Liebe, die mehr ist als nicht untreu sein
Anna-Woche 1997 in Düren
„Gestern hatte ich Sex mit einer anderen!“ Diese Aussage stammt nicht aus dem „Nähkästchen“ eines Beichtvaters. Dieses „Bekenntnis“ war der Auftakt eines Gespräches zweier Männer in einer Kölner U-Bahn, dass darauf angelegt schien, ein „Heldenepos“ zu werden, wenn man dem weiteren Gespräch folgte, indem der Sex nicht nur scharf war, sondern die ganze „Großtat“ nur wenige Minuten dauerte und die beteiligte Frau am Schluß angeblich gesagt haben soll: „So einen Stier habe ich noch nie erlebt!“
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel mit einem solchen Originalton diese sonntägliche Predigt anlässlichlich dieser Festwoche zu beginnen. Ich möchte nun auch nicht tiefer diese Aussage reflektieren und darauf schauen, welch ein fatales Rollenverständnis hinter solch einer Aussage steht, wie Sexualität hier zur reinen Triebbefriedigung degradiert wird und welches Verhältnis dieser Mann wohl zu seiner Frau und seinen Kindern haben muss mit Blick auf das Wort Treue, deren Bild er in seinem Portemonnaie trug und es seinem Gesprächspartner auch noch zeigte. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass diese Gespräche keine Einzelfälle sind und solches Fremdgehen mit eine Ursache dafür sein kann, warum 1996 ein Rekordjahr in Sachen Scheidungen war, so das statistische Bundesamt Wiesbaden, in dem in Westdeutschland 152.798 Ehen geschieden wurden und von diesen Scheidungen 148.782 minderjährige Kinder getroffen waren.
Mir steht es nicht zu Menschen, die keinen anderen Weg mehr finden als den der Scheidung, zu verurteilen und schon gar nicht pauschal, weil ich ihre biographischen Erlebnisdaten, die oft auch Leidensgeschichte sind, im Besonderen nicht kenne. Am Anfang einer jeden Ehebiographie steht wohl weniger der Gedanke an Scheidung als vielmehr die Worte: Ich liebe Dich! Auf dieses Wort Liebe möchte ich in dieser Predigt heute fragmentarisch schauen, auf Liebe, die mehr ist als nur untreu sein.
Zwei Schwierigkeiten möchte ich noch benennen: Die eine habe ich mit dem Wort Liebe selbst. Das Wort Liebe meint etwas wunderschönes. Es wird aber auch, so mein Empfinden, zu häufig missbraucht und so zu einem Allerweltsbegriff deformiert. Da gibt es Leute die lieben ihren Hund, ihre Katze, ihren Vogel, oft auch den Eigenen.
Andere lieben den Wein, das Wandern, Extremsport und ihr Auto. Sie lieben Pommes, Urlaub, Freiheit, Rosen, ihre Kinder, die Musik usw. …! Ich denke, Sie spüren, warum das Wort Liebe einen faden Beigeschmack haben kann. Aber ich habe noch kein besseres Wort für das gefunden, was zwei Menschen einander, nackter als nackt, sagen läßt: „Ich meine dich ganz, egal wie du wirst!“ Die andere Schwierigkeit mögen vielleicht einige von ihnen haben: Wie kann ein Priester von Liebe sprechen, die mehr ist als nur treu sein? Ich liebe einen Menschen, der mich und den ich zum Leben, ja sogar zum „Überleben“ brauche und dem ich treu sein will! Ich denke, das reicht um von Liebe und Partnerschaft existentiell sprechen zu können!
Liebe die mehr ist, als nicht untreu sein!
„Halte mich fest, doch halte mich nicht!“ In dieser Aufforderung liegt für mich die Grunddynamik einer Partnerschaft, die von sich selber sagt auf Liebe zu gründen!
Ich sage hier bewusst, auf Liebe gründen und nicht ständig Liebe pur zu sein. Liebe ist für mich zwar keine primäre chemische Reaktion, wie mancher Wissenschaftler behauptet, sie ist die Empfindung ewig so bleiben zu wollen wie sie ist: Begeisterung für den anderen, Sehnsucht nach seiner Nähe, spürbares Gehaltensein, sich fallen lassen können, Geborgenheit und Annahme, atme dich mir zu, umspiele mich, Taumel des Gefühls, ich meine dich ganz!
Liebe aber, die dauerhaft das Geliebte gegenüber meint, kann nicht anders, als aus sich heraus einen Raum „voller Halt“ zu schaffen, wissend um ihre eigene Wandelbarkeit und Zerbrechlichkeit, ein Raum, der auch dann noch trägt, wenn diese Empfindung Liebe abhandenkommt, ein Raum mit dem Ziel sie wiederzufinden. Dieser Raum „voller Halt“ trägt zweimal den Namen: Ich traue dir, weil du dich mir vertraut gemacht hast. Das bedeutet: Um die Stärken und Schwächen des anderen wissen, in seiner Gedankenwelt beheimatet sein, seinen Körper ertastet zu haben, seine Ängste zu respektieren, seine Träume zu achten, seine Sprachlosigkeit sprechen zu hören, seine Grenzen nicht gewaltsam brechen wollen und sich dessen zu erinnern, dass er, der geliebte Mensch, einmal gesagt hat: Ich meine dich ganz! In einem solchen Raum kann meine Hand immer wieder das Haar des Anderen streicheln, mit den Lippen seine Haut berühren, und mit Worten liebkosen: Entdeckung alter Liebe neu!
„Halte mich fest“, heißt so nichts anderes als: Gib du mir, woran ich mich halten kann, auch wenn unsere Liebe an Halt verliert.
Nun bleibt aber noch von diesem Satz: „Halte mich fest, doch halte mich nicht“ der zweite Teil: „Doch halte mich nicht“
Je fester eine Hand versucht Sand zu halten, um so schneller zerrinnt er in den Händen. Liebe kann ich nicht umklammern. Liebe braucht den Raum sich lassen zu können, auch auf die Gefahr hin sich selbst zu verlassen, zu verlieren, keine Liebe im Augenblick mehr zu sein, sondern nur noch Treue! Liebe hat sich nicht selbst, sondern Liebe gewinnt sich immer da neu, wo sie sich verlassen kann in Treue zu dem Menschen, der liebt und davon weiß, dass diese Liebe keine Garantie ist, sondern immer wieder neu in Treue werden will, was sie war und immer bleiben wollte, Liebe!
Liebe lebt – bewegt sich – in dem Raum vertrauten Gehaltenseins – Treue, und vertrautem Loslassen – Treue! Oder anders: Liebe lebt im Raum der Gewissheit ihrer selbst und in der Vergewisserung ihrer selbst.
Auf diesem Hintergrund bekommen die Worte Jesu vom Ehebruch eine aktuelle Brisanz. Oberflächlich betrachtet, steht der Ehebruch in diesem Kapitel des Matthäus-Evangelium in Verbindung mit sexueller Untreue, festgemacht an den Begriffen „lüsternd anschauend“ und „Unzucht“.
Genauer betrachtet bedeutet „einen Menschen lüsternd anschauen“ also suchend nach Lustgewinn, ihn, den anderen, haben wollen und dem Halten und Gehaltensein der eigenen Beziehung nicht mehr zu trauen und ihr nichts mehr zuzutrauen! In der banalen Lustsuche nach irgend jemand anderen liegt der Anfang sich selbst und dem eigenen Partner nicht mehr zu vertrauen und somit schon untreu zu sein. In diese Kategorie fällt auch das „Heldenepos“ am Beginn dieser Predigt.
Aber auch wenn wir nicht „lüsternd suchen“ kann es einfach passieren. Da begegnet man einem Menschen – nur einen Augenblick –, der Lust auf Begegnung, nicht notwendig auch sexuell, in uns wachruft. In einer Partnerschaft, die auf Treue gründend sich auch „loslassen kann“, darf empfundene „Lust“ an einem anderen Menschen kein Tabuthema sein. Im Gegenteil: Darüber müssen Partner sprechen können, wenn auch weiterhin in ihrer Beziehung gilt: „Halte mich fest“!
Liebe, die mehr ist als nicht untreu sein, findet dieses Mehr im gemeinsamen Lebensraum von Gehalten- und Gelassensein. Diese Dynamik von Gehalten- und Gelassensein ist notwendig, auf Kommunikation angewiesen. Kommunikation im Sinne von
- Communio, Gemeinschaft leben
- Interaktion, sich austauschen, im Leben des anderen „dazwischen“ sein
- Kommunion, angenommene Zumutung.
In so verstandener Kommunikation hat auch die Botschaft Gottes Raum: „Ich bin der, ich bin da“ (Ex 3,14).
Doch auch Gottes „da-sein“ kannte den Zweifel und die Versuchung der Untreue. Der von Gott geschaffene Mensch wird durch sein zerstörerisches Verhalten zu einem Dorn im Auge Gottes. Gott hadert mit sich selbst: Soll er den einst so geliebten Menschen nicht doch wieder vernichten, „weil er so böse ist“ (Gen 6,5b)! Gott ist entschieden, er kündigt den Menschen die Treue, allerdings schon jetzt mit einem „schlechten Gewissen“, so dass er zumindest Noah, seine Familie und von jeder Gattung der Tiere ein Paar in der Arche überleben lässt. Der Rest geht in den Fluten unter.
Aus der Noah-Geschichte erfahren wir, dass; Gott nur auf das eine schaute: „Halte mich fest“! Sei mir treu! Er gestand dem Menschen aber nicht zu, einen Raum des Gelassenseins zu haben, in dem der Mensch, trotz seiner eigenen Veränderungen, sich auf die Treue Gottes verlassen konnte. Gottes Liebe hielt nur fest, aber ließ nicht los! Und Gott sah, dass er untreu geworden war!
Dann sprach Gott zu Noah: „Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan hab. Solange die Erde besteht, sollen nicht aufhören, Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Dann segnete Gott Noah und seine Söhne und sprach zu ihnen: „Seid fruchtbar, vermehrt euch und bevölkert die Erde!“
Von nun an „hielt Gott den Menschen“ aber „hielt ihn nicht fest“. Und Gottes Treue zu seinem geliebten Menschen konnte nichts mehr erschüttern.
Gott ist es, der nun seine Treue in die Treue der Menschen zueinander legt, der seine Liebe in der Liebe des Menschen spüren lässt, der seine Nähe erfahrbar werden lässt in der streichelnden Hand eines Menschen, der uns bei unseren Namen ruft im du und ich einer Partnerschaft, der uns hält und läßt in der Dynamik der Liebe: „Halte mich fest doch halte mich nicht“. Gott ist einfach da, wo Liebe in dieser Dynamik für das Leben ist. Dann bedeutet eine solch geistlose Aussage wie: „Ich hatte Sex mit einer anderen“ nicht: „Ich meine dich ganz“, sondern: „Ich meine dich nicht! Weder dich Mensch, noch dich Gott“.
Diese Predigt wurde im Rahmen der Anna-Woche 1997 in St. Anna, Düren gehalten.