann in angemessener Bekleidung in die kleine Öffentlichkeit unseres Alltags einzutreten, eben wie immer und natürlich gewaschen.
Ortswechsel: Zu Jesu Zeiten gab es besonders in den Städten mit römischem Einfluss eine hohe Badekultur, wenig vergleichbar mit der unsrigen, eben etwas anders, doch sehr effizient. Besonders für einen Juden war die Körperpflege selbstverständlich, unabhängig ob aus der Stadt oder vom Land. Tägliche Waschungen waren Regel, Ritual und Pflicht.
Der durchschnittliche Land- und auch Stadtbewohner zur Zeit Jesu trat allerdings nicht nach dem Bad vor einen Kleiderschrank in dem ungezählte Variationsmöglichkeiten von Kleidungsstücken sich anboten. Die in unserer Zeit häufig gemachte Feststellung vor einem total überfüllten Kleiderschrank zu stehen mit den Worten auf den Lippen: „furchtbar, ich habe nichts mehr anzuziehen“, war den Menschen zu Jesu Zeiten eher fremd.
Ein, den Körper ganz bedeckendes Kleidungsstück, vielleicht auch mal ein zweites waren um 50 n. Ch. die Bekleidungslage eines Normalbürgers, einer Normalbürgerin. Überhaupt war die Ausstattung der Wohn- und Schlafräume eher kärglich und auch die Organisation der Lebensmittel, dessen also was täglich zum Leben benötigt wurde, war ein täglich immer wiederkehrendes alltägliches Geschäft. Manche Menschen waren schon damit überfordert, schafften die nötigsten Besorgungen nur schwer oder gar nicht, beziehungsweise sie wurden ihnen verboten.
Da passierte es, schneller sichtbar in der Gesellschaft als heute, dass Menschen abstürzten und ohne Hemd dastanden, das letzte Hemd abgeben mussten oder des einzigen Rockes entledigt wurden, aus welchen Gründen auch immer. Ohne etwas dazustehen, also nackt, war oft das ganz unten Aufschlagen eines wirtschaftlichen, familiären und/oder sozialen Absturzes. Zur Zeit Jesu waren u. a. diese Menschen für einen solchen Absturz prädestiniert: Kranke, verlassene Ehefrauen, Fremde, Gefangene, Menschen, die unter die Räuber gefallen waren sowie mutmaßlich Besessene. Aber auch jene, die ihr Handwerk nicht mehr ausüben konnten oder durften, waren absturzgefährdet.
In solche Lebenssituationen hinein gehört das an das Evangelium nach Matthäus angelehnte vierte Werk der Barmherzigkeit. Worum geht es in dieser Erzählung. Mit Blick auf das Weltengericht (Jüngstes Gericht) und die abgestürzten Menschen seiner Zeit vor Augen, beschreibt Jesus seinen Zuhörern ihre potentielle Perspektive in Sachen ewiges Leben:
„Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt, denn (…) ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet … (Mt 25,34f).
Im weiteren Verlauf des Evangelientextes drängt sich die wesentliche Erkenntnis der Rede Jesu förmlich auf, und gleichzeitig liegt die daraus zu ziehende Konsequenz für jene auf der Hand, die sich in der Nachfolge Jesu wähnen. Der Hungrige, der Durstige, der Fremde, der Nackte, der Kranke und der Gefangene sind Synonyme für die konkrete Christusbegegnung. Denn wer ihnen zu essen gibt und zu trinken, sie befreit von Fremdheit und Nacktheit oder Kranke und Gefangene besucht, der tut all das ihm, diesem Jesus Christus. „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Im Kontext des bisher Gesagten und im Fokus steht heute dieses vierte Werk der Barmherzigkeit: „Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet…“ Das sollte auch schon zur Zeit Jesu wortgetreu und ganz konkret verstanden werden. Denn Nackte, also die in der Gesellschaft Abgestürzten, waren in den Strassen der Städte damals auch schon unübersehbar. Schauen wir in eine ganz normale Stube wie sie zu Jesu Zeiten üblich war und das Verstehen fällt uns leichter. Denn selten hing da in den meist kärglichen vier Wänden ein zweites Gewand am Haken. Ein Gewand hatte seinen Wert und wer nicht anders mehr konnte, der bezahlte mit seinem letzten Stück Stoff. Abgestürzte gehörten da wie selbstverständlich zum Straßenbild: Bettler, Aussätzige, Krüppel, Fremde, Verstoßene, besonders Frauen. Immer wieder trieb diese mutmaßlich bessere Gesellschaft ihre selbst ausgemachten Ausgestoßenen vor sich her und damit oft endgültig in den Abgrund.
Bis hier her ist allerdings noch nicht die ganze Botschaft dieses vierten Werkes der Barmherzigkeit entfaltet: „Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet…“. Denn nackt da zu stehen, aus eigener Kraft sich nicht mehr bekleiden zu können war auch zur Zeit Jesu mehr als einfach nur unbekleidet zu sein, also „nur materiell“ nackt dazustehen. Nackt in der Öffentlichkeit als gescheitert dazustehen, bedeutete damals wie heute fast den Totalverlust der eigenen Kultur, denn plötzlich steht man außen vor, wird zum Fremden vor sich selbst und vor den anderen. Und mit diesem Verlust kommt das gebrandmarkt werden hinzu, spürbar durch die einst eigene aber jetzt durch den Sturz entfremdeter Kultur, und der diese Kultur des Ausgrenzens tragenden Gesellschaft.
Diese andere Art der Nacktheit wird im Evangelium, das wir eben gehört haben, aufgegriffen, mit dem wir einen Ortswechsel vornehmen. Wir finden uns wieder mitten auf einem Platz, hier passiert die Leugnung Jesu durch Petrus. So wird berichtet: „Etwa eine Stunde später behauptete wieder einer: Wahrhaftig, der war auch mit diesem Jesus zusammen; er ist doch auch ein Galiläer. Petrus aber erwiderte: Mensch, ich weiß nicht, wovon du sprichst“. (Lk 22,55ff) Petrus überlässt Jesus der unberechenbaren Gefahr nackt. Zitat: „Den kenne ich nicht!“
In aller Öffentlichkeit leugnet Petrus dreimal: Mit dem habe ich nichts zu tun, wir haben nichts gemeinsam, der ist mir ein Fremder. Petrus entblößt Jesus in dem er ihm mit Worten das Hemd der gemeinsamen Geschichte, der Vertrautheit, des füreinander Verantwortlichseins vom Körper reißt und ihn so isoliert. Jesus ist nackt, weil Petrus die eigene ihn bekleidende Nähe leugnet.
Petrus wird in diesem Evangelium beispielhaft angeführt für die vielen anderen Leugner: Jesus verliert durch die Leugner jeden kulturellen Schutz, das vertraute Umfeld zerbricht, alle Kommunikationsmöglichkeiten sind gekappt, Menschenwürde außer Kraft gesetzt. Jesus ist nackt und so ausgeliefert. Seine Haut kann nun zu Markte getragen werden, freigegeben zur Verletzung bis in den Tod. Es bleibt ein Skandal das Jesus Christus nicht der Letzte sein sollte, dessen Haut zum Schlachten frei gegeben würde.
Zwischenruf: „Petrus und wie sie alle heißen! Jesus war nackt, und die anderen auch, du hast sie gesehen, du siehst sie auch heute noch. Und es ändert sich nichts, sie bleiben Verlierer mit ihren unterschiedlichen Namen und Biographien und stehen immer noch nackt da, es ändert sich nichts, es ändert sich nichts! (Pause)
Und nun, typisch Predigt, die Konsequenzen?
Ja, etwas in dieser Richtung!
Zuerst ein Merksatz: Versuche nicht alle Nackten dieser Welt, deines Landes, deiner Stadt oder in deiner Umgebung bekleiden zu wollen. Nein, nicht weil das wohl eher unmöglich ist, sondern weil die, die alles wollen, letztlich aus der Ohnmacht vor den vielen Nackten dieser Welt das Argument ableiten, gar nichts mehr zu wollen, tatenlos zu bleiben, also keinem auch nur ein Hemd zu reichen.
Und hier nun was zum Anziehen
für die, die spärlich bekleidet bis „nackt“ sind:
Es kleidet, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und auch mal über sich selbst zu lachen.
Es kleidet, sich der allgemeinen Meinung nicht einfach anzuschließen, sondern sich selbst ein Bild zu machen.
Es kleidet, Fremde nicht auf Grund ihres fremd seins zu beurteilen.
Es kleidet, zu bedenken, dass der, der schon im Dreck liegt, einem selbst nur wenige Schritte voraus sein könnte.
Es kleidet, mit denen nicht zu hart ins Gericht zu gehen, die ihr letztes Hemd oft schuldig selbst verspielt haben und nun auf öffentlichen Bänken Radau machen, saufen, pöbeln und so.
Es kleidet, zu sagen, was gesagt werden muss aber dann, wäre nicht noch eine kleine Chance drinnen?
Kurz gesagt: Es kleidet, ein Hemd zu reichen, so wie es Ihnen möglich ist, und keiner Mode folgend.
Übrigens:
Guten Morgen.
Ich hoffe, Sie werden noch ungezählte solcher Morgen haben, an denen Sie dann wieder in Ihr Bad gehen. Sie wissen schon: der kurze Blick in den Spiegel, Zahnbürste, Haut, Wasser, Berührung, Handtuch und so.
Und ich hoffe für Sie wie für mich, dass wo auch immer, irgendwer „Guten Morgen“ sagt, und ins Bad geht, Sie wissen schon, der kurze Blick in den Spiegel, Zahnbürste, Haut, Wasser, Berührung Handtuch und so.
Und ich hoffe, das dieser Jemand, der den Tag so begonnen hat, etwas in den Händen hält wenn Sie, wenn ich nackt da stehe!
Schluss – Gedanke im Bad:
Es ist dein Bad, und hier sei dir auf den Leib geschrieben:
Die Verletzlichkeit der Anderen ist auch deine Verletzlichkeit.
Mag etwas um deine Haut gelegt sein, um deinen Leib, ein Leibchen.
Diese Predigt wurde im Rahmen der Anna-Woche 2007 in St. Anna, Düren gehalten.